Eine Rezension zum grossen Wurf von Miranda July: Wer hat Angst vor den Wechseljahren?
Auf allen vieren: so oder so ähnlich habe ich mich auch durch dieses Buch gekämpft. Autorin Miranda July macht es einem nicht leicht mit ihrer namenlosen Protagonistin, der wir als Lesende durch alle Abgründe und Höhen durch das Buch folgen.
Suchst du Logik? Nein, erst mal gibt es sie nicht. Schon in den ersten Seiten des Buches wird klar: die Protagonistin fühlt sich in einem Leben gefangen, das nicht so Recht zu ihr gehören will. Ein Kommentar ihres Mannes Harris bei einer Party treibt die früher berühmte Künstlerin dazu an, ihr Heil in einem Trip quer durch das Land von Los Angeles nach New York mit dem Auto zu suchen. Doch kaum gestartet, strandet sie in einer kleinen Stadt, in einem abgeranzten Motel. Warum es ihr unmöglich ist, weiterzufahren, löst die Autorin erstmal nicht auf. Scheinbar unmotiviert lässt die Protagonistin ihr Hotelzimmer 321 für 20.000 Dollar umbauen und beginnt eine Affäre (ohne Sex aber mit viel Abgründigem) mit einem jungen Mann von der Autovermietung, den sie erstmal für unterbelichtet und dann vergötterungswürdig hält. Der Gipfel der Erotik zwischen den beiden kulminiert Szenen mit Tampon und Penis halten beim Urinieren. Doch so sehr es sich die Protagonistin wünscht, aus ihr und dem Autovermietungsmann wird nichts. Er zieht mit seiner Frau weg, sie verfällt in eine Depression, die im Fitnesswahn endet.
Wie weiter? Eine Frage des Überlebens
Dass die Lesenden immer dranbleiben, gelingt der Autorin insbesondere durch die konsequente Zuspitzung der Erzählperspektive nur aus der Sicht der Protagonistin. Wir sind ganz auf ihr Gefühlsleben zurückgeworfen. Es gibt keine andere Instanz in diesem Roman. Das ist anstrengend, ermöglicht aber auch ein tiefes Eintauchen in die Figur und eine Verbundenheit, die zu Verständnis führt. Man erlebt eine Frau, die auf der Suche ist, aber selbst nicht weiss wonach. Ringt sie um Hilfe, lassen die anderen sie allzu oft auflaufen oder sind mit ihren eigenen Dramen beschäftigt (wie der depressive Vater oder angegeilte ältere Frauenfiguren).
Die Protagonistin spürt, dass die Zeit für sie abläuft und die Frage nach einem «wie weiter?» viel mehr ist, als einen neuen Lifestyle für das Leben nach 45 zu suchen. Es geht für sie ums Überleben. Während der Menopause haben zwei ihrer weiblichen Verwandten den Suizid gewählt. Sie steckt tief in der Depression und Perspektivlosigkeit, die mit dem Vergehen ihrer Jugend kommen. «Wenn wir im Moment unserer Geburt energisch in die Luft geschleudert wurden, stiegen wir mit den Jahren immer weiter auf. Am höchsten Punkt angelangt, waren wir im mittleren Alter, dann fielen wir für den Rest unseres Lebens, die gesamte zweite Hälfte. Während man aufstieg, konnte man sich nie vorstellen, was auf dieser besonderen, einzigartigen Reise wohl als Nächstes kam; man konnte nicht um die Ecke sehen. Das Fallen dagegen endete für jeden gleich. Ich tigerte auf dem neuen Teppichboden umher und musste daran denken, wie mir der achtzigjährige Vater meiner Freundin beim Tanzen zugezwinkert hatte. Das war keine witzige Ausnahme, das war jetzt die Norm.»
In ihrer Erzählweise schafft es Miranda July Nebensächlichkeiten und scheinbar normale Vorgänge des Alltags mit tiefgründigen Gedanken zu verbinden. Sie wechselt dabei die Ebenen mit einer Leichtigkeit, die man selten findet. Wie zum Beispiel, wenn das Kind der Protagonistin stolz Legotürme baut, die in jeder Ecke des Zimmers passen. Die Protagonistin erschliesst sich daraus eine Metapher für die zwei Welten, in denen sie immer lebt.
Das Buch ist vor allem deswegen ein weltweiter Bestseller geworden, weil viele Menschen sich anscheinend in der Protagonistin wiederfinden oder sich von dem Buch verstanden fühlen. Für mich ist das eine eher beängstigende Vorstellung, denn das würde bedeuten, dass viele Menschen sich in einem Leben finden, das sie einsperrt und ihnen nicht ermöglicht, sie selbst zu sein.
Abstieg in Abgründe
Die Protagonistin geht in ihrem inneren Kampf durch etliche Stufen: Selbstmitleid, Sehnsucht, Obsession, Sexfantasien, Transformation, Depression, Posttraumata, Kreativität neben Lethargie. Zuerst sucht sie die Lösung in der Lust, muss dann aber erkennen, dass sie ihre alte Beziehung dafür nicht opfern möchte. Sie muss einen Weg finden, auch innerhalb der Familie, die sich schon geschaffen hat, sie selbst zu sein.
Auf dieser Suche treten zahllose interessante Nebenfiguren auf, die July sicher aus ihrem künstlerischen Umfeld zusammengeschrieben hat. So hat unsere Protagonistin zum Beispiel eine beste Freundin, die ihr immer wieder als Stimme des Mutes und der des Verstehens zur Seite steht. Geradezu erleichtert sieht man als Leser:in, dass sich die Protagonistin Hilfe von aussen sucht und dabei doch keine patente Antwort findet. Sie kommen mit Durchhalte-Parolen, Polygamie, Kyro-Konservierung, Drogen. Der auf den ersten 300 Seiten so blass gebliebene Ehemann Harris bekommt dann auf einmal einen Charakter. Zuvor wäre man sicher von einer Scheidung der beiden ausgegangen, durch diese Lösung wäre zu leicht, zu billig. Nein, die beiden lernen sich nach 15 Jahren doch zu vertrauen und schaffen es – irgendwie. Auch wenn sich die Vertrautheit, die die Protagonistin in dieser Beziehung nachgejagt hat, nicht finden lässt.
Sich selbst finden, heisst frei sein
Letztlich geht es in «Auf allen vieren» um die Geschichte einer Frau, die um die Freiheit ringt, sie selbst zu sein. Auch auf die Gefahr hin, damit anzuecken und nicht mehr so glatt zu sein. «Arschloch, flüsterte ich. Ich meinte das Leben selbst. Kam immer mit irgendwas Neuem um die Ecke, immer mit etwas Unerwartetem. Zimmer 321 war die Höhle, und ich bewachte sie. Ich hatte mir einen gottverdammten Mutterleib erschaffen, und einmal pro Woche durfte ich darin im Einklang sein. (…) Und er gehörte mir nicht. Weil einem nichts gehört. (…) Alles vergeht. Aber ich konnte jeden Mittwoch dorthin zurück, mit oder ohne Lust, und – wie nannte man das noch mal? Frei sein.»
Der Roman endet nicht in einem kitschigen Happy End, sondern in maximaler Offenheit. Der Lebensabschnitt, der für die Protagonistin, inzwischen 48, jetzt kommt, ist nicht der Absturz vom Höhepunkt in ihrer Lebensspanne, sondern eine Phase, in der sie weitergehen kann: Ende unbekannt. Insofern ist Miranda July ein grossartiger und einzigartiger Roman gelungen, der ehrlich und schonungslos ist. Wer darin eine Anleitung fürs Bestehen der beginnenden Wechseljahre sucht, wird scheitern, das Patentrezept gibt es nicht. Aber dennoch ist der Roman eine gute Erinnerung daran, die Vergänglichkeit des Lebens nicht als negativ zu betrachten.