Johann Hinrich Claussen (Verlag C.H. Beck, München 2024)
Von André Malraux, dem Künstler und Kulturminister in einer Person, stammt der Begriff des „Musée imaginaire“, des imaginären Museums. Es geht ihm um das Ganze der Kunst, das gleichsam in unseren Köpfen entsteht – gerade als Vorstellung entfaltet es seine reale Wirkung. Um ein Ganzes in der Kunst geht es auch dem Kulturbeauftragten der Evangelischen Kirche in Deutschland, Johann Hinrich Claussen, in seinem Buch mit dem Titel „Gottes Bilder. Eine Geschichte der christlichen Kunst“.
Ist das nicht vermessen, auf 300 Seiten eine solche Geschichte zu schreiben? Es gelingt, das sei gleich vorab gesagt. Es kann aber nur deshalb gelingen, weil Claussen eine bestimmte Form der Darstellung wählt, die mich auch zu meiner Assoziation des Musée imaginaire geführt hat. Das Buch verzichtet sowohl auf eine wie auch immer zu bewerkstelligende Vollständigkeit als auch auf eine ziselierte Auffächerung eines kunsthistorischen Diskurses. Das Buch nimmt uns schlicht an die Hand und geleitet uns durch das imaginäre Museum dessen, was wir dann mit guten Gründen christliche Kunst nennen können.
Form und Inhalt dieses imaginären Museums stimmen überein: Das Buch ist nicht in Kapitel gegliedert (das ist es natürlich auch!), sondern es eröffnet „zwölf Säle“, in die es uns einlädt und mit sanfter und kundiger Hand führt.
Der erste Saal führt uns in die Bildwelten des antiken Israels. Und sofort begegnet uns das grosse Thema von Kunst, die sich auf die Bibel bezieht – nämlich das biblische Bilderverbot. An diesem Bilderverbot arbeitet sich die christliche Kunst bis auf den heutigen Tag ab und, so würde ich sagen, weitere Bereiche der säkularen Kunst ebenso. Wie lässt sich das, das alle Darstellung übersteigt, darstellen? Bereits die Tatsache, dass es im antiken Israel bildliche Darstellungen gab, zeigt, dass das Bilderverbot weniger als schlichtes Verbot verstanden wurde, sondern eher als ästhetische Regel, wie mit Bildern umzugehen ist.
Im zweiten Saal, in dem wir dem Christusbild der Anfangszeit begegnen, wird das Bilderverbot auf eine harte Probe gestellt: Wie lässt sich Christus – im Kolosserbrief so paradox wie reflektiert als „Bild des unsichtbaren Gottes“ bezeichnet – sachgerecht darstellen? Man spürt eine Zögerlichkeit dieser frühen christlichen Kunst, die sie so zart anmutend erscheinen lässt, und die zugleich ohne irgendwelche Berührungsängste gegenüber den Sujets der sie umgebenden antiken Kunstwelt ist.
Der dritte Saal führt uns dann – nein eben gerade nicht zuerst nach Europa – nach Syrien, Ägypten und Äthiopien. Dort entstehen die ästhetischen Bausteine, die dann – und damit betreten wir bereits den vierten Saal –, in Byzanz zu einer ersten grossen Blüte christlicher Kunst führen. Begleitet vom heftigsten theologischen Streit um die Legitimität der Bilder, den das junge Christentum bis dahin kannte.
Im fünften Saal treffen wir auf eher Vertrautes, die Bildhauerkunst des westeuropäischen Mittelalters. Es sind vor allem die grossen Kathedralen, die die christliche Kunst herausfordern und zu neuen Ufern führen.
Der sechste und der siebte Saal macht uns mit der christlichen Kunst der Renaissance bekannt. Verstanden sich die „Künstler“ des Mittelalters eher als ästhetische Handwerker, die sich am theologischen Gedanken und der religiösen Erfahrung abarbeiten, so tritt jetzt der neuzeitliche Künstler auf den Plan in seinem Anspruch, mit seiner genialischen Subjektivität nicht nur Vorhandenes einfach abzubilden, sondern als Künstler Neues kreativ zu erschaffen. Der Künstler als durchaus selbstbewusster Schöpfer tritt dem Schöpfergott an die Seite.
Im siebten und achten Saal begegnen wir dem Drama eines erneuten christlichen Schismas, dieses Mal zwischen dem römischen Katholizismus und dem neu entstehenden Protestantismus. Innerhalb dem lutherischen und reformierten Protestantismus bricht erneut der klassische Bilderstreit auf – kurioserweise auch (auch!) ausgetragen in Bildern. Und der römische Katholizismus antwortet mit den bunten und imposanten Bildern und Kirchbauten des Barock auf die neu entstehenden pluralen protestantischen Bildwelten.
Wenn wir den zehnten Saal betreten, befinden wir uns bereits im 19. Jahrhundert, nämlich im Zeitalter der Romantik. Wir begegnen dort einem – im Vergleich zur Renaissance – noch sehr viel radikaleren Schub der Subjektivierung von Kunst. Exemplarisch dafür stehen kann Caspar David Friedrich. Er bestreitet jetzt der Theologie den Alleinvertretungsanspruch für die Deutung theologischer Inhalte und religiöser Erfahrung. Jetzt ist es der Künstler, der den Anspruch erhebt, religiöse Erfahrung für seine Zeit sachgerecht zur Darstellung zu bringen.
Der elfte Saal steht unter der interessanten Überschrift „Erbauung im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“. Diese Überschrift ist zweifelsohne eine Hommage an Walter Benjamins berühmten Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit“, in dem dieser den Verlust der „Aura“ von Kunstwerken analysiert. Religiöse Erfahrung lebt jedoch von einer wie auch immer gearteten „Aura“ eines Heiligen oder Göttlichen. Und so versuchen Künstler*innen dieser Zeit, in ihren Werken eine subjektive „Innerlichkeit“ zur Darstellung zu bringen. Dies geschieht jedoch um einen hohen Preis. Denn nicht selten atmen diese Bilder die Ästhetik eines falschen Pathos oder gar des Kitsches. Authentizität gelingt nur in wenigen – allerdings dann beachtlichen – Ausnahmen.
Und dann haben wir auch schon den zwölften und letzten Saal erreicht, und befinden uns im 20. Jahrhundert. Nach verschiedenen Anläufen hat die Kunst der klassischen Moderne ihre vollständige Emanzipation von allen kirchlichen und theologischen Vorgaben erlangt. Und doch kann sie von der theologischen Erkenntnis und der religiösen Erfahrung nicht lassen. In den Bildern eines Alexej von Jawlensky ist das theologische Bilderverbot auf eigentümliche Weise ästhetisch präsent. Ein Marc Chagall knüpft vor seinem spezifisch jüdischen Hintergrund an die grosse Tradition der mittelalterlichen Glasmalerei an. Und die Katastrophen des 20. Jahrhunderts verlangten nach einer kühnen ästhetischen Erneuerung der traditionellen Sujets christlich-abendländischer Kunst.
So wie jedes Museum einen Ausgang hat, so hat auch unser imaginäres Museum seinen Ausgang. Zwei Fragen erwarten uns am Ausgang: Unser imaginäres Museum war geprägt von der Kunst des Vorderen Orients und Europas. Heute lebt die Christenheit in weltweiter Verflochtenheit. Wie wird die Kunst dieses weltweiten Christentums in all seiner Vielfalt und Pluralität aussehen? Und wie wird sich eine christliche Kunst verorten in einem Umfeld der Säkularisierung auf der einen und boomender neuer Religionsformen auf der andren Seite? Der Autor unseres imaginären Museums, Johann Hinrich Clausen schüttelt uns am Ausgang die Hand und gibt uns seine Überlegungen dazu mit auf den Weg: Es wird – so sagt er uns zum Abschied – „die Bilderfrage für das Christentum ihre zentrale Bedeutung behalten. Und zwar nicht nur, weil Bilder ein unverzichtbares kommunikatives und didaktisches Instrument sind – gerade in einer so visuellen Epoche wie der gegenwärtigen –, sondern weil auch die neuen Christentümer für sich klären müssen, wie sie sich verstehen und darstellen wollen. Deshalb müssen sie sich ein Bild von sich selbst, ihrem Glauben, ihrer Gemeinschaft, ihrem kulturellen Auftrag machen. Das Wort und der Geist werden nicht genügen. Zu welchen Ergebnissen die charismatischen oder evangelikalen Bewegungen in Afrika oder Asien kommen werden, ist noch nicht absehbar – Grund genug, neugierig zu sein.
Ob die Kunstwelt in Zukunft an religiösen Fragen und christlichen Motiven interessiert sein wird, mag sie selbst entscheiden. Von den meisten, die Kunst schaffen, handeln, vermitteln oder verwalten, ist dies eher nicht zu erwarten. Distanz zu allem Überweltlichen, vor allem bestimmt Religiösen oder gar Kirchlichen, scheint für weite Teile des Betriebs und seines Milieus selbstverständlich zu sein, obwohl in den vergangenen Jahren auch ein neues Interesse an «Spiritualität» zu beobachten ist. Deshalb sollten wir nicht ausschließen, dass es auch weiterhin Grenzgängerinnen und -gänger geben wird, denen es ein Anliegen bleibt, dass Bilder nicht nur für sich selbst stehen, sondern etwas anderes durchscheinen lassen oder über sich hinausweisen.“ (S. 290f.)
Und ein Letztes: Johann Hinrich Claussen hat nicht nur ein kluges und kenntnisreiches Buch geschrieben, sondern vor uns liegt auch ein ungemein schönes Buch. Das Schriftbild und die vielen Bilder laden zum nachdenklichen Verweilen ein. Man muss das Buch nicht am Stück lesen, sondern kann darin im eigenen Zeitrythmus blättern und flanieren. Kurz – ein schönes Geschenk für sich selbst und Andere.
Albrecht Grözinger ist evangelischer Pfarrer und Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Basel.