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Der Eurovision Song Contest 2025 in Basel ist längst mehr als ein harmloses Pop-Spektakel. Zwischen Protesten, politischen Spannungen und Forderungen nach Ausschluss Israels stellt sich die Frage neu: Wie politisch darf – oder soll – der ESC sein? Stephan Jütte, Theologe und Ethiker, kommentiert die Debatte und plädiert für eine entschlossene Verteidigung der kulturellen Offenheit: Der ESC sollte nicht urteilen, wer auftreten darf – sondern zeigen, was Vielfalt kann.
Der Eurovision Song Contest 2025 in Basel ist nicht nur ein Pop-Event mit Pyroeffekten, Windmaschinen und schrillen Posen. Er ist, wie so oft, auch ein Projektionsraum für politische Konflikte, moralische Empörung und kulturelle Aushandlungen. Während draussen auf dem Barfüsserplatz demonstriert wird, flimmern drinnen Bühnenträume über LED-Wände. Israel ist dabei. Und das ist für viele ein Skandal.
Nemo, Schweizer ESC-Gewinner* 2024 hat sich öffentlich gegen die Teilnahme Israels ausgesprochen. Auch aus dem propalästinensischen Lager werden Stimmen laut, die einen Ausschluss fordern. Der Vorwurf: Wer Kriegsverbrechen begeht, sollte keine Bühne bekommen. Die Buhrufe gegen die israelische Delegation in Basel am Sonntag, die bedrohliche Geste gegen die israelische Sängerin Yuval Raphael und die daraus resultierende Anzeige zeigen: Die Spannungen sind real. Und sie sind hörbar.
Yuval Raphael, Jahrgang 2000, ist Überlebende des Massakers vom 7. Oktober. Sie versteckte sich unter Leichen, während Hamas-Terroristen Raketenbunker angriffen. Heute singt sie. Ihr Song „New Day Will Rise“ klingt wie ein trotziges Versprechen: Wir leben noch. Und wir geben die Hoffnung nicht auf. Ist das politische Propaganda? Oder einfach die Stimme einer jungen Frau, die Gewalt erlebt hat und überlebt hat? Vielleicht beides. Vielleicht liegt gerade darin die Wahrheit des ESC.
Denn neutral war dieser Wettbewerb noch nie. Schon Nicole sang 1982 von „Ein bisschen Frieden“, Griechenland klagte 1976 die Türkei an, und Conchita Wurst wurde 2014 zur Galionsfigur der queeren Sichtbarkeit. Der ESC ist ein kulturelles Labor, in dem sich europäische Selbstverständigung im Glitzerkleid zeigt. Auch die Siege von Acts aus der Ukraine, aus Portugal, aus Israel oder zuletzt von Nemo – als non-binäre Person – waren nie nur musikalische Erfolge, sondern auch gesellschaftliche Signale.
Es geht also nicht darum, ob der ESC politisch ist, sondern wie. Und wer die Regeln schreibt. Die Europäische Rundfunkunion (EBU) pocht auf ihre Unparteilichkeit. Doch sie handelt politisch, wenn sie Russland ausschliesst, Belarus suspendiert, Israel aber teilnehmen lässt. Man kann das kritisieren. Aber man muss auch anerkennen: Die Konflikte sind nicht symmetrisch. Die russische Regierung führt einen Angriffskrieg gegen ein Nachbarland. Israel ist in einen asymmetrischen Krieg mit einer Terrororganisation verwickelt. Wer da gleiche Massstäbe anlegt, verkennt die Unterschiede. Und was ist mit Aserbaidschan? Ein Land, das unabhängige Medien unterdrückt, Journalisten inhaftiert und kürzlich einen militärischen Angriff auf Bergkarabach durchführte. Auch dort ist von Ausschluss kaum die Rede. Warum? Weil moralische Konsistenz in der internationalen Politik ein rares Gut ist. Und weil auch der ESC in geopolitischen Widersprüchen lebt.
Hier geht es nicht um Whataboutism, sondern um die Wahrnehmung von Differenzen. Es macht einen Unterschied, dass am Wochenende Tausende in Tel Aviv für das Ende des Kriegs demonstriert haben. Es macht einen Unterschied, dass Yuval Raphael ein Opfer terroristischer Gewalt ist. Aber daraus darf man keine Kasuistik ableiten, kein System mit roten Linien und festen Prinzipien. Viel hilfreicher wäre es, auf die inklusive Kraft des ESC selbst zu vertrauen: nicht zu fragen, wen man ausschliessen muss, sondern wie man auch nordafrikanische Länder integrieren kann. Wie man Musik aus Russland oder Belarus hörbar machen kann, ohne die Politik ihrer Regime zu bestätigen.
Gerade deshalb sollte er sich nicht fragen, wen er ausschliessen kann, sondern wie er mehr einschliessen kann. Seine politische Kraft liegt nicht in der Sanktion, sondern in der Verführung. Vielfalt kann ansteckend sein. Wenn Menschen aus Diktaturen bunte Pophymnen sehen, queere Liebeslieder hören und merken, dass Europa nicht nur von Geld, sondern auch von Freiheit singt, dann ist das ein stiller Triumph. Einer mit Glitzer.
Lasst uns also streiten. Lasst uns auch protestieren. Aber lasst uns den ESC nicht zum Tribunal machen. Er ist schon ein Politikum. Ein umstrittenes, aber ein wichtiges. Und vielleicht das europäischste, das wir haben. Ein bisschen Frieden, ein bisschen Vielfalt. Das wäre doch schon was.
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