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Rassen-, feministische und egalitaristische Politiken haben zu Absurditäten, Ungerechtigkeiten und Sackgassen geführt. Yascha Mounk legt in seinem jüngsten Werk eine fundierte Abrechnung mit dem Wokismus vor – ein zu vager Begriff, den er durch das Konzept der „identitären Synthese“ präzisiert. Seine Argumentation – eine historisch fundierte und detaillierte Analyse – ist ein Plädoyer für den Universalismus, allerdings stark US-zentriert und stellenweise wenig nuanciert.
Yascha Mounk, 1982 in München geboren, ist ein junger, brillanter Politologe, eingebürgert in den USA. In seinem Buch erinnert er daran: Seine Urgroßeltern wurden ermordet, weil sie Juden waren, seine Großeltern verloren im Holocaust fast ihre gesamte Familie, seine Eltern – ein polnisch-jüdischer Vater und eine deutsche, christliche Mutter – erlebten den Kalten Krieg und wanderten in die USA aus. Dieser Hintergrund prägte seinen akademischen Werdegang, der sich mit Populismus, Demokratie und Identität auseinandersetzt. Eines seiner früheren Werke, Das Volk gegen die Demokratie, analysierte treffend eine wachsende Dichotomie: populistische Demokratien, in denen liberale Werte untergraben werden (z. B. Ungarn unter Viktor Orbán), und liberale Demokratien, die insbesondere ökonomisch den Erwartungen der Bürger nicht mehr gerecht werden – was populistische Bewegungen attraktiv macht (z. B. in Westeuropa). Heute lehrt Mounk an Sciences Po Paris, ist Professor an der Johns Hopkins University und schreibt Kolumnen für die New York Times.
Das Buch ist eine ausführliche, aber gut strukturierte Darstellung – jedes Kapitel endet mit einer kurzen Zusammenfassung der Kernthesen. Der historisch fundierteste und quellenreichste Teil analysiert, wie sich die „identitäre Synthese“ entwickelt hat. Mounk sieht ihren Ursprung in den 1960er-Jahren bei Denkern wie Michel Foucault, Edward Said oder Kimberlé Crenshaw. Aus deren Arbeiten leitet er Prinzipien ab, die sich besonders an Universitäten durchgesetzt haben (S. 92 ff.): Zweifel an objektiver Wahrheit, die deshalb als unerreichbar abgelehnt wird; Diskursanalyse mit dem Ziel, „die Welt durch eine andere Beschreibung zu verändern“; die Auffassung, dass Identitätsmarker wie „Rasse“, Geschlecht und sexuelle Orientierung soziale Konstrukte seien (S. 95). Daraus ergeben sich unter anderem:
a) Strategischer Essentialismus – die Förderung von Selbstzuschreibungen (z. B. als Schwarz oder trans), um identitäre Widerstandsgemeinschaften zu bilden (S. 96);
b) pessimistische Grundhaltung, der zufolge Rassismus eine permanente Bedingung sei oder Amerika sich nur durch Revolution bessern könne (S. 97);
c) Identitätspolitische Gesetzgebung – da westliche Demokratien in letzter Zeit keinen Fortschritt in Richtung Gleichheit erzielt hätten, könne nur gezielte, „farbenbewusste“ Politik Abhilfe schaffen (S. 98–99);
d) Intersektionalität als politisch-ethische Verpflichtung, jede Form von Unterdrückung gleichzeitig zu bekämpfen;
e) die „Standpunkttheorie“, wonach jede*r eine eigene Wahrheit habe, die niemand infrage stellen dürfe (S. 102).
Diese Ideen eroberten laut Mounk zunächst die Hochschulen, etwa durch neue Departments für Gender Studies, kritische Medienwissenschaften, African American Studies, Disability Studies etc. In einem zweiten Teil zeigt Mounk, wie diese Ideen durch soziale Medien ab den 2000er-Jahren Mainstream wurden – über Plattformen wie Tumblr oder neue digitale Medien, die klassische Institutionen herausforderten. „Gegen Ende der 2010er-Jahre hatten diese Konzepte den Denkrahmen eines großen Teils der US-Bevölkerung verändert“, insbesondere bei „gebildeten weißen Amerikaner*innen“ (S. 133), bis sie zu einer „identitären Orthodoxie“ wurden (S. 169). Ein lesenswerter Abschnitt (S. 163–169) analysiert Gruppendynamiken: wie Peer-Druck kollektive Radikalisierung fördert und interne Abweichungen unterdrückt.
In der dritten, teils trockeneren Analyse zeigt Mounk auf, wie die „identitäre Synthese“ in praktische Sackgassen führt – und oft ins Gegenteil dessen, was sie intendiert. Er kritisiert u. a. die „Standpunkttheorie“ (S. 201), da erfahrungsbasiertes Wissen nicht immer kommunizierbar sei. Ebenso problematisch sei das Konzept der kulturellen Aneignung, das auf einer schwammigen Idee kollektiven Eigentums beruhe (S. 219). Er warnt vor Angriffen auf die Meinungsfreiheit, die diese neue linke Orthodoxie auslöse, und zeigt Schwächen bei Begriffen wie strukturellem Rassismus oder Geschlechtsidentität – wobei Letzteres diskussionswürdiger bleibt. Besonders deutlich wird seine Kritik am progressiven Separatismus, etwa bei eigenständigen Wohnheimen für Schwarze (S. 277). Mounk betont: Menschen seien soziale Wesen, doch um Vorurteile zu reduzieren, brauche es vier Bedingungen: gleichen Status, gemeinsame Ziele, Zusammenarbeit und fördernde Autoritäten (S. 277). In einem weniger überzeugenden Schluss plädiert Mounk für Universalismus und Liberalismus als Grundlage einer „blühenden Gesellschaft“ (S. 351) – ein diskutabler Punkt. Immerhin versucht er, praktische Tipps zu geben, um „der Identitätsfalle zu entkommen“ (S. 369 ff.): keine Scham empfinden, nicht verteufeln, sich an frühere Allianzen erinnern, eine gemäßigte Mehrheit ansprechen, mit Gegner*innen der identitären Synthese kooperieren – darunter auch Religionen wie das paulinische Christentum (S. 378), ohne deswegen reaktionär zu werden. Organisationen empfiehlt er (S. 381 ff.): Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen einzufordern, alle zu Wort kommen zu lassen, Angriffe in sozialen Medien zu unterbinden, keine Sanktionen vor Faktenklärung zu verhängen, sich nicht vorschnell zu entschuldigen… viel gesunder Menschenverstand, könnte man sagen.
Die Stärke des Buches liegt in der Rückverfolgung der theoretischen Entstehung der „identitären Synthese“ und in der strukturierten, größtenteils differenzierten Kritik – auch wenn nicht alle Argumente gleich überzeugend sind und sich fast alle auf die USA beziehen. Irritierend bleibt die dauernde Verwendung des Begriffs „identitäre Synthese“, als handle es sich um ein kohärentes, systematisiertes und unumstrittenes Gedankengebäude. Vielleicht ist das in den USA so. Doch von progressiven Aktivist*innen selbst wird der Begriff nicht verwendet – möglicherweise eine allzu pauschale Etikettierung verschiedener aktivistischer Praxen. Zudem führt Mounk die Verbreitung dieser Ideen fast ausschließlich auf soziale Medien zurück – man könnte jedoch auch das Scheitern liberaler Demokratien bei der Bekämpfung von Ungleichheit als Ursache sehen. Zwar weist Mounk selbst darauf hin, dass die identitäre Falle „eine utopische Vision einer gerechten, perfekten Gesellschaft“ sei (S. 378). Vielleicht ist aber die aktuelle politische Lage die stärkste Kritik am Buch: Der konservative Backlash – besonders in den USA – legt nahe, dass die progressiven Jahre der 2010er nur ein kurzes Intermezzo waren – mit ihren Übertreibungen, die Mounk treffend analysiert. Aber vielleicht keine echte Orthodoxie.
Yascha Mounk, Im Zeitalter der Identität. Der Aufstieg einer gefährlichen Idee, Klett-Cotta Verlag, 512 Seiten, 2024 (Rezensionsexemplar war die französische Version des Buches)
Camille Andres ist Journalistin beim Westschweizer Monatsmagazin Réformés und Leiterin des Farel-Preises (Internationales Festival für ethischen, religiösen und spirituellen Film).
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