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Ausbildungswege zum kirchlichen Dienst in der Westschweiz

Angesichts des Mangels an ordiniertem Personal überdenken die reformierten Kirchen der Romandie ihre Ausbildungsmodelle und diversifizieren die Wege in den kirchlichen Dienst. Dieser Text gibt einen Überblick über die bestehenden Ausbildungswege und die aktuellen Herausforderungen für die Zukunft des kirchlichen Dienstes.

Die Zukunft des kirchlichen Dienstes in der Romandie

Die Konferenz der Reformierten Kirchen der Westschweiz (CER) umfasst sechs Kirchen aus den französischsprachigen sowie den zweisprachigen (französisch/deutsch) Kantonen[1] sowie die Konferenz der französischsprachigen Kirchen in der Deutschschweiz (CERFSA). Gemeinsam repräsentieren sie rund 15–20 % der Reformierten in der Schweiz.[2] Im Jahr 2019 erstellte das Protestantische Ausbildungsamt (eine Fachstelle der CER für die Ausbildung zum kirchlichen Dienst) eine Projektion zur Entwicklung der kirchlichen Arbeitskräfte in der Westschweiz: Von den 354 im Jahr 2019 tätigen Pfarrpersonen werden bis 2029[3] voraussichtlich 165 das Pensionsalter erreichen. Aufgrund der aktuellen Trends im Nachwuchsbereich ist in diesem Zeitraum mit rund 100 Neueintritten in den kirchlichen Dienst zu rechnen – was einen Rückgang von etwa 18 % in zehn Jahren bedeutet. Diese Entwicklung veranlasst die Kirchen der CER, ihre Ausbildungswege zu überdenken und die Möglichkeiten kirchlicher Anstellung über das klassische Pfarramt hinaus zu erweitern. Der Text will eine kurze Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation geben und die daraus erwachsenden Herausforderungen aufzeigen. Eine ähnliche Diskussion findet auch im deutschsprachigen Teil der Schweiz statt, mit Fokus auf das Pfarramt. Stephan Jütte hat die entsprechenden Herausforderungen in einem anderen Beitrag dargestellt (Zwischen Personalkrise und Kirchenvision) – beide Texte ergänzen sich gegenseitig.

Historischer Rückblick auf die Diversifizierung des kirchlichen Dienstes in der Romandie

Die Öffnung hin zu neuen Ausbildungswegen für die kirchliche Arbeit, verbunden mit einer Diversifizierung der kirchlichen Dienste, ist in der Westschweiz kein neues Phänomen. Bereits Ende der 1940er-Jahre beauftragte die Synode der waadtländischen Kantonalkirche Berichte, die den Anstoß für eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen kirchlichen Dienstformen gaben. In den 1970er-Jahren führten diese Arbeiten zur Anerkennung eines diakonischen Dienstes durch die reformierten Kirchen der Romandie – als eigenständiger, ordinierter Dienst neben dem Pfarramt[4]. Nach dieser ersten Phase der Diversifizierung ist heute eine Entwicklung hin zu „Laien-Diensten“ oder „nicht-ordinierten Diensten“ zu beobachten. Parallel dazu zeigt sich jedoch eine Stagnation in der Weiterentwicklung des diakonischen Amtes. Dies könnte unter anderem daran liegen, dass es derzeit keine koordinierende Instanz mehr gibt, die sich mit dem spezifischen Charakter des ordinierten Diakonats in der Romandie beschäftigt und dessen Profil verteidigt. Die jüngsten Veranstaltungen wie die Assises diaconales romandes (2021) oder die Journée diaconale romande (2024) konnten die Funktion, die früher das Departement für diakonische Dienste und seine Gremien innehatten, bis jetzt nicht ersetzen. Eine Bemerkung für den deutschen Text ist hier nötig : die Westschweiz kennt nicht den unterschied zwischen „Ämtern“ und „Dienste“ wie er in der Deutschschweiz gängig ist. Der Unterschied läuft zwischen ordinierte Dienste/Ämter (Pfarrer:in, Diakon:in) und nicht-ordinierte Dienste/Ämter. Wie man vom „Pfarramt“ spricht würde man vom „Diakonenamt“ sprechen. Im folgenden wird das Wort „Dienst“ als gemeinsamer Termini benutzt, weil er dem französischen „ministre“ näher liegt.

Die verschiedenen Dienstformen und ihre Anerkennung

Zwar erkennen alle Kirchen der Westschweiz den Pfarrdienst und den diakonischen Dienst als eigenständige ordinierte Dienste an, jedoch herrscht keine Einigkeit darüber, ob die Ordination für die Ausübung des Dienstes an Wort und Sakrament zwingend notwendig ist – in Genf ist sie optional. Auch hinsichtlich der weiteren anerkannten Dienstformen neben den ordinierten Diensten bestehen Unterschiede zwischen den Kirchen. Die folgende Tabelle bietet eine übersichtliche Zusammenfassung[5]:

*Der Begriff bezeichnet eine Reihe unterschiedlicher Profile, darunter die Kirchenanimator:innen (EERV), Beauftragte für kirchlichen Dienst (EPG), Laienmitarbeitende im Dauerauftrag (EREN), professionelle Katechet:innen (BeJuSo, EERF) sowie sozialdiakonische Mitarbeitende (BeJuSo).

Aktuelle Ausbildungswege

In diesem kurzen Überblick bleiben die Ausbildungen für Kirchenleitung sowie verschiedene Freiwilligen-Ausbildungen – insbesondere im Jugendbereich – außen vor. Auch Kirchenmusiker:innen profitieren bislang noch nicht von einer gesamtkirchlich abgestimmten Ausbildung in der Westschweiz.

Theologiestudium in der Romandie

Im lutherisch-reformierten Protestantismus setzt die Übernahme eines kirchlichen Dienstes ein Theologiestudium voraus. Dieses ist in der Regel von der Ausbildung zur Ausübung des kirchlichen Dienstes getrennt – das ist auch in der Romandie der Fall.

Akademische Ausbildung

Das akademische Theologiestudium wird von den Fakultäten in Lausanne und Genf koordiniert, unter der Leitung des Collège de Théologie Protestante. Dieses legt die Studiengänge (Bachelor und Master) fest, die an den beiden Fakultäten angeboten werden. Die Organisation der Doktoratsstudiengänge und etwaiger zertifizierter Weiterbildungen liegt bei den jeweiligen Fakultäten selbst.

Kirchliche Ausbildung

In der Romandie gibt es drei Institutionen, die eine theologische Ausbildung anbieten, welche von den reformierten Kirchen anerkannt wird: A) Cèdres Formation Ein Kompetenzzentrum der Église évangélique réformée du canton de Vaud (EERV). Es bietet unterschiedliche Ausbildungen im Bereich Theologie, Bibelkunde und Spiritualität an. Aktuell bestehen fünf Ausbildungswege, darunter das Séminaire de Culture Théologique, das als Grundausbildung für den diakonischen Dienst auf gesamtkirchlicher Ebene sowie für Kirchenanimator:innen der EERV dient. B) Explorations théologiques Ein vom Ausbildungsbereich der Synodalunion Bern-Jura-Solothurn (BeJuSo) getragenes Ausbildungsangebot für den Jurabereich. Es handelt sich um einen 2–3-jährigen Bildungsgang, der mit einem anerkannten theologischen Diplom abschließen kann, das zum diakonischen Dienst befähigt. C) Atelier Œcuménique de Théologie (AOT) Bietet modulare Ausbildungen an, die bewusst niederschwellig und allgemein zugänglich gehalten sind. Diese Ausbildung wird von der Église Protestante de Genève (EPG) als Grundausbildung für eine charge de ministère. Charakteristisch für das AOT ist die weite ökumenische Offenheit.

Ausbildungswege zum kirchlichen Dienst

Die Ausbildung für das Pfarrdienst und den diakonischen Dienst wird als gemeinsamer Werdegang vom Office Protestant de la Formation verantwortet.

Zugangsvoraussetzungen für das Pfarrdienst sind:

  • Ein Masterabschluss in Theologie einer Fakultät in Lausanne, Genf oder Bern – oder einer von diesen anerkannten Fakultät.
  • Insgesamt 300 ECTS-Punkte (Bachelor + Master).
  • Die praktische Ausbildung erfolgt in der Regel nach dem Studium und ist davon getrennt.
  • Eine Ausnahme bildet die Universität Bern, wo das Praxissemester bereits ins Studium integriert ist. Dieses entspricht einem 6-monatigen Praktikum im kirchlichen Umfeld, begleitet von reflexiver akademischer Betreuung.

Zugangsvoraussetzungen für den diakonischen Dienst sind:

  1. Beruflicher Hintergrund, z. B.:
    • Abschluss einer Höheren Fachschule (ES),
    • EFZ (CFC) mit 5 Jahren Berufserfahrung + Validierung der Berufserfahrung,
    • Berufsmatur mit 2 Jahren Erfahrung + Validierung,
    • oder eine vergleichbare Ausbildung mit entsprechender Erfahrung.
  2. Theologische Ausbildung, anerkannt durch die Commission Romande des Stages et de la Formation – also das Séminaire de Culture Théologique oder die Explorations théologiques.

Zusätzlich müssen alle Kandidat:innen für die Ausbildung zu einem ordinierten Dienst ein psychologisches Assessment absolvieren, das inhaltlich von kirexternen Psychologen durchgeführt wird. Die praktische Ausbildung dauert 12 Monate und folgt einem dualen Modell: Sie kombiniert Ausbildungs-Module mit einer praktischen Tätigkeit in einer Kirchgemeinde, begleitet durch einen ausgebildeten Mentor*in (praticien formateur). Grundlage ist ein Referenzrahmen mit 8 Kompetenzen[6], der heute die gemeinsame Basis für die Ausübung des ordinierten Dienstes in den reformierten Kirchen der Romandie bildet. Die Ausbildung ist individualisiert: Sie wird angepasst an die bereits vorhandenen Erfahrungen der Teilnehmenden und an die Erwartungen der anstellenden Kirche, insbesondere im Hinblick auf die Kernkompetenzen für das Pfarr- oder Diakonenamt – diese können je nach Mitgliedskirche der CER variieren. Zu Beginn wird ein Kompetenzprofil (bilan de compétence) erstellt, auf dessen Grundlage ein individueller Ausbildungsplan und ein Portfolio erarbeitet werden. Dieses dient der Selbstevaluation und der kontinuierlichen Kompetenzentwicklung der Kandidat:innen. Das Portfolio sowie ein Besuch in der Praxisgemeinde sind Gegenstand des abschließenden Zertifizierungsgesprächs. Die Ordination (Consécration) erfolgt anschließend nach den jeweiligen Vorgaben der einzelnen Kirchen.

Ein neues Modell seit 2024

Diese Ausbildungsform löst das frühere Modell (2013–2024) ab, das zwei getrennte Ausbildungsgänge für den Pfarrdienst und den diakonischen Dienst vorsah. Damals basierten die Ausbildungswege auf zwei zentralen Kompetenzprofilen:

  • „Der Pfarrer/Die Pfarrerin ist Experte für die Interaktion zwischen Theologie und menschlicher Erfahrung.“
  • „Die Diakonin/der Diakon ist Expertin für das soziale und gemeinschaftliche Leben im Namen des Evangeliums.“

Zwar gab es gemeinsame Module, aber auch getrennte Einheiten. Der Ausbildungsweg für den diakonischen Dienst umfasste zudem ein zusätzliches Semester vor dem Praxiseinsatz.

Theologische Spannungen und Modelle

Diese Entwicklung ist bemerkenswert, denn sie verdeutlicht eine anhaltende Spannung in der Theologie des kirchlichen Dienstes in der Romandie:

  • Ein Dienst mit gemeinsamer Ordination, aber unterschiedlichen Zugängen und beruflichen Akzenten
  • Zwei eigenständige ordinierte Dienste mit je eigenen Kompetenzen und Zugangswegen[7]

Die frühere Fédération des Églises Protestantes de Suisse (heute EKS) empfahl in ihrer Stellungnahme zur Ordination eine einheitliche Ordination nur zum Pfarramt.[8] Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) hingegen erkennt in ihrem Dokument «Ministère – Ordination – Épiskopé» (2012) an, dass die Ordination zum diakonischen Dienst Teil der legitimen Vielfalt innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft ist.[9] Die Schweizer Kirchenlandschaft bleibt bis heute uneinheitlich: Einige Kirchen in der Deutschschweiz haben inzwischen Ordinationen für diakonisch oder Gemeindedienste eingeführt[10].

Katechet:innen und andere kirchliche Berufsprofile

Für RefBeJuSo und die Evangelisch-reformierte Kirche des Kanton Freiburg (EKF) gelten Katechet:innen als Expert:innen für den Religionsunterricht – in ReBeJuSo als eigenständiges Amt anerkannt. Der Zugang zu diesem Dienst erfolgt über eine modulare Ausbildung (40 Stunden innerhalb von zwei Jahren), koordiniert durch die reformierten Kirchen der Kantone Bern und Freiburg. Voraussetzung für die Ausbildung ist ein eidgenössisches Fähigkeitszeugnis (EFZ/CFC), eine Maturität oder ein gleichwertiger Abschluss. Die ERKW (Wallis) beschäftigt zudem rund ein Dutzend schulischer Fachpersonen, die im öffentlichen Schulsystem Ethik- und Religionsunterricht erteilen. Ihre Ausbildung umfasst:

  • ein spezifisches Diplom von Cèdres Formation,
  • eine pädagogische Ausbildung an der HEP Wallis,
  • und schließt mit einem Anerkennungs- und Sendungsgottesdienst ab.

Ausbildungen für andere kirchliche Berufsfelder

Das Bild ist hier sehr vielfältig und uneinheitlich.[11] Die Anerkennung sogenannter „neue Dienste“ zielt darauf ab, die Charismen von Kirchenmitgliedern auf einem anderen Weg als durch die Ordination zu würdigen. Die EERV ist bisher die einzige Kirche, die Zugangskriterien für Kirchenanimator:innen in ihrem Kirchenreglement (Art. 184) formal festgehalten hat. Diese entsprechen im Wesentlichen denen für den diakonischen Dienst, jedoch ohne die gleiche Ausbildungszeit – die theologische Grundausbildung bei Cèdres Formation kann berufsbegleitend absolviert werden. BeJuSo, die EREN und die EPG haben in der Vergangenheit Ausbildungswege für Laienprediger:innen eröffnet, die jedoch nicht fortgeführt zu sein scheinen. Die EERV hat im Jahr 2025 einen Schritt in diese Richtung unternommen, indem sie Laien-Gottesdienstleitende (célébrant·e·s du culte) ausbildete.[12] Die EPG verfolgt das Ziel, individuelle Berufungen und Charismen durch die Anerkennung sogenannter «chargé·e·s de ministère» sichtbar zu machen. Voraussetzung ist eine theologische Grundausbildung, z. B. durch das Atelier Œcuménique de Théologie. Auch hier werden liturgische Formen der Anerkennung und Sendung praktiziert. Im Rahmen ihrer Generalversammlung vom 13. September 2021 beauftragte die CER das Office Protestant de la Formation (OPF), ein System zur Anerkennung von Äquivalenzen zwischen den verschiedenen Ausbildungswegen zu entwickeln.

Spiritual Care / Seelsorgliche Begleitung

Die EREN und die EERV erkennen zudem Profile spiritueller Begleiter:innen im Rahmen der Seelsorge an. Der Ausbildungsweg umfasst in der Regel:

  • eine theologische Ausbildung,
  • und entweder ein CAS in spiritueller Begleitung oder ein klinisch-seelsorgliches Praktikum (CPT).

Die Kriterien für eine offizielle Anerkennung sind jedoch auf synodaler Ebene noch nicht formalisiert.

Antworten auf die Pfarrpersonen-Knappheit

Zum Schluss möchte ich einige Überlegungen zu den Veränderungen des Pfarrdienst im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Mangel an ordinierten Personen anstellen. Grundsätzlich lassen sich zwei Hauptreaktionen der Kirchen der Romandie auf diesen Mangel beobachten:

  1. Reform des klassischen Ausbildungswegs Gespräche zwischen der CER und dem Collège Protestant de Théologie zielen auf beschleunigte Ausbildungswege sowie auf erste kirchliche Praxiserfahrungen während des Studiums ab – mit dem Ziel, den Weg ins Pfarramt weniger abschreckend zu gestalten (vgl. Protestinfo, „Pénurie de pasteurs. Ouverture d’une voie rapide“, 6. Februar 2024).
  2. Pragmatische Anpassung Teile des Pflichtenhefts des ordinierten Dienstes werden für nicht ordinierte Profile geöffnet – etwa im Bereich Katechese, Spiritual Care, kantonale Stellen, spezialisierte Dienste etc. Ein Beispiel dafür ist die Richtlinie des Synodalrats des Kantons Waadt zu Laien-Gottesdienstleitenden (Dezember 2024).

Diese beiden Entwicklungen wirken sich unmittelbar auf Status und Rolle des Pfarrdienst innerhalb der pluralen Dienstlandschaft der Kirche aus.

Der Status des Pfarramts

Traditionell denken die reformierten Kirchen der Pfarrdienst in enger Verbindung zur Ekklesiologie[13]: Die Kirche konstituiert sich durch das Ereignis des hören auf das Wort Gottes. Der Pfarrer/die Pfarrerin dient dazu, diese konstitutive Gegenwart durch Predigt und Sakramentsverwaltung zu vergegenwärtigen. Beide Handlungen haben öffentlichen Charakter – sie sind nicht privater Natur, sondern auf die Gesellschaft hin geöffnet. Der Zugang zum Pfarrdienst erfolgt über die doppelte Anerkennung eines Rufes:

  • Innerer Ruf (Berufung): die persönliche, geistlich reflektierte Entscheidung
  • Äußerer Ruf (Bestätigung durch die Gemeinschaft): die Anerkennung durch die Kirche. Dieser Weg umfasst Berufungsklärung, Ausbildung, Prüfungen und ggf. die Ordination.

Diese schlichte theologische Struktur verleiht dem Pfarrdienst eine gewisse Flexibilität. Allerdings steht diese theologische Nüchternheit in Kontrast zur Fülle an Aufgaben, die er historisch angesammelt hat: Gemeindebau, Leitung, Projektmanagement, Öffentlichkeit und Medien, Seelsorge und Begleitung aller Altersgruppen, Religionsunterricht, Liturgie, Spiritualität, Diakonie, Publikationen, theologische Reflexion u.v.m.

Veränderungen im Pfarrdienst

Traditionell galt also das Pfarramt als konstitutiv für die Kirche: Wo Kirche war, sollte auch eine Pfarrerin sein. Diese strukturelle Erwartung erzeugt bis heute erheblichen Druck auf diesen Dienst und dessen Nachwuchs. Im gegenwärtigen Kontext wird der Mangel an Pfarrpersonen zu einer zentralen Schwachstelle des bisherigen Modells. Verschiedene Strategien sind in der Romandie (und darüber hinaus) entstanden, um dieser Schwäche zu begegnen. Vier Typen lassen sich unterscheiden:

  1. Ausbau der Zugangswege zum Pfarrdienst

Die klassische «Königsweg»-Struktur (Universität → berufspraktische Ausbildung → Ordination) reicht nicht mehr aus, um genügend Nachwuchs zu sichern. Daher werden alternative Zugangswege geschaffen, wobei die Grundstandards des Pfarrdienst gewahrt bleiben. Beispiel: Kirchen des Konkordats, die bei bewährter Ekklesiologie neue Formen der Berufung ermöglichen. Stärke: Traditionsverbunden. Risiko: Keine strukturelle Erneuerung

  1. Pluralisierung des Dienstverständnisses

Beispiel: die Westschweiz. Hier wird der Pfarrdienst nicht mehr als alleinige Trägerform der Kirche verstanden, sondern als eine Dienstform unter mehreren mit klar umrissenen Aufgaben. Dadurch muss der Pfarrdienst stärker begründet und abgegrenzt werden – es ist nicht mehr zuständig für „alles Kirchliche“. Stärke: Theologische Klärung der Rollen. Risiko: Legitimitätskonflikte und Fragmentierung.

  1. Pragmatische Umverteilung von Aufgaben

Aufgaben des Pfarrdienst werden an Personen ohne offizielle Ordination übertragen, wenn sie fachlich qualifiziert sind. Der institutionelle Rahmen wird zugunsten praktischer Notwendigkeiten umgangen – häufig aus zeitlichem oder personellem Druck heraus. Stärke: Hohe Reaktionsfähigkeit. Risiko: Erosion kirchlicher Ordnungsstrukturen

  1. Charismenbasierte Weitung des Amtsverständnisses

Das Amt wird nicht mehr als Status, sondern als gemeinsames Wirkfeld der Kirche verstanden. Wer am kirchlichen Auftrag teilhat, tut dies gemäß den vom Heiligen Geist verliehenen Charismen, unabhängig vom Beruf. Stärke: Große Offenheit und Teilhabe. Risiko: Verlust der institutionellen Kohärenz Fazit: Eine Typologie in Bewegung Diese Typologie ist nicht abschließend, aber aus meiner Sicht bietet sie eine theologisch hilfreiche Unterscheidung für die aktuellen Wandlungsprozesse im Verständnis des Pfarrdienst – und für die Frage, in welcher Gestalt Kirche heute lebendig sein kann.

[1] Die Synodalunion Bern-Jura-Solothurn sowie die reformierten Kirchen der Kantone Neuenburg, Freiburg, Waadt, Wallis und Genf.

[2] Diese Zahlen sollten im Detail rekonstruiert werden, insbesondere durch eine Unterscheidung zwischen den französischsprachigen und deutschsprachigen Teilen der zweisprachigen Kantone (Bern, Freiburg, Wallis). Eine Schätzung von 17,8 % lässt sich auf der Grundlage der Zahlen des BFS von 2023 und mit einer Schätzung von 30’000 Reformierten im Berner Jura nachvollziehen.

[3] Sie findet sich im Bericht «Ministères émergents dans les Églises de la CER» (Mai 2021), Seiten 8–9.

[4] P. Pilly et ali., De geste et de parole. 20 ans de ministère diaconal dans les Églises réformées de la Suisse romande, Genève, Labor et Fides, 1987, ss. 9-22.

[5] Diese Tabelle stützt sich auf die Reglemente der verschiedenen Kirchen sowie auf den Bericht der CER über die neuen Formen kirchlichen Dienstes (Ministères émergents).

[6] Die derzeit verfügbare Dokumentation nennt folgende acht Kompetenzen: 1 (Meta-)Analyse betreiben ; 2 Die eigene persönliche und berufliche Haltung weiterentwickeln ; 3 Spirituelle Wachsamkeit pflegen ; 4 Beziehungsintelligenz entwickeln ; 5 Teams und Konflikte führen  ; 6 Kommunizieren und repräsentieren ; 7 Kreativität entfalten ; 8 Planen, organisieren und managen. Diese Kompetenzen wurden im Rahmen eines partizipativen Prozesses erarbeitet. 

[7] Ich verweise hier auf die Rekonstruktion der Theologie der kirchlichen Dienste und ihrer Entwicklung im Kontext der EERV durch Jacques André und Étienne Roulet, wie sie in einem Vorbereitungsdokument zu den Debatten der Jahre 2012–2013 dargelegt wurde:Théologie des ministères et Consécration. Notes sur les documents et commentaires.

[8] Matthias D. Wüthrich, La consécration selon la vision réformée, Berne, Fédération des Églises Protestantes de Suisse, 2007, 2e recommandation, p. 59.

[9] Amt – Ordination – Episkopè, § 50, p. 16.

[10] Anhang 3 des Berichts zur Theologie der Ämter, der 2014 der Synode der EERV vorgelegt wurde. Théologie des ministères. Rapport au synode des 14 et 15 février 2014 et 8 mars 2014.

[11] Ich beziehe mich hier auf den Bericht des OPF über die „Ministères émergents“, insbesondere auf die Anhänge auf Seite 26.

[12] Diese Möglichkeit wurde vom Synode teilweise infrage gestellt, da die Ergebnisse einer noch in Ausarbeitung befindlichen Theologie der kirchlichen Dienste abgewartet werden.

[13] Die ökumenische Diskussion über den ekklesiologischen Rahmen der Theologie der kirchlichen Dienste tendiert dazu, – inspiriert vom anglikanischen Verständnis des Episkopats – zu unterscheiden zwischen dem, was das konstitutive Sein der Kirche (esse) im Wort Gottes betrifft, das ihren organischen Formen vorausgeht, und den Ämtern als einer hilfreichen, aber nicht notwendigen Ordnung (bene esse) der Kirche.

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Autor:in

Elio Jaillet

Elio Jaillet

Chargé des questions théologiques et éthiques - Beauftragter für Theologie und Ethik

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