Ein Tagungsrückblick
Wie sieht die Zukunft der reformierten Kirchen in der Schweiz aus? Oder besser: Auf welcher Grundlage können sie sich überhaupt auf die Zukunft hin ausrichten?
Vom 19. bis 21. Oktober fand in Zürich auf Einladung von Professorinnen und Professoren der Universitäten Zürich und Genf ein mehrsprachiges Kolloquium statt. Zum Abschluss des Jubiläumsjahres der Prophezei (1525) diskutierten Theologinnen und Theologen, Kirchenleitungen sowie Verantwortliche für kirchliche Transformationsprozesse über die Bilder und Vorstellungen, die das kirchliche Handeln prägen, und über die bereits angestoßenen Veränderungsprozesse.
Dieser Beitrag bietet eine kurze Zusammenfassung der einzelnen Referate.
Die universale Kirche
Rita Famos (EKS) betonte, dass die Zukunft der reformierten Kirche – trotz aller Herausforderungen wie Mitgliederrückgang, finanzieller Belastung oder Missbrauchsfälle – nicht auf eine Krise reduziert werden darf. Die Kirche sei mehr als ihre Institution: zugleich lokal (ekklēsía) und universal (koinōnía). Durch die weltweite Gemeinschaft der reformierten Kirchen bezeugen besonders die Kirchen des Südens ein lebendiges Evangelium, das die Kirchen des Nordens sowohl herausfordert als auch inspiriert.
Theologisch hat die Kirche kein eigenes Zukunftsprogramm – ihre Zukunft ist Gott selbst. Sie lebt zwischen Ostern und Parusie, berufen, im „erfüllten Jetzt“ Zeugnis zu geben. Trotz ihrer Schwächen wird sie vom Glauben getragen und zur Tat im Hier und Jetzt befreit. Initiativen wie das Festival Refine zeigen, dass sie Menschen immer noch versammeln kann. Ihre Aufgabe bleibt, das Evangelium zu verkünden und zur Nachfolge Christi einzuladen.
Christus im Zentrum der Kirche
Edwin van Driel (Pittsburgh Theological Seminary, USA) entwarf eine kraftvolle theologische Vision für eine nachchristliche Zeit: Die Kirche ist keine Organisation, die es zu retten gilt, sondern eine Gemeinschaft, die von Christus selbst zusammengeführt wird. Heil wird dort sichtbar, wo Christus handelt und Menschen verschiedener Herkunft vereint. Seine Überlegungen folgen dem Epheserbrief: Christus versammelt, die Kirche unterscheidet, das Heil wird als „Gemeinschaft der Verschiedenen“ erfahrbar; Einheit entsteht jenseits bloßer Sympathien, und die Mission folgt aus dieser Sammlung.
Die theologische Stärke dieses Ansatzes wurde anerkannt, doch auch praktische Fragen kamen auf.
Emma van Dorp (Universität Genf) betonte die Bedeutung, Theologie mit alltäglicher Erfahrung zu verbinden – Heil geschehe auch in konkreten Gesten. Sabrina Müller (Universität Bonn) warnte vor der Gefahr von Ausgrenzung: Die Kirche könne nicht versammeln, ohne gerecht zu sein. In einer postdigitalen Kultur müsse sie dissonante Stimmen hören und Pluralität zulassen.
Im Zentrum der Diskussion stand eine gemeinsame Überzeugung: Die Kirche besitzt Christus nicht, sie nimmt Anteil an seinem Wirken. Das bedeutet, Unterschiedlichkeit anzunehmen, ohne sie zu neutralisieren. Die Zukunft einer von Christus versammelten Kirche liegt in dezentralen, gerechten, hörenden und gemeinschaftsorientierten Formen – in konkreten Praktiken, die dem Heil Gestalt geben.
Die Frage nach der Relevanz der Kirche
Ralph Kunz (Universität Zürich) übte eine differenzierte Kritik am kirchlichen Streben nach Relevanz in einer Zeit allgemeiner Krisenerfahrung. Relevanz, so Kunz, lasse sich nicht herstellen, sie werde empfangen – in einem komplexen sozialen Wechselspiel. Das Evangelium bleibe sinnstiftend, verliere jedoch seine Kraft, wenn es sich zu stark an die Erwartungen seiner Adressaten angleicht. Kunz warnte vor zwei Extremen: der Anpassung bis zur Beliebigkeit und der selbstgenügsamen Indifferenz.
Er plädiert für eine „evangelische Kritik der Relevanz“: keine Marketingstrategie, keine Verteidigungshaltung, sondern ein kirchliches Leben, das aus der authentischen Resonanz des Evangeliums schöpft. Die Kirche solle sich nicht verkaufen, sondern aus der Gnade leben – mit Demut und Mut. Sonst verfalle sie einer palliativen Logik, die von der Angst vor dem Niedergang statt vom Vertrauen auf Gott bestimmt sei.
Matthias Zeindler (Kirche Bern–Jura–Solothurn) betonte, dass allein Gott den Glauben relevant mache – nicht menschliche Strategien. Relevanz könne das Evangelium ebenso offenbaren wie verraten.
Elio Jaillet (EKS) ergänzte, die kirchliche Debatte über Relevanz zeige eine Angst vor Endlichkeit. Er rief dazu auf, die Möglichkeit des institutionellen Sterbens geistlich zu integrieren. Alle drei fordern eine „kreuzesförmige“ Relevanz: treu, verwundbar und in der Gnade verwurzelt.
Eine Kirche, die eine unbequeme Wahrheit sagt?
Elisabeth Parmentier (Universität Genf) rief dazu auf, dass die Kirche den Mut zu einer wahren, unbequemen und befreienden Rede haben müsse – jenseits populärer Anpassung. Sie kritisierte moderne Angebote wie „Pop-up-Hochzeiten“ oder „Drop-in-Taufen“, die ohne klare theologische Verankerung den Kern des Evangeliums verwässerten. Die Kirche dürfe sich dem Wohlbefinden zuwenden, dürfe dabei aber Kreuz, Skandal und Entäußerung der göttlichen Macht in Christus nicht ausblenden.
Angesichts einer geschwächten Gemeinschaftskultur hob Parmentier die Bedeutung lokaler Kirchen hervor – als unvollkommene, aber reale Kommunion. Sie plädierte für ein Zeugnis, das in Liturgie, Wort und gemeinsamem Vertrauen verwurzelt ist. In Genf zeige das Beispiel einer „Kinderkirche“ eine einfache, aber tiefe Form von Glauben – fern von Leistungslogik und Eventkultur.
Miriam Rose (Universität Basel) betonte die Hoffnung als Zugang zur Glaubensthematik. Sie warnte vor Simplifizierungen und warb für eine theologisch und biblisch fundierte Tiefe. Innovative Formen seien dann sinnvoll, wenn sie zu einem geistlichen Weg führen. Sie plädiert für eine Kirche in der Diaspora – vielfältig, beständig, gastfreundlich und bildend.
Kirchenleitungen im Wandel
Am Montagnachmittag boten verschiedene Workshops Gelegenheit, aktuelle Fragen der kirchlichen Transformation zu vertiefen: Sakramente, Amt, Kirchenmusik und Mitgliedschaft.
Angesichts von Berufungskrise und Ressourcenknappheit forderte der Workshop zum Pfarramt strukturelle Veränderungen. Martin Schmidt (St. Gallen) sprach sich für eine „generous orthodoxy“ und flexible Kirchenformen aus. Thomas Schaufelberger (Zürich) plädierte dafür, das Bild des „Ein-Mann-Orchesters“ abzulösen – zugunsten spezialisierter, kooperativer Kompetenzen. Das Amt wird gemeinschaftlich, kontextuell und vernetzt gedacht.
Angela Berlis (Universität Bern, christkatholische Theologie) hob die Verbindung zwischen Amt und Gemeinde hervor, die Bedeutung einer lebendigen Liturgie, solider Ausbildung und ökumenischer Offenheit. Sie verwies auf unentgeltliche Ämter wie in den Niederlanden. Geistliche Autorität sei geteilt, verwurzelt in Spiritualität und Kooperation – Ausdruck einer „verkörperten Theologie“. Das Amt sei weniger Status als Dienst in Beziehung.
In einer abschließenden Podiumsdiskussion berichteten Kirchenleitende – Christophe Weber-Berg (Aargau), Christina aus der Au (Thurgau), Anne Abruzzi (Waadt), Yves Bourquin (Neuenburg) und Iwan Schulthess (Bern–Jura–Solothurn) – über ihre Reformprozesse: Fusionen, erweiterte Teams, stärkere Einbindung Freiwilliger. Alle suchen die Balance zwischen institutioneller Beweglichkeit und Treue zum Evangelium. Die Governance bleibe von intensiven Debatten geprägt, um Subsidiarität zu wahren. Eine Neubestimmung des Pfarramts scheint allen unumgänglich. Ziel bleibt, eine konkrete Hoffnung zu verkörpern.
Transformation der Ortskirche – ein Praxisbeispiel
Juliane Schüz (EKHN, Deutschland) nutzte das Bild eines Mischpults, um die Anpassung kirchlicher Strukturen ohne Bruch und ohne theologische Verflachung zu beschreiben. Statt radikaler Reformen plädiert sie für kontinuierliche Justierung dreier „Regler“: territoriale Struktur, pastoraler Dienst und missionarische Orientierung. Angesichts sinkender Ressourcen schafft ihre Kirche „Nachbarschaftsräume“, die lokale Verwurzelung mit regionaler Kohärenz verbinden.
Das Pfarramt wandelt sich: vom Einzelkämpfermodell zu Teams mit differenzierten Kompetenzen. Pfarrerinnen und Pfarrer werden zu Hüterinnen und Hütern des Überblicks – mit hermeneutischer Leitfunktion. Liturgische und pastorale Aufgaben werden mit geschulten Laien geteilt. Schüz beschreibt diesen Wandel als doppelten Bewegungsprozess: „Sammeln und Senden“. Die Gemeinde wird zu einem hybriden Raum – zugleich analog und digital –, offen für neue missionarische Praktiken, die im Evangelium gründen.
Andrea Bieler (Universität Basel) lobte diesen pragmatischen Ansatz, hinterfragte jedoch dessen theologische Voraussetzungen. Sie unterschied zwischen bloßer kybernetischer Anpassung und einer vom lebendigen Wort inspirierten Ekklesiologie. Die Diskussion weitete sich aus: Wie lassen sich Zugehörigkeit und Sichtbarkeit in einer pluralen Kirche sichern? Kritiker warnten vor bloßer Fassadenanpassung, andere betonten die Bedeutung starker Beziehungen für eine verwandelte, demütige und gastfreundliche Kirche.
Die Kirche: prophetisch und demütig
In seinem Vortrag Prophetic Voice and Indifference zeichnete Bruce Gordon (Yale University, USA) das Bild einer Gesellschaft, die nicht feindlich, sondern gleichgültig gegenüber der Kirche geworden ist. Diese Apathie sei Ausdruck einer tiefen spirituellen Krise, verursacht durch den Verlust der prophetischen Berufung der Kirche. In Anlehnung an Zwingli ruft Gordon zu einer Kirche des Hörens und der gemeinschaftlichen Schriftauslegung auf – nach dem Vorbild der Zürcher Prophezei –, gegründet in Demut und Frömmigkeit, fähig, der Oberflächlichkeit moderner Kommunikation zu widerstehen.
Gegen die Versuchung, zu gefallen oder sich dem religiösen Markt anzupassen, fordert er eine Kirche, die dem Evangelium treu bleibt – auch wenn es anstößig ist. Das christliche Wort müsse anspruchsvoll bleiben, denn es rufe zur Umkehr und zur Hingabe. Eine solche, in Integrität und Schlichtheit gelebte Verkündigung könne noch immer Herzen bewegen. Angesichts weitverbreiteter Gleichgültigkeit gewinne die Kirche ihre prophetische Kraft durch die Übereinstimmung von verkündetem Glauben und verwandeltem Leben zurück.
In seiner Antwort differenzierte Stephan Jütte (EKS) Gordons Befund. Er anerkannte die Richtigkeit der Diagnose, wies jedoch darauf hin, dass Gleichgültigkeit oft Ausdruck einer suchenden, orientierungslosen Spiritualität sei. Er hob neue Ausdrucksformen des Glaubens jenseits institutioneller Rahmen hervor. In einer von Authentizitätssuche geprägten digitalen Kultur müsse christliches Zeugnis verletzlich und ehrlich sein. Prophetisch sei dann eine bescheidene, aber echte Präsenz mitten in der Welt.
Schlusskommentar
In seinem abschließenden Kommentar betonte Thomas Schlag (Universität Zürich), dass das Kolloquium trotz der vielfach diagnostizierten Krisen von einem hoffnungsvollen, dynamischen Geist getragen war – einer Haltung, die sich der bloßen Krisenrhetorik verweigert. Besonders beeindruckend sei der konsequent theologische Zugang zu den Themen gewesen, der über rechtliche oder finanzielle Fragen weit hinausgehe. Diese Tiefe, die Tradition und Innovation verbindet, bezeichnete Schlag als wertvolles Kennzeichen kirchlicher Reflexion.
Er rief dazu auf, die Kirche als Raum der Vermittlung zu denken – mit einem weiten, großzügigen Zentrum, das Unterschiede integriert und Gemeinschaft ermöglicht, die verletzlich, urteilsfähig und wandlungsbereit ist. Er plädierte für eine Ethik der Maßhaltung – eine Tugend der Mitte –, gegen Aktivismus, Resignation oder Stillstand. Eine Kirche, die Spannungen aushält, Aushandlung zulässt und Hoffnung teilt, kann in dieser Welt Bestand haben.


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