Aufruf zur Verteidigung demokratischer Kultur
Dieser Aufruf ist eine Initiative reformierter Theologinnen und Theologen aus dem Umfeld der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). Er wurde der EKS zur Verfügung gestellt und auf ihrer Plattform veröffentlicht, ohne eine offizielle Stellungnahme des Rates der EKS darzustellen.
Empörung ist gang und gäbe. Wir sind nicht empört, weil es uns nicht um Moral geht, sondern besorgt, weil es uns um das Zusammenleben von Menschen und Nationen geht. Zusammenleben ist eine Frage der Kultur. Wir beobachten rückläufige Kultur und aufkommende Barbarei. Kultur, die sich über Jahrhunderte entwickelt hat, eine Leistung vieler Menschen weltweit, droht innert weniger Jahre zu verludern, nicht nur durch enthemmte Kommunikation, sondern auch durch rücksichtsloses Diktieren Einzelner und ihrer Entourage.
Soziale Medien werden von uns gerne benutzt. Wir begrüssen technologische Entwicklungen. Wenn sie jedoch von Enthemmung begleitet werden, droht kommunikative Barbarei. Schmähen und Drohen macht sie dann zu asozialen Medien. Sinnvoller Umgang mit technologisch unterstützter Kommunikation setzt Bildung voraus. Wie Lesen und Schreiben muss auch Chatten und Messagen eine Kulturtechnik sein, sonst dienen sie nicht der Kommunikation, sondern der Aggression. Kommunikation droht zu verludern. Zusammenleben wird nicht gefördert, sondern gefährdet.
Was für den persönlichen Umgang miteinander gilt, gilt auch für den politischen Umgang zwischen Regierenden und Regierten, ebenso zwischen Staatswesen. Wenn politisch Verantwortliche das Lügen und Verdrehen, Schmähen und Drohen, Verleumden und Beleidigen, Einstellungen, welche enthemmte Kommunikation in Netzwerken zunehmend prägen, leichtfertig übernehmen, um sie als Instrumente politischen Handelns zu verwenden, dann betreiben sie politische Barbarei.
Demokratisch regierte Staatswesen sind gemeinschaftliche Kulturleistungen. Sie basieren auf Regeln, die über viele Generationen entwickelt und verbessert worden sind: Dazu gehören erstens der Machtverzicht des Einzelnen zugunsten des Machtgewinns aller als demokratischer Souverän, zweitens die Teilung der Gewalten in Legislative, Exekutive und Judikative, und drittens die Entscheidungswege der Partizipation, Subsidiarität und Komplementarität. Das sind grundlegende Errungenschaften, die zu Regelwerken im Mikrobereich wie im Makrobereich geführt haben. Sie bewirken idealerweise, was der amerikanische Politologe Benjamin Barber 1984 eine Strong Democracy nennt. Wer übrigens die soeben genannten Grundbegriffe nicht kennt und versteht, sollte keine Macht erhalten. Wer sie kennt und anwendet, hat politische Kultur.
Wir sind besorgt über Enthemmung, Verrohung und Verluderung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Marktbeherrschende Konzerne manipulieren um des Profits willen das, was sie selbst als soziale Netzwerke anpreisen, und sie scharen sich bereitwillig um tyrannische Autokraten, sobald demokratische Winde am Verwehen sind. Der Tyrann aber, umgeben von Oligarchen, die ihm an den Lippen hängen, ist das vormoderne, undemokratische und absolutistische Modell des Jahrhunderts von 1650-1750: Der tyrannische Anspruch L’état c’est moi! ist längst vom demokratischen Recht Wir sind das Volk! überholt. Unsere Vormütter und Vorväter haben dies erkämpft. Sie verdienen Respekt.
Nicht weil wir Kirchenleute sind, sind wir besorgt und melden uns zu Wort, sondern weil wir uns als Theologinnen und Theologen aus der Tradition Zwinglis, Bullingers und Calvins daran erinnern, welche Beiträge die Bibelauslegung des Jahrhunderts von 1530-1630 zur Bildung aller Bürgerinnen und Bürger und so zur Entwicklung regelbasierter Kommunikation und Politik weltweit geleistet hat. Nichts davon war vorher selbstverständlich: Alle können lesen und schreiben, sind vertrags- und rechtsfähig, haben freien Zugang zu Bibliotheken und verantwortetem Wissen, verleihen ihren Gewählten Macht nur auf Zeit, unterhalten demokratisch regulierte und kontrollierte Wissenschaften, Netzwerke und Kulturinstitutionen. Das war der Traum von Auswanderern aus absolutistischen Staaten, das hat ihre neuen Staatswesen gross gemacht. Die Bibel hebt als Kennzeichen, wie gerecht ein Regime ist, stets hervor, dass es nicht zuerst die Mitte der Gesellschaft pflegt, wo Starke und Saturierte immer schon zuhause sind, sondern die Ränder des Zusammenlebens: Gerecht ist, wer auch Witwen und Waisen, Arme und Fremde im Blick hat und sie integriert. Das ist keine linke, sondern eine biblische Idee, gewachsen aus der Erfahrung mit orientalischen und antiken Tyrannen.
Als reformierte Theologinnen und Theologen fordern wir unsere kirchlichen Institutionen auf, von der lokalen Kirchgemeinde bis zum globalen Kirchenverband, der Verluderung unserer kommunikativen und politischen Kultur entgegenzutreten:
- Sagt NEIN, wenn der Autokrat sich mit dem Kirchenfürsten verbrüdert, um illegitim angeeignete Macht zu legitimieren.
- Sagt NEIN, wenn der Autokrat sich als Bibelausleger gebärdet, um seinen Missbrauch der Macht als gottgewollt darzustellen.
- Sagt NEIN, wenn Autokraten die Rückkehr eines Zeitalters beschwören, das sie erfinden, um sich selbst zu bereichern.
- Sagt NEIN, wenn Autokraten Bildung, Netzwerke und Diplomatie abbauen, weil sie berechtigte Angst vor Kritik haben.
- Sagt NEIN, wenn sich Autokraten wie normale Kriminelle einander zugesellen, um die Welt unter sich aufzuteilen.
- Sagt NEIN, wenn gut begründete Herrschaftskritik durch Zensur zum Schweigen gebracht werden soll.
- Wenn ihr in solchen Fällen nicht NEIN sagt, leugnet ihr unsere biblischen Traditionen der Herrschaftskritik, in denen auch Jesus steht.
- Sagt, indem ihr nein sagt, JA zur öffentlichen Mitverantwortung der Kirchen für eine regelbasierte Kultur von Kommunikation und Politik.
- Sagt, indem ihr nein sagt, JA zur Kultur der Versöhnung und des Respekts.
Es ist an der Zeit, aus dem letzten Lied unseres Gesangbuchs das erste zu machen: Der Himmel, der ist, ist nicht der Himmel der kommt, wenn einst Himmel und Erde vergehen. Der Himmel, der kommt, das ist der kommende Herr, wenn die Herren der Erde gegangen.
Initiant:innen
- Dr. phil., Dr. theol. habil. Matthias Krieg, ehem. Leiter der Abteilung Bildung und Theologischer Sekretär, Zürich
- lic. phil. I Giorgio Vittorio Girardet, Synodaler der Zürcher Synodaler für die Chiesa Evangelica di Lingua Italiana Zürich (Waldenser), Zürich
- Pfarrerin Catherine McMillan, Beauftragte Internationale Beziehungen, Reformierte Kirche Kanton Zürich
Erstunterzeichnende Schweiz
- Pfarrerin Cornelia Camichel Bromeis, Stadtkirche St. Peter, Zürich
- Prof. Dr. François Dermange, Université de Genève
- Dr. Thorsten Dietz, Erwachsenenbildung, Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich
- Pfarrer Dr. Manuel Dubach, Reformierte Kirche Burgdorf, Bern
- Pfarrer Heinz Fäh, Kirchenrat der Evangelisch-Reformierte Kirche des Kantons St. Gallen, Ressort Weltweite Kirche, St. Gallen
- Dr. Stephan Jütte, Leiter Theologie & Ethik der EKS, Bern
- Pfarrerin Sibylle Forrer, Reformierte Kirchgemeinde Kilchberg, Zürich
- Pfarrer Dr. Martin Hirzel, Leiter Aussenbeziehungen und Werke, Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz, Bern
- Prof. Dr. Ralph Kunz, Praktische Theologie an der Theologischen und Religionswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich
- Prof. emer. Dr. Peter Opitz, Zürich
- Rev. Dr. Odair Pedroso Mateus, Former Deputy General Secretary of the World Council of Churches, Geneva
- Prof. Dr. David Plüss, Homiletik, Liturgik und Kirchentheorie an der Theologischen Fakultät der Universität Bern
- Pfarrerin VDM Kathrin Rehmat-Suter, Predigerkirche Zürich
- Pfarrer Martin Rüsch, Grossmünster Zürich
- Pfarrer Dr. theol. Matthias Rüsch, Reformierte Kirche Uster, Zürich
- Prof. Dr. Martin Sallmann, Institut für Historische Theologie, Universität Bern
- KMD Prof. Beat Schäfer, Chorleitung an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), Leiter der Abteilung “Kirchenmusik – Chor – Orgel“, Zürich
- PD Dr. Christine Schliesser, Beauftragte Theologie, Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn
- Dr. Manuel Schmid, RefLab und Hochschularbeit, Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich
- Pfarrer Dr. theol. Jacques-Antoine von Allmen, Beauftragter für die Pfarrweiterbildung in der Schweiz, Zürich
- Pfarrer Dr. Christian Walti, Grossmünster Zürich
- Prof. emer. Dr. Matthias Zeindler, ehem. Leiter Fachstelle Theologie der Reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn, Erlach
Erstunterzeichnende International
- Rev. Ian Alexander, International Partnerships, Church of Scotland, Edinburgh, Scotland
- Rev. Dr. Susan R. Andrews, Moderator of the 215th General Assembly of the PCUSA, St. Louis, Missouri, USA
- Pfarrer Bernd Becker, Publizist, Moderator des Reformierten Bundes in Deutschland, Bielefeld, Deutschland
- Rev. Dr. Glen Bell, Presbyterian Foundation, Louisville, Kentucky, USA
- Rev. Dr. Susan Brown, Past Moderator of the General Assembly of the Church of Scotland (2018/19), Chaplain to the King in Scotland, Edinburgh, Scotland
- Farářka Ester Čašková, Cetoraz, Tschechien
- Rev. Dr. Chris Currie, Senior Pastor St. Charles Avenue Presbyterian Church, New Orleans, Louisiana, USA
- Rev. Dr. Douglas J. Brouwer (PCUSA), Author, Holland, Michigan, USA
- Pfarrer, Dr. phil. habil. Achim Detmers, ehem. Generalsekretär Reformierter Bund, Hannover, Deutschland
- Rev. Thomas Dummermuth, Eastridge Presbyterian Church, Lincoln, Nebraska, USA
- Rev. Dr. Leah R. Hrachovec, Lead Pastor, Westminster Presbyterian Church, West Chester, Pennsylvania, USA
- Rev. Cindy Kohlmann, Connectional Presbyter/Stated Clerk, New Castle Presbytery Past Moderator, 223rd General Assembly (2018-2020), Presbyterian Church Wilmington, Delaware, USA
- Rev. Prof. Dr. Neal D. Presa, Past Moderator, 220th General Assembly (2012-14), Presbyterian Church, San Jose, California, USA
- Rev. Ph.D. Dr. Patrick B. Reyes, Auburn Theological Seminary, New York City, New York, USA
- Rev. Bruce Reyes-Chow, Author and Speaker, Past Moderator, 218th General Assembly (2008-2010), Presbyterian Church, San Jose, California, USA
- Rev. Matthew Z. Ross, Minister, Church of Scotland, Edinburgh, Scotland
- Uwe Steinmetz, Dekanatskirchenmusiker im Bayerischen Wald, Regensburg, Deutschland
- Pastor Lisa L. Vander Wal, Reformed Church in America, Vice President, World Communion of Reformed Churches, Past President of the General Synod, Reformed Church in America, Niskayuna, New York, USA
- Dipl.-Pol. Martina Wasserloos-Strunk, Präsidentin des Europäischen Gebiets der Weltgemeinschaft reformierter Kirchen, Mönchengladbach-Rheydt, Deutschland
Weitere Unterzeichnende
Alle Unterschriften (175), Stand 19. Mai.
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Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und japanisch
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Von Herzen Dank für jedes einzelne Wort!
Danke für diese wichtige Arbeit!!
Ich bin nicht mehr Mitglied der reformierten Kirche, (seit 40 Jahre Bewegung Plus) aber begeistert über die Worte. Müsste man da nicht auch unterschreiben können?
Liebe Frau Terzi
Selbstverständlich dürfen Sie unterschreiben. Es freut mich sehr, dass dieser Text Sie begeistert.
Mein kritischer Kommentar wurde nicht veröffentlicht. Warum?
Guten Abend
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Guten Tag
Die Zahl der Unterschriften stagniert. Ich bin erst beim zweiten Versuch aufgeführt worden und ich weiss, dass andere vergeblich vergeblich versucht haben, sich einzulogggen.
Gibt es IT Probleme?
Der Aufruf ist zu wichtig, als dass er versanden dürfte
Mit besten Grüssen und vielem Dank den Initianten
Jörg Häberli
Guten Abend
IT Probleme sind mir bisher nicht bekannt. Ich aktualisiere jedoch die Liste mit den Unterschriften manuell. Das einzige was nicht mehr funktioniert ist die Anzahl eingegangener Unterschriften unter dem Formular, da viele Bots unterwegs sind (es sind tausende leider, darum wurden auch die Sicherheitsmassnahmen erhöht)
Falls Personen weiterhin Probleme haben, dürfen sich diese direkt bei mir melden: stefanie.fischer@evref.ch
Die Umstände tun mir sehr leid.
Good job! Well done!
Wäre toll, wenn die Schweizerische evangelische Sllianz und freikirchen.ch und die katholische Kirche auch aufspringen würden!
Be blessed!
Vielen Dank für die Worte!
Es darf gerne weiterverbreitet werden.
Wie , dass aus Kwohltuendreisen der Kirche ein Aufruf zur Verteidigung der Demokratie erfolgt – herzlichen Dank! Mir scheint, dass wir uns in der Schweiz zu wenig bewusst sind, dass Demokratie nicht lediglich ein formelles Einhalten von demokratischen Abläufen ist, sondern mit einer demokratischen Kultur verbunden ist, die mit Werten und Haltung verbunden ist.
Habe soeben als weiterer Unterzeichner meine Stimme dem wichtigen Aufruf hinzugefügt. Nun möchte ich hiermit um Antwort
auf folgende Frage bitten:
Wem bzw. welchen Institutionen wird der Aufruf mit den Namen der Unterzeichner eingereicht, wie erfolgt eine Veröffentlichung
des Aufruf-Ergebnisses zur Verteidigung demokratischer Kultur?
Lieber Herr König
Aktuell ist mir nichts bekannt. Jedoch wurden schon ein paar Medien darauf aufmerksam gemacht und haben einen Artikel geschrieben. Zum Beispiel hier: https://evangelische-zeitung.de/theologischer-aufruf-gegen-die-verrohung-der-gesellschaft
Was damit geschieht werden die Initiant:innen entscheiden.
Sehr geehrter Herr König –
Herzlichen Dank für Ihre Unterschrift und Ihre Frage. Als Initiantin und Initianten freuen wir uns über den nationalen und internationalen Zuspruch. Wir stehen selbst nicht in kirchenpolitischer Verantwortung, aber die Leitung der Evangelischen Kirche der Schweiz EKS hat unseren Aufruf in ihre Kommunikation aufgenommen: Allein dies ist ein Signal grossen Interesses. So werden wir unsere Initiative nach Beendigung der Unterschriftensammlung mit der EKS auswerten. Unser Ziel sind nationale wie internationale Folgen für kirchliches Verhalten. Mit herzlichem Gruss, Matthias Krieg.