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Familie und Reformation: Das Erbe von Gewalt und Herrschaft?

Familie und Reformation – Wo sind Gewalt und Herrschaft geblieben? Was, wenn die Familie nicht nur ein Ort der Liebe und der Weitergabe wäre, sondern auch ein Ort der Unterdrückung und Gewalt? In diesem Text hinterfragt Marie Duruz die theologischen, sozialen und kulturellen Grundlagen der Familie – aus einer reformierten, kritischen und zugleich feministischen Perspektive.

Worte und Intuitionen

Familie – weiblich. „Eine Gruppe, bestehend aus den Eltern (oder einem Elternteil) und den Kindern. Eine Gruppe von Personen, die durch Verwandtschaft oder Ehe verbunden sind. Eine Folge von Generationen, die von denselben Vorfahren abstammen“, so definiert es der Larousse. Diese Definition enthält bereits eine Reihe von Schlüsselbegriffen, die zusammengenommen ein bestimmtes (vielleicht etwas überholtes) Bild der Familie zeichnen: „Eltern“, „Kinder“, „Ehe“, „Generationen“.

Lange Zeit habe ich die Bande der Liebe und der Solidarität, die mich mit meinen Eltern, meinen Geschwistern, meinen Grosseltern, meinen Onkeln und Tanten, meinen Cousinen verbanden, nicht hinterfragt. In verschiedenen Situationen haben wir diese Bindungen erlebt: Wir sind auf Trauer, Freude, Konflikte gestossen. Erst seit Kurzem merke ich, dass einige dieser Verbindungen stärker sind als andere. Dass Beziehung nur in bestimmten Fällen ein wirklicher Austausch ist. Dass einige Wunden, die nie behandelt wurden, sich entzündet haben – und manchmal sogar zur „Amputation“ einzelner Familienmitglieder führten.

Ich erkenne allmählich, dass diese biologische Familie in gewisser Hinsicht eine Maskerade ist – und umgekehrt, dass Menschen, mit denen ich keinerlei gemeinsames Erbe habe, zu mir tiefere und aufrichtigere Beziehungen pflegen. Was ich heute sehe, ist, wie sehr die Familie eine häufig überholte Institution ist – die dennoch mein Leben, die Gesellschaft, in der ich lebe, und die Kirche, an die ich zutiefst glaube, strukturiert.

Fragt man ChatGPT, was eine Familie ist, antwortet die künstliche Intelligenz:

„Eine Familie ist eine Gruppe von Personen, die durch Verwandtschaft, Zuneigung oder gegenseitige Unterstützung miteinander verbunden sind. Traditionell besteht sie aus Eltern und ihren Kindern, aber der Begriff Familie kann weiter gefasst werden und auch erweiterte Mitglieder wie Grosseltern, Onkel, Tanten, Cousinen oder sogar enge Freunde einschliessen, die starke emotionale Bindungen teilen. Neben biologischen Verbindungen kann eine Familie auch durch Beziehungen der Solidarität, der emotionalen Unterstützung, durch das Teilen von Werten und einem gemeinsamen Leben definiert werden. Sie wird oft als ein Ort des Lernens, des Schutzes und der Weitergabe von Kultur, Traditionen und sozialen Verantwortungen gesehen. In der modernen Gesellschaft kann die Familienstruktur vielfältig sein: Alleinerziehende, Patchworkfamilien, gewählte Familien (zum Beispiel Freundschaften, die als Familie empfunden werden) usw. Die Familie verändert sich mit der Zeit und je nach Kultur, bleibt aber oft im Zentrum menschlicher Erfahrung.“

Die künstliche Intelligenz weist hier auf den Wandel dieser familiären Zelle hin. In dem Moment, in dem die biologischen und genealogischen Dimensionen nuanciert (aber nicht aufgehoben) werden, tritt ein neues Set von Schlüsselbegriffen hervor, das den Begriff der Familie zu definieren scheint: „Verwandtschaft“, „Zuneigung“, „Solidarität“, „Weitergabe“.

Die richtigen Fragen stellen

In einem ethischen Bericht mit dem Titel „Ehe, Elternschaft, Kinder. Welche Folgen hat die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare?“ stellt sich die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) die Frage nach der Definition von Familie im christlich-reformierten Kontext. Die Verbindung von „Ehe, Elternschaft, Kinder“ zeigt dabei ein normiertes Familienbild, in dem die Ehe (und in ihrer Verlängerung das Paar) als unverzichtbare Grundlage erscheint. Und die Frage „Welche Folgen hat die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare?“ stellt die Heterosexualität ins Zentrum und betont die tiefe Verbindung zwischen Familie und Reproduktion.

Der Bericht macht deutlich: Die Familie ist – aus reformierter Sicht – das Fundament der Kirche. Wie die Autor*innen dieses Dokuments ausdrücken:

„In einer Vorstellung von Ehe und Familie, die sich in einer biblischen und reformierten Perspektive bewegt, lassen sich folgende Elemente festhalten:

  1. Ehe und Familie haben ihren Ursprung im Handeln Gottes, der den Bund schliesst und segnet.

  2. Sie stehen unter dem segnenden Beistand Gottes in Jesus Christus durch seinen Geist.

  3. Die Kirche bittet um den Segen für Ehe, Elternschaft und Abstammung, weil – und in dem Masse, wie – Gott selbst seinen Willen zum Bund in dieser Ehe, Elternschaft und Abstammung zum Ausdruck bringt und verwirklicht.

  4. Die Kirche stellt Ehe und Familie in den Raum, der durch die biblischen Geschichten vom Handeln Gottes mit seiner Schöpfung eröffnet wird – dieses Handeln, das Beziehung schafft, segnet, bewahrt und zum Ziel führt.“

In diesen Formulierungen erscheinen erneut Schlüsselbegriffe, die wir bereits genannt haben: „Bund“, „Segen“, „Elternschaft“, „Abstammung“, „Ehe“, „Beziehung“. An diesem Punkt scheint es berechtigt zu sagen: Im reformierten Kontext bezeichnet Familie nicht ausschliesslich eine biologische, sondern auch eine emotionale und soziale Realität. Die ideale reformierte Familie gründet vor allem auf göttlichem Segen und gegenseitiger Liebe zwischen den Beteiligten – so sehr, dass selbst die glaubende Gemeinde mit der Sprache der Familie beschrieben wird (in Anlehnung an Paulus, der in seinen Briefen die Familie als Metapher nutzte).

Doch diese Familie – ob metaphorisch oder wörtlich verstanden –, gegründet auf der Ehe und hervorgehend aus der Elternschaft, wird durch die jüngste Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare erschüttert. Die Situation wird im Vorwort des Berichts so zusammengefasst:

„Im Jahr 2022 hat das Schweizer Volk die Einführung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare angenommen. Bereits 2019 hatte die Versammlung der Delegierten der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz ihren Mitgliedkirchen empfohlen, die neue Regelung zum Eheverständnis in ihrer liturgischen Praxis umzusetzen. Die Revision des Eherechts wirft nun die Frage auf, welche Folgen sich daraus für Ehe, Elternschaft, Kinder und Familien ergeben. Die Evangelisch-reformierte Kirche hat sich bereits mehrfach mit bioethischen Fragen befasst, die sich aus der Reproduktionsmedizin ergeben. Nichtinvasive pränatale Diagnostik, In-vitro-Fertilisation und Präimplantationsdiagnostik haben theologische und ethische Überlegungen zur Lebensschutzfrage und zur Embryonalethik angestossen. Da gleichgeschlechtliche Paare – ausser durch Adoption – nicht ohne medizinische Hilfe Eltern werden können, stellen sich nun neue Fragen: Wem soll reproduktionsmedizinische Hilfe zugänglich gemacht werden, um ihnen zu ermöglichen, eine eigene Familie zu gründen?“

Lassen wir uns kurz auf die Argumentation ein, die hier entwickelt wird. Nach einem knappen Überblick zur rechtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung werden nacheinander folgende Themen aufgegriffen: die theologische Grundlage des kirchlichen Streits um die Ehe, die ethischen und kulturellen Herausforderungen der Reproduktionsmedizin sowie die rechtliche Perspektive. Sobald diese Elemente umrissen sind, bemüht sich der Bericht darum, eine theologisch-ethische Gesamtsicht zu entwickeln – zu Fragen von Elternschaft und Abstammung.

Am Ende dieses Gedankengangs steht eine zehnteilige Schlussfolgerung, die sich wie folgt zusammenfassen lässt:

  1. In reformierter Perspektive verstehen sich Ehe und Familie als Beziehungsformen innerhalb des Raumes, der durch Gottes Bund eröffnet wird.
  2. In der theologischen Ethik müssen biologische und biografische Aspekte des menschlichen Lebens im Licht des Lebens verstanden werden, an dem der Schöpfer Anteil gewährt.
  3. Das Handeln Gottes, der Bündnis schliesst und segnet, offenbart sich nicht in biologischer Kausalität oder genetischer Genealogie; es wird vielmehr durch Erzählung zugänglich – durch Geschichten über Gottes Gegenwart mit seinen Geschöpfen.
  4. Die zentrale reformierte Überzeugung lautet: Jesus Christus ist Herr der Kirche und der Welt – das schliesst die Reproduktionsmedizin ein. Gottes segensvolles Handeln und medizinisch assistierte Fortpflanzung schliessen sich nicht aus.
  5. Die biblisch-christliche Vorstellung des Kindes als Gabe ist von zwei Seiten bedroht: technologisch – durch zunehmende Eingriffsmöglichkeiten, und moralisch – durch Bewertungen von Entscheidungen vor der Geburt eines Kindes.
  6. Alle Kinder haben das gleiche Recht, dass ihre Eltern als solche anerkannt werden – und selbst als Kinder ihrer Eltern anerkannt werden.
  7. Für zukünftige Kinder sind Lebensbedingungen nicht allein deshalb wünschenswert, weil wir selbst in ihnen aufgewachsen sind. Das Kindeswohl darf nicht zum Vehikel einer eigenen Moral über Ehe, Elternschaft und Familie werden.
  8. Indem wir die Grenzen dessen verschieben, was sich unserem Zugriff entzieht, erweitern wir die Bereiche, in denen wir entscheiden und Verantwortung übernehmen müssen – und setzen uns so einem sozialen und moralischen Überforderungsrisiko aus.
  9. Ungewollte Kinderlosigkeit und ein unerfüllter Kinderwunsch haben medizinische und soziale Ursachen und sind als existenzielles Schicksal ernst zu nehmen – sie betreffen alle Ebenen der Person.
  10. Jeder neue Anfang, den eine Geburt markiert, beruht auf einer Verheissung: „Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, kannte ich dich“ (Jer 1,5). Medizinisch unterstützte Fortpflanzung muss so gestaltet sein, dass die daraus entstehenden Menschen sich als Geschöpfe Gottes verstehen und erfahren können – und auch von anderen als solche gesehen werden.

Diese Schlussfolgerung mag auf den ersten Blick etwas abstrakt wirken – und doch birgt sie ein grosses befreiendes Potenzial. Wenn man sich die Frage stellt, welche Folgen die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare auf das Dreigestirn „Ehe, Elternschaft, Kinder“ hat, so zeigen die Autor*innen des Berichts letztlich: Die Frage ist falsch gestellt. Denn die ethischen Fragen, die sich aus der Entwicklung medizinischer Fortpflanzungshilfe ergeben, sind dieselben – ob für heterosexuelle oder homosexuelle Paare.

Die Infragestellung der Legitimität gleichgeschlechtlicher Partnerschaften entspringt einem homophoben Bias, wie feministische Theorien und bibelwissenschaftliche Exegese seit Langem aufzeigen. Entscheidend ist hier das biblisch-theologische Argument:

„Während in den Geschichten der Patriarchinnen und Patriarchen oder in den Berichten zur Geburt Jesu die Phase zwischen der Ankündigung der Nachkommenschaft und deren tatsächlicher Geburt eine Blackbox bleibt (im biblischen Sprachgebrauch: ein ‚Wunder‘), verdrängen die heutigen Debatten über Fortpflanzung die eigentliche Handlung – nämlich das Begehren nach einem Kind und seine Verwirklichung. Sie konzentrieren sich auf den Zwischenschritt, der aus biblischer Sicht zweitrangig ist: Eva (Gen 4,25) sieht ihre ‚natürliche‘ Schwangerschaft ebenso als Gottesgeschenk wie Elisabeth, die unfruchtbar ist (Lk 1,36), oder Maria, die Jungfrau ist (Lk 1,31.34ff.). Entscheidend ist nicht, wer (der Sexualpartner) oder was (die sexuelle Beziehung) die Schwangerschaft auslöst – und auch nicht, wie (im Paar, durch Leihmutterschaft) sie zustande kommt –, sondern allein, dass (Gott) das Kind schenkt, das Frucht dieser Schwangerschaft ist.“

Mit anderen Worten: Die Zeugung ist nie mehr als ein Mittel zur Geburt des Kindes. Entscheidend ist nicht, auf welchem Weg es zur Schwangerschaft kommt – sondern, dass ein neues Leben entsteht. Diese Sichtweise zeichnet ein reformiertes Familienbild, das aktueller nicht sein könnte: Es entdramatisiert die biologische Herkunft und stellt Liebe, Weitergabe und Gegenseitigkeit ins Zentrum.

Weitergedacht …

Trotz der befreienden Kraft dieser Schlussfolgerung scheint mir, dass in dieser Reflexion ein blinder Fleck bleibt. Die Darstellung der Familie als Ort der Weitergabe und der Liebe blendet eine Realität aus, die diesem schönen Bild eine düstere Färbung verleiht: Die Familie als Ort von Gewalt und Herrschaft.

Wie Léane Alestra in ihrem Buch Sind heterosexuelle Männer wirklich hetero? (2023) zeigt, ist die Familie um die Figur des Vaters organisiert, der alle Macht innehat. Um es mit ihren Worten zu sagen:

„Das Patriarchat ist nicht nur eine soziale Organisation, sondern es stützt sich auch auf ein Wertesystem. In seinem Buch Creating Love fasst der Psychotherapeut John Bradshaw das Patriarchat so zusammen: ‚Eine soziale Ordnung, in der der Vater im Clan oder in der Familie sowohl in häuslichen als auch in religiösen Funktionen die Oberhoheit hat.‘ […] Das Patriarchat ist also durch männliche Dominanz und Macht geprägt, welche unsere Institutionen formen. […] In diesem Kontext gehören die Kinder dem Vater. Ihr Körper gehört ihm – ebenso wie ihr Geist. Frauen stehen im Dienst der Autorität des Mannes, und damit auch seiner Nachkommenschaft. Traditionell dürfen sie keinen Besitz haben, da sie selbst bereits als Besitz des Mannes gelten.“

Was innerfamiliäre Gewalt betrifft, so zeigt das Bundesamt für Statistik: Fast die Hälfte der in der Schweiz im Jahr 2023 begangenen Tötungsdelikte ereignete sich im häuslichen Bereich. Familie ist also keineswegs nur ein Ort der Liebe und Fürsorge.

Die Autorin Virginie Despentes prangert an, dass die Gewalt, die Frauen im Rahmen der Prostitution erleben, nicht losgelöst von jener verstanden werden kann, die ihnen in der Ehe widerfährt:

„Wenn man behauptet, dass Prostitution ‚Gewalt gegen Frauen‘ sei, will man vergessen machen, dass es die Ehe ist, die Gewalt gegen Frauen darstellt.“

Mit ihrem provozierenden Stil kritisiert Despentes die ökonomischen und sexuellen Abhängigkeiten, die Männern durch die Ehe kostenfrei zugutekommen. In dieselbe Richtung argumentiert Titiou Lecoq in ihrem brillanten Essay Das Paar und das Geld (2022): Sie verurteilt ein patriarchal-kapitalistisches System, das Männern erlaubt, sich auf Kosten der Frauen durch deren unbezahlte Haus- und Care-Arbeit zu bereichern.

Viele feministische Autor:innen haben in den letzten Jahrzehnten gezeigt, dass die Familie ein soziales Feld der Unterdrückung ist – eines, in dem Frauen ausgebeutet und viel zu häufig auch misshandelt werden.

Aber nicht nur Frauen sind von familiärer Gewalt betroffen. Laut der Organisation Kinderschutz Schweiz gehören psychische und körperliche Gewalt in vielen Familien auch im Jahr 2020 noch zum Alltag. Noch erschütternder: „In Frankreich sind 5 bis 10 % der Kinder von Inzest betroffen.“

In Die Wiege der Herrschaft schreibt die Anthropologin Dorothée Dussy:

„Kinder sind im Allgemeinen stark und mutig – zumindest solange, bis sie von der Familie und dem sozialen System, das sie zum Schweigen bringt, gebrochen werden. […] Irgendwann – vielleicht zu Beginn der sexuellen Übergriffe, vielleicht nach drei oder vier Jahren Inzest, vielleicht auch erst, nachdem der Missbrauch beendet ist – widersetzt sich das betroffene Kind endgültig dem Täter und offenbart auf seine Weise den Inzest gegenüber seinen Angehörigen.“

Die Familie scheitert also nicht nur darin, Kinder zu schützen – sie ist oft selbst der Ort, an dem die Gewalt gegen sie verwurzelt ist. Kinder, die sich trauen, das Schweigen zu brechen, werden selten geglaubt. Denn: „Eine Familie zieht es vor, ein instabiles und verlogenes Kind in ihren Reihen zu haben – anstatt einen Inzesttäter.“

Was sagt die Gewalt über unsere Institutionen?

Wenn also die Familie – ob im wörtlichen oder im metaphorischen Sinn – als durch Ehe und Elternschaft begründete Einheit nach wie vor einen Grundpfeiler unserer Gesellschaft und insbesondere unserer Kirche bildet, dann muss ich mir Fragen stellen. Was sagt die Gewalt, die dort geschieht, über unsere Institutionen aus? Was sagt sie über unseren Gott?

Ich habe keine endgültigen Antworten auf diese Fragen, aber sie begleiten mich täglich. Ich bin überzeugt: Aus reformierter (und allgemeiner gesagt: kirchlicher) Perspektive ist es unabdingbar, die patriarchale Struktur unserer Institutionen zu hinterfragen. Nur wenn wir uns der Hierarchien bewusst werden, die sich innerhalb der Familie herausgebildet haben, kann die „Kirche als Familie“ zu dem einladenden Ort werden, der sie zu sein beansprucht.

Ich erinnere mich noch gut: Im Jahr 2019 war ich als Mitglied eines Kirchenrates völlig sprachlos angesichts der wütenden Reaktionen einiger Gemeindemitglieder, die wegen der Stellungnahme der EKS zugunsten der Ehe für alle damit drohten, aus der EERV auszutreten. Bis heute bin ich regelmässig schockiert über die Heftigkeit, mit der diese Debatte geführt wird. Für manche bleibt Familie untrennbar mit Heterosexualität verbunden. Was hier wirkt, ist die Idee von „Natur“: Weil homosexuelle Paare auf natürliche Weise keine Kinder zeugen können, erscheint es als „natürlich“, dass sie keine Eltern sein sollten. Schlimmer noch: Einige gehen so weit zu sagen, es sei unnatürlich, dass sie überhaupt existieren, da das „natürliche“ Ziel eines jeden Menschen sei, in einer heterosexuellen Partnerschaft Kinder zu bekommen.

Doch was hier als „Natur“ ausgegeben wird, ist in Wahrheit „Kultur“. Eine jüdisch-christlich geprägte Kultur, die die Familie als Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung festschreibt und jedem und jeder darin eine geschlechtsspezifische (und hierarchisch strukturierte) Rolle zuweist.

So sehr die Argumentation des EKS-Berichts in vielerlei Hinsicht befreiend ist, so kann sie doch auch unterdrückend wirken. Denn wenn dort gesagt wird: „Die Debatten über Reproduktion verdecken die eigentliche Erzählung – die des Kinderwunsches und seiner Erfüllung“, dann werden zugleich bestimmte Formen der Zeugung ausgeblendet, die von Gewalt geprägt sind.

Was ist mit den Opfern sexueller Gewalt? Was mit den Frauen, die mit der Verantwortung für ein Kind allein gelassen werden, weil Männer sich entziehen, lügen oder sich nicht zuständig fühlen, nachdem sie gezeugt haben?

Ist es wirklich ausreichend zu sagen:

„Was zählt, ist nicht, wer (sexueller Partner) oder was (sexuelle Beziehung) die Schwangerschaft verursacht, und auch nicht auf welchem Weg (Paarsex, Leihmutterschaft) sie zustande kommt – sondern allein, dass (Gott) das Kind schenkt, das die Frucht dieser Schwangerschaft ist“?

Der Kinderwunsch allein genügt oft nicht. Es gibt tausend berechtigte Gründe, eine Schwangerschaft abzubrechen. Heisst das, man lehnt ein Geschenk Gottes ab? Ich glaube: nein.

Ich bin überzeugt: Indem wir die Gewalt benennen, die die familiären Strukturen durchdringt, lernen wir, die richtigen Fragen zu stellen. Und statt einer Theologie, die über die Freiheit einzelner urteilt, träume ich von einer Theologie, die sich von den Herrschaftslogiken befreit, die sie geerbt und selbst reproduziert hat.

Denn der Wunsch nach einem Kind reicht nicht aus, um ein gesundes und liebevolles Umfeld für dieses Kind zu schaffen. Familie zu gründen bedeutet nicht zwangsläufig, ein Kind zu bekommen. Der Weg aus der Unterdrückung führt über die Anerkennung der Lebensformen von Menschen ohne Kinder – ob freiwillig oder nicht. Von Menschen, die ausserhalb traditioneller Familienstrukturen aufblühen. Von Menschen, die bis heute unter den patriarchalen Machtverhältnissen leiden, aus denen sich die Kirche nur langsam zu befreien vermag.

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Autor:in

Marie Duruz

Marie Duruz

Théologienne Doctorante en Nouveau Testament à l'Université de Lausanne

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