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Das Prophetische Wächteramt: Seid auf der Hut vor den Mehrsichtigen

Die reformierte Kirche versteht sich traditionell als prophetische Stimme in der Gesellschaft. Doch wann wird das Wächteramt zur moralischen Selbstgewissheit? Während Huldrych Zwingli die Kirche noch als radikale Mahnerin sah, betonten seine Nachfolger wie Bullinger und Calvin die Verantwortung der Schrift als Grundlage prophetischer Rede. Heute jedoch droht das Wächteramt oft zum Sprachrohr populärer Meinungen zu werden – prophetisch ist, was dem Zeitgeist entspricht. Doch echte Prophetie geht ein Risiko ein: Sie hinterfragt nicht nur die Gesellschaft, sondern auch sich selbst. Prophetie ist keine moralische Überlegenheit, sondern eine unbequeme Konfrontation mit der Wahrheit.

Kirche ist politisch

Huldrych Zwingli verstand das Wächteramt radikal: Die Kirche sollte nicht nur das Evangelium verkünden, sondern auch politisch eingreifen. Er forderte soziale Gerechtigkeit, geißelte Korruption und sah keinen Widerspruch darin, für seine Überzeugungen mit der Waffe in der Hand zu kämpfen. Doch seine Nachfolger wie Heinrich Bullinger und Johannes Calvin zogen eine Grenze: Prophetie müsse aus der Schrift erwachsen, nicht aus politischem Eifer. Die Kirche könne die Gesellschaft nicht mit Gewalt umgestalten – ihre wahre Kraft liege in der Verkündigung.

Geist und Zeitgeist

Diese Unterscheidung ist heute aktueller denn je. Denn das prophetische Wächteramt wird oft selektiv eingesetzt: Gesellschaftliche Trends bestimmen, welche Themen aufgegriffen werden – und welche nicht. Die Kirche erhebt die Stimme gegen Klimawandel und Flüchtlingspolitik, schweigt aber oft zu sozialer Ungleichheit oder prekären Lebenslagen. Das Wächteramt wird so zum Sprachrohr für Anliegen, die ohnehin populär sind. Doch Prophetie, die nur bestätigt, was dem Zeitgeist entspricht, verliert ihre Kraft.

Prophetie ist Risiko

In einer liberalen Demokratie ist Kritik nicht länger exklusiv der Kirche vorbehalten. Institutionen, Medien und Zivilgesellschaft erfüllen heute eine Wächterfunktion, die einst nur Prophetinnen und Propheten zukam. Was bleibt also von der prophetischen Aufgabe der Kirche? Prophetie darf keine moralische Überlegenheit beanspruchen, sondern muss bereit sein, sich selbst in Frage zu stellen. Sie ist nicht bequem, kein PR-Statement und kein Protest auf Bestellung. Wahre Prophetie ist ein Risiko – für diejenigen, die sie aussprechen.

Die Welt in Frage stellen

Karl Barth warnte davor, Prophetie mit vorgefertigten politischen Positionen zu verwechseln. Echte Prophetie stellt sich gegen die eigene Sicherheit, hinterfragt etablierte Haltungen und wagt es, auch gegen den Strom zu sprechen. Sie kommt nicht aus moralischer Überzeugung, sondern aus der Dringlichkeit, dass das Wort Gottes die Welt infrage stellt – und nicht nur die anderen.

Deshalb gilt: Seid auf der Hut vor denen, die zu genau wissen, was sie tun. Wahre Prophetie ist immer auch ein Wagnis – vor allem für die, die sie aussprechen.

Hier finden Sie den Text mit Fussnoten als PDF

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Autor:in

Frank Mathwig

Frank Mathwig

Prof. Dr. theol. Beauftragter für Theologie und Ethik

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