Über das Sterben in der Designerkapsel
«Dieses ausgezeichnete Hotel ist sehr alt, schon zu König Chlodwigs Zeiten starb man darin in eigenen Betten. Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmässig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch etwas auf einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich doch leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben. Gott, das ist alles da. Man kommt, man findet ein Leben, fertig, man hat es anzuziehen. Man will gehen oder man ist dazu gezwungen: nun, keine Anstrengung: Voilà votre mort, monsieur.»
Rainer Maria Rilke
1. Der Anlass
Die Idee zu dem Superhit «Killing Me Softly», der Roberta Flack 1974 drei Grammys einbrachte, war Lori Liebermann während eines Konzerts von Don McLean zwei Jahre zuvor gekommen. «Strumming my pain with his fingers, / Singing my life with his words, / Killing me softly with his song». Im Refrain des Lieds hält der von Liebeskummer geplagte Sänger der unglücklichen Kollegin den Spiegel vor und zieht sie sanft klimpernd in den Gefühlsabgrund. Wogegen sie sich verzweifelt wehrt, wird von Philip Nitschke und Fiona Stewart in ihrem 2005 erschienenen Buch «Killing Me Softly. Voluntary Euthanasia and the Road to the Peaceful Pill» gerade angestrebt: die sanfte Selbsttötung. Das australische Paar, er Physiker und Arzt (bis zur medienwirksamen Verbrennung seiner Approbation), sie Juristin und Soziologin, gründeten die Pro-Euthanasia-Group «Exit International» und publizieren das suizidtechnische Manual «The Peaceful Pill Handbook», das zwischen 2008 und 2022 in mehreren Auflagen erschien. Nitschke ist als Erfinder von Do it yourself-Tötungsmaschinen (DIY death machines) bekannt geworden, ein makabrer Handelsreisender in Sachen Suizidtechniken und geschäftstüchtiger Selbstdarsteller mit eindeutiger Mission: Menschen ihre Selbsttötung warum immer, wann immer und wo immer sie wollen zu ermöglichen. Bei ihm verliert der Tod jede Menschlichkeit zwischen Ungewissheit, Angst, Verzweiflung, Flucht und Erlösung und reduziert sich auf die Frage seiner technisch perfektionierten Herstellung. Die Logik ist bestechend einfach: Wenn Sterben und Tod technische Probleme sind, können sie auch technisch gelöst werden.
Nitschkes technokratischer Umgang mit dem Tod lässt selbst die in Sachen Suizidhilfe tiefenentspannte schweizerische Gesellschaft im medialen Sommerloch für einen Moment aufhorchen. Am 17. Juli 2024 fand in Zürich eine vielbeachtete Pressekonferenz statt, an der Stewart, Nitschke und Florian Willet die Suizidkapsel «Sarco» offiziell vorstellten, die Gründung der schweizerischen Suizidhilfeorganisation «The Last Resort» zum Zweck der Verbreitung von «Sarco» bekanntgaben und ankündigten, die futuristische Gaskabine demnächst in der Schweiz einsetzen zu wollen. Das 2017 gemeinsam mit dem holländischen Designer Alexander Bannink entwickelte «3D-printed pod» wurde bisher nur als Kunstobjekt auf Ausstellungen präsentiert, weil seine eigentliche Verwendung immer wieder verschoben werden musste. Nitschke stilisiert sich in der Presse als «Elon Musk of assisted suicide» und «the Sarco» als «his Tesla». Die smarte Sportwagenästhetik der Suizidkapsel (bereits der nach dem Zweiten Weltkrieg gebaute Messerschmitt Kabinenroller wurde wegen seiner Glaskuppel «Schneewittchensarg» genannt) erinnert an das Design der US-amerikanischen Elektroautos, deren Antriebsaggregate im Gegensatz zu Verbrennungsmotoren – um den Zynismus auf die Spitze zu treiben – keine im geschlossenen Raum todbringenden Abgase mehr erzeugen können. Die gleiche Zuverlässigkeit, die moderne Sicherheitssysteme den Fahrzeuginsass:innen heute bieten, verspricht »Sarco» auch für die Ausfahrt aus dem Leben.
Die aktuelle Diskussion hat eine Vorgeschichte. Im Dezember 2021 sorgte swissinfo mit der Falschmeldung «Sarco suicide capsule ‹passes legal review› in Switzerland» weltweit für Aufsehen. Als der Online-Dienst der SRG zwei Tage später korrigierte «Sarco suicide capsule hopes to enter Switzerland», war die internationale Debatte bereits in vollem Gang. Nitschke selbst stellte klar, dass er sich nicht um eine offizielle rechtliche Zulassung bemüht habe, weil sie gemäss des Gutachtens eines ehemaligen Lehrstuhlinhabers für Infrastrukturrecht und neue Technologien der TU Bergakademie Freiberg unnötig sei und ergänzte: «Letztes Jahr haben wir uns über die Rechtmässigkeit des Einsatzes von ‹Sarco› in der Schweiz bei der Sterbehilfe beraten lassen. Diese Prüfung ist abgeschlossen. Wir sind sehr zufrieden mit dem Ergebnis und dass wir nichts übersehen haben. Es gibt überhaupt keine rechtlichen Probleme.» Unabhängig von den jüngsten behördlichen Verboten in den Kantonen Wallis und Schaffhausen kursieren in den Medien unterschiedliche rechtliche Beurteilungen: BBC zitiert den verstorbenen St. Galler Medizinrechtler Daniel Hürlimann, «that the pod is not covered by Swiss law», weil er weder unter das Heilmittelgesetz falle, noch gegen die gesetzlichen Bestimmungen über die Verwendung von Stickstoff, Waffen oder Produktsicherheit verstosse. Dagegen stellt «Sarco» für die Zürcher Medizinerin und Juristin Kerstin Noëlle Vokinger und den stellvertretenden Walliser Kantonsarzt Cédric Dessimoz einen Fall für das Heilmittelgesetz bzw. Swissmedic dar. Und für den Ersten Schaffhauser Staatsanwalt Peter Sticher habe die Anwendung der Suizidkapsel «zwingend» die Einleitung eines Strafverfahrens zur Folge.
So kontrovers die juristische Beurteilung ausfällt, so unklar und diffus sind die Gründe für die weltweite Empörung. Es genügt nicht, Nitschke einen egozentrischen und verrohten Präferenzutilitarismus vorzuwerfen, wie Jahrzehnte zuvor dem australischen Philosophen Peter Singer für seine heftig umstrittenen Thesen zur Euthanasie an Neugeborenen und Personen mit schwersten Behinderungen. Über Geschmack(losigkeit) lässt sich streiten und Nitschkes Mission wird auf den ersten Blick von der liberalen Maxime des Schweizer Philosophen Hans Saner gestützt: «Kein Dritter kann mich zum Weiterleben verpflichten, wenn ich sterben möchte, und kein Dritter hat ein Recht, mich zu töten, wenn ich am Leben bleiben möchte.» Der Schutz der persönlichen Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte geht prinzipiell in beide Richtungen und gilt deshalb für beide Optionen resp. Konsequenzen. Dass sich ein moralischer Paternalismus mit der Anerkennung subjektiver Freiheiten schwertut, ist unbestritten, aber noch kein Gegenargument. Trifft die liberal-individualistische Grundhaltung zu, stellt sich die Frage, warum die liberale Gesellschaft der Behauptung Saners weitgehend zustimmt, während sie Nitschkes Anliegen, von dieser Freiheit auch tatsächlich Gebrauch machen zu können, vehement ablehnt. Was steckt hinter der Empörung, die sich dazu versteigt, Philip Nitschke mit «Dr. Tod» zu titulieren, dem Übernamen von Josef Mengele, dem an Grausamkeit nicht zu überbietenden Arzt im Vernichtungslager Ausschwitz?
2. Technica moriendi
Hilfreich für eine Antwort ist ein Blick auf die Konstruktion und Funktionsweise der Suizidmaschine «Sarco». Nitschke wollte «ein Gerät herzustellen, das nicht nur gut funktionieren, sondern auch gut aussehen sollte. Es sollte dem Benutzer einen stilvollen und eleganten Abgang bieten. Die Sarco-Kapsel wurde so entworfen, dass sie wie ein Fahrzeug aussieht, das den Eindruck einer Bewegung (in eine neue Welt) vermittelt. Die Person liegt zurückgelehnt in dem ästhetisch ansprechenden ‹Sarkophag› (oder Totengruft). Sarco bietet eine schöne Möglichkeit, sich von der Erde zu verabschieden und schafft ein feierliches Overlay für diesen wichtigsten aller Tage.» Die DIY-Suizidkapsel biete «eine legale, entmedikalisierte Möglichkeit für einen friedlichen do it yourself-Tod. Sarco verwendet keine illegalen Drogen oder Substanzen und benötigt keine speziellen medizinischen Kompetenzen oder Erfahrungen. Eine Person kann sich die Pläne besorgen und das Gerät selbst herstellen.» »Sarco» besteht aus einem Sockel, der das Energieaggregat, den Generator und den Tank mit Flüssigstickstoff enthält, einem Gas, das auch für die Kryokonservierung von Blut, Samen-, Eizellen und Embryonen und von verstorbenen Personen, die auf eine zukünftige Wiederbelebung hoffen, verwendet wird. Auf dem Sockel befindet sich eine im oberen Körperbereich erhöhte und durchsichtige Kabine, in der eine Person in leicht schräger Haltung liegen kann. Die Kapsel wird mit einem Zahlencode geöffnet und enthält im inneren ein Display und einen Knopf zur Aktivierung der Gaszufuhr. Nitschke und Stewart erklären, dass der Sauerstoffgehalt in der Kapsel durch das Einführen von 35 Litern Stickstoff pro Sekunde innerhalb von 4 Sekunden unter 1 % sinken und die Person in kürzester Zeit das Bewusstsein verlieren würde. Da «Sarco» aus dem 3D-Drucker stammt, ist auch die Verwendung von abbaubaren Biomaterialien möglich, sodass die Kapsel gleichzeitig als Sarg verwendet werden kann.
Der «Sarco» funktioniert wie der «Exit-bag», bei dem der Tod durch Ersticken (Asphyxie) in Folge des Unterbruchs der Sauerstoffzufuhr und der Gabe eines Edelgases eintritt. Prominente Verfechter der «Exit bag»-Methode sind Derek Humphrey in seinem Bestseller «Final Exit» von 1991 und Ludwig Minelli, der 2008 vier «Exit bag»-Suizide filmte und die Videos anschliessend der Zürcher Staatsanwaltschaft übergab. Das Erscheinen von Humphreys Buch hatte zu einem starken Anstieg der Suizidrate in New York und bei Personen mit psychischen Erkrankungen geführt. Medizinische und toxikologische Untersuchungen belegen, dass Erstickungsgefühle nicht durch einen Sauerstoffmangel, sondern durch eine Kohlenstoffdioxidkonzentration über 0.5 bis 1.0 % unvermeidbar auftreten, die nur durch eine hohe Konzentration von Helium oder Stickstoff unterdrückt werden können. Unklar ist die Wirksamkeit der verwendeten Gase. Bei den vier Personen, die mit Dignitas durch die «Exit bag»-Methode (mit Helium) starben, variierte der Zeitpunkt des Eintretens der Bewusstlosig-keit zwischen 36 und 55 Sekunden und der Zeitpunkt des Todeseintritts zwischen 5 und über 40 Minuten.
Bei der Entwicklung von «Sarco» hatte Nitschke die Schweiz mit ihrer liberalen Rechtslage als bevorzugtes Einsatzgebiet im Blick. Für 60 US-Dollars bietet die Homepage von «Exit International» einen einjährigen Lesezugriff auf die umfangreiche Broschüre «Going to Switzerland: how to plan your Final Exit» an. Beworben wird die Publikation als «das einzige Buch seiner Art, das Schritt für Schritt erklärt, wie und warum Personen aus dem Ausland in der Schweiz Sterbehilfe erhalten können». Obwohl «Sarco» darauf zielt, eine ärztliche Beteilung und Beurteilung zu umgehen, soll das Gerät bestimmten schweizerischen Standards genügen. Deshalb ist die aktuelle Version mit einem Öffnungs-Code versehen, der für 24 Stunden von der Organisation vergeben wird. Darüber hinaus befindet sich im Gerät ein Display auf dem drei Fragen erscheinen, die beantwortet werden müssen, damit es aktiviert werden kann, und deren Antworten zur Absicherung aufgezeichnet werden. Die Fragen lauten: «1. Who are you? 2. Where are you? 3. What will happen if you press the Sarco green button?» In einer Weiterentwicklung soll der Zugang mit einem «AI mental capacity test» gekoppelt werden.
3. Wertkonfusionen
Die Präsentation von «Sarco» wie ein x-beliebiges technisches Designartefakt wirkt makaber und pietätlos. Der Gerätezweck verschwindet fast vollständig hinter seiner Vermarktung als eine Art Wellnessinsel. Allerdings wäre dieser Einwand ähnlich oberflächlich und unehrlich wie die Sache selbst. Die Debatte über «Sarco» demonstriert die ambivalente Gleichzeitigkeit des Eintretens für Selbstbestimmung bei Fragen des eigenen Lebens und Sterbens und der Empörung über die Art und Weise, wie diese Freiheit in Anspruch genommen wird oder werden kann. Muss, wer das eine behauptet, auch das andere akzeptieren und heiligt der Zweck (die Wahrnehmung der Entscheidungsfreiheit über das eigene Leben und Sterben) die Mittel (die Art und Weise, das eigene Leben zu führen und zu beenden)? Oder kann die Wahl der Mittel die grundsätzliche Legitimität des Zwecks in Frage stellen und dem Gebrauch der eigenen Freiheit(srechte) Grenzen setzen? Das sind ethische Fragen, die nicht verfahrenstechnisch oder -rechtlich beantwortet werden können (Heilmittelgesetz, Swissmedic, Datenschutz). Sie erfordern eine Reflexion darüber, wie konkrete Urteile, Entscheidungen und Handlungen in den umfassenden Zusammenhang des Freiheitsgebrauchs eines humanen, sozial integrierten und erstrebenswerten guten Lebens integriert werden können.
Der Wirbel um «Sarco» ist das Symptom einer aktuellen Gesinnung, die die fundamental interpersonalen Dimensionen jeder noch so persönlichen Entscheidung und alle Fragen nach dem guten Leben entweder als unzulässige Übergriffigkeit oder als religiösen resp. medizinischen Paternalismus verteufelt. Wäre es so, dann wäre die Sache klar, weil es nicht um das Leben ginge, in dem und als das Personen existieren, das sie erstreben, gestalten, erhoffen, erleiden und an dem sie verzweifeln können. Nichts von all dem ginge verloren, wenn es in der Kapsel vergast würde, weil niemand verlieren kann, was es nicht gibt (weshalb aus dieser Perspektive tatsächlich nichts gegen die Anwendung der Suizidkapsel spricht). Das eigentliche Unbehagen gegenüber «Sarco» besteht nicht darin, dass es die Leben, die Personen führen, in ein seltsames Licht rückt, sondern dass das menschliche Leben gar nicht vorkommt, weil es vollständig hinter einem reduktionistischen Konstrukt und den biologischen Reaktionen auf eine technisch hergestellte Luft-Gasgemisch-Umwelt verschwindet. Umgekehrt macht genau diese Verkürzung die heimliche Attraktivität der Selbsttötungsmaschine aus: Wenn nur genug vom menschlichen Leben subtrahiert und ausgeblendet wird oder werden könnte, würde sich tatsächlich jene smarte Leichtigkeit einstellen, die Nitschke in Aussicht stellt und die wir im Blick auf unser eigenes Sterben gerne hätten.
Optionsgesellschaften produzieren enorme Bewertungszumutungen und Wertkonflikte. Wer über mehr Möglichkeiten verfügt, ist zu strengerer Selektivität genötigt. Es ist einfacher, ein Kuchenstück aus zwei als aus zwanzig Torten auszuwählen. Ständig muss be-, gewertet und verglichen werden, nicht nur in Bezug auf ein einziges, sondern eine Fülle von Wertsystemen. Eine erfolgreiche Ärztin muss keine gute Partnerin sein und ein begnadeter Tennisspieler kein guter Koch. Die Bewertungsmassstäbe unterliegen selbst einer Beurteilung im Blick auf den Bewertungszweck. Die Gewichtung zwischen den medizinischen Kompetenzen und der Beziehungsfähigkeit oder zwischen der Sportlichkeit und den Kochkünsten einer Person hängt entweder davon ab, ob die bewertende Person im Spital liegt oder eine Familie gründen will, oder davon, ob sie nach einem Werbepartner für Tennisschläger sucht oder die angenommene Essenseinladung schadlos überstehen will. Die Wertmassstäbe können konfligieren oder Priorisierungen verlangen oder Kompromisse nötig machen oder in unlösbare Dilemmata führen oder falsch sein. Etwas liefe komplett schief und die Enttäuschung wäre vorprogrammiert, wenn eine Person aufgrund ihrer Kochkünste einen Profivertrag im Tennis oder wegen ihrer partnerschaftlichen Treue eine Spitalanstellung erhielte. Der Volksmund weiss, dass Äpfel nicht mit Birnen verglichen werden können – aber was, wenn sich die Äpfel und Birnen nicht unterscheiden, weil sie (auf den ersten Blick) völlig gleich aussehen?
3.1 Der Exit Reliabilty-Peacefulness Test
Um Bewertungen geht es auch in der Diskussion um «Sarco». Nitschke und Stewart haben einen «Exit Reliability-Peacefulness Test» entwickelt, mit dem sie die von ihnen vorgestellten Substanzen für die Selbsttötung bewerten und abschliessend in einer Überblickstabelle skalieren. Der Test besteht aus einem Punktesystem, bei dem nach zwei unterschiedlich gewichteten Taxonomien Punkte vergeben werden, die eine Gesamtpunktzahl für jede Methode ergeben. Mit maximal 10 Punkten werden die primären Kriterien «Zuverlässigkeit» (reliabilty) und «Sanftheit» (peacefulness) bewertet. Die Referenzgrösse bildet das Barbiturat Pentobarbital (Nembutal©) mit dem maximalen Zuverlässigkeits- und Sanftheitswert von jeweils 10 Punkten. Maximal 5 Punkte werden für sechs sekundäre Kriterien vergeben, die «zwar von geringerer Bedeutung [sind], dennoch sehr erwünschte Eigenschaften einer Sterbemethode» betreffen: Vorbereitung und Verabreichung (preparation and administration), Nichtnachweisbarkeit (undetectability), Schnelligkeit der Wirkung (speed of effect), Sicherheit für andere (safety to others), Lagerung/Haltbarkeit (storage/shelf life) und Rechtmässigkeit (legality). Das in der Schweiz verwendete Natrium-Pentobarbital erhält die höchste Punktzahl (trotz 0 Punkten bei der Bewertung der internationalen Rechtmässigkeit aufgrund des offiziellen Verbots in den allermeisten Ländern). Die bei «Sarco» und dem «Exit bag» verwendeten Inertgase (Stickstoff und Helium) werden im Blick auf die Zuverlässigkeit und Sanftheit mit 8 bzw. 7 Punkten bewertet, können die geringere Bewertung aber durch ihre legale und freie Verfügbarkeit weitgehend kompensieren.
Interessant sind an dieser Stelle nicht die nebulösen Bewertungsgrundlagen, sondern die Wahl und das Ranking der Beurteilungskriterien. Dazu drei Bemerkungen:
(1.) Nachvollziehbar ist die hohe Gewichtung der Zuverlässigkeit und Sanftheit der Methode (einmal abgesehen von der Frage, was eine Methode oder Technik «sanft» bzw. «friedfertig» macht), die aber mit der faktisch am niedrigsten gerankten Rechtmässigkeit kollidiert. Können Zuverlässigkeit, Sanftheit oder auch Friedlichkeit sinnvoll für eine Praxis behauptet werden, die (a) durch kein Recht geschützt und flankiert ist, (b) von Leistungen Dritter abhängt, die sich jeder offiziellen Überprüfung und Kontrolle entziehen, (c) aufgrund ihrer Illegalität in einer subversiven Umgebung stattfinden muss und (d) ständig dem Risiko ausgesetzt ist, aufzufliegen (und die persönlichen, gesundheitlichen und rechtlichen Folgen tragen zu müssen)? Wenn wir im Leben verantwortungsvoll darauf achten, die Unsicherheiten solcher schutzlosen, unvertrauten und bedrohlichen Situationen und Räume zu vermeiden, warum sollten wir sie dann im Sterben akzeptieren und anstreben?
(2.) Die technische Zuverlässigkeit und Sanftheit der Suizidtechnik beruhigen und beseitigen nicht die Zweifel und Skrupel bei der Entscheidung über ihre Anwendung. Die technische Funktionsfähigkeit trägt nichts dazu bei, was einer Person ihre Entscheidung für sich selbst gewiss macht. Mit der Äusserung «Ich würde mein Leben beenden, wenn ich über eine sichere, schnelle und schmerzfreie Methode verfügen würde» sagt eine Person nichts über die Gründe für ihren Sterbewunsch aus. Das gilt auch im umgekehrten Fall: Wenn die Bedingungen eintreten und die Person dann sagt, «Ich werde mein Leben jetzt beenden, weil ich nun Zugang zu einer solchen Methode habe» hätte sie anstelle einer Begründung ihres Suizidwunsches einen grammatischen Bezugsfehler begangen. Denn die zweite Satzhälfte betrifft die Mittelwahl und begründet nicht den in der ersten Satzhälfte genannten Zweck, für den die gewählte Methode ein passendes Mittel darstellt. Entscheidend kommt es darauf an, was bewertet wird (darauf beruht Kants Unterscheidung zwischen einem Arzt und einem Giftmischer, die die gleichen Techniken anwenden), und dass die Bewertungsebenen nicht verwechselt oder konfundiert werden. Was ein friedvolles Sterben und einen sanften Tod für eine Person wünschenswert und wertvoll machen, hat nichts mit der Funktionsweise einer Technik oder Methode zu tun. Eine medizinische Schmerztherapie in einer terminalen Krankheitsphase besänftigt oder befriedet nicht die tragische Krankheitsursache und niemand käme auf den Gedanken, von der lindernden und sedierenden Wirksamkeit der verabreichten Substanzen auf die Sanftheit und Friedlichkeit des Sterbens der Person zu schliessen. Um so zynischer ist die Rhetorik von Nitschke und Stewart, mit der sie Wertbegriffe umadressieren und inkommensurable Wertungskontexte manipulativ kurzschliessen. Ihre positiven Werte der Zuverlässigkeit und Sanftheit greifen nur dann, wenn eine Person ihr Leben und ihre Lebendigkeit selbst als technische Artefakte begreifen würde, die anhand technischer Bewertungen qualifiziert werden könnten.
(3.) Auf den ersten Blick seltsam mutet das Kriterium der Nichtnachweisbarkeit an. Nitschke und Stewart erklären: «Einige Personen wollen ihr Leben so beenden, dass ihr Tod als Ergebnis einer ‹natürlichen› Ursache angesehen wird. In diesem Fall ist es wichtig, eine Methode zu wählen, die nicht nachweisbar ist. Deshalb wurde das Kriterium der Nichtnachweisbarkeit in den RP-Test aufgenommen.» Unabhängig von der Plausibilität des Wunsches dürfte ein wesentlicher Grund in der internationalen Rechtslage bestehen, die die Verwendung der von Nitschke und Stewart vorgestellten Selbsttötungsmethoden weitestgehend verbietet. Die Nichtnachweisbarkeit schützt die illegale Handlung vor ihrer Entdeckung und möglichen Sanktionen für unterstützende Personen (und stimmt darin mit der Idee des perfekten Verbrechens überein). Allerdings widerspricht die Strategie, das freiwillentliche und wohlüberlegte Handeln einer Person unsichtbar und damit nicht rückverfolgbar zu machen, vollständig der propagierten Behauptung von der Selbsttötung als ultimativer Ausdruck personaler Selbstbestimmung und Freiheit und hat zwei höchst fragwürdige Konsequenzen:
(a) Die Strategie der Nichtnachweisbarkeit verlangt eine Ablösung des Handelns von der handelnden Person, sodass der Tod nicht mehr als das angestrebte Ziel ihres Handelns erkennbar ist. Die Person radiert sich selbst als identifizierbares Handlungssubjekt aus. Sie stirbt zwar durch die eigene Hand aber im Wissen, von niemandem als diese handelnde Person identifiziert werden zu können. Die Neutralisierung der Tat eines Handlungssubjekts als «natürliches» Ereignis lässt die Person im Status der Nichtauthentizität, Nichtidentifizierbarkeit, Nichtzurechenbarkeit und Verantwortungsverweigerung sterben.
(b) Das Verschwinden des Subjekts der Selbsttötungshandlung hat massive Folgen für die Lebenden. Ein Tod ohne Ursache ist ein schicksalhafter, «natürlicher Tod» oder das Resultat eines perfekten Verbrechens. Wenn keine Ursache identifiziert werden kann, kommt grundsätzlich jede Verursachung in Frage, die nicht explizit ausgeschlossen werden kann. Schwerer als solche kriminalistischen Spekulationen (und Verdächtigungen) wiegt der Widerspruch, dass die verstorbene Person ihr Leben aus Gründen beendet hat, während ihr Tod für alle Hinterbliebenen nur als grundloser Schicksalsschlag gesehen werden kann. Personen können die Gründe anderer teilen oder kritisieren, verstehen oder darüber hadern und über Gründe streiten. All das fällt weg, wenn es keine identifizierbare Todesursache gibt, von der auf ein veranlasstes, motiviertes und begründetes Handeln der verstorbenen Person zurückgeschlossen werden kann. Anlässe, Motive und Gründe gehören in die Sphäre der Kommunikation, die Art und Weise, wie sich Menschen verständigen, mitteilen und darüber Sozialität generieren, bestätigen und stabilisieren. Der Tod ohne (nachweisbare) Ursache ist die perfekte Negation der Sozialität, die seit Aristoteles die Menschen überhaupt zu Menschen macht, und damit die anthropologisch unwirklichste Einsamkeit sowohl für die Sterbenden als auch für die Weiterlebenden.
3.2 Zwischen Design und Moral
Die Präsentation von «Sarco» in der Verbindung von smart-futuristischem Hochglanzdesign und sachlich-unterkühlten technischen Details erinnert eher an das Produktmarketing von Möbelmessen und Autosalons als an die Art und Weise, wie wir gewohnt sind, mit Sterben und Tod umzugehen und darüber zu sprechen. Irritierend wirkt nicht die Ästhetisierung von Sterben und Tod an sich, die von Anfang an einen festen Platz in der Sakralkunst hat und sich seit dem 14. Jahrhundert zur eigenständigen Kunstform des Totentanzes (Danse macabre) weiterentwickelt. Der zwischen 1516 und 1519 entstandene monumentale Berner Totentanz von Niklaus Manuel an der Mauer des ehemaligen Dominikanerklosters in der Berner Altstadt war gewiss ein Eyecatcher, der sich nicht nur sehen lassen konnte, sondern auch gesehen werden wollte und sollte. Die Menschen hatten offenkundig kein Pietätsproblem mit der öffentlichen Ausstellung des Todes, denn die wohlhabenden Bürger:innen bezahlten einiges dafür, um auf dem 80 Meter langen Gemälde in prunkvoller Aufmachung aufzutauchen. Entscheidend war die nüchterne Sichtbarkeit des Todes im Sinn des pädagogischen «Memento mori» der Ars moriendi.
Gegenüber der Kunst zielt Design nicht auf intrinsische Präsenz, sondern auf funktionale Komplexitätsreduktion durch Verdeckung, Verkleidung, Überspielung, Umcodierung oder Vertu-schung. Ideengeschichtlich hat das Design seinen Ursprung im antiken Ritual. Bei beiden Techniken geht es um eine Art «Inkompetenzkompensationskompetenz» (Odo Marquard), die darauf abzielt, den Menschen in einer immer in neuer und anderer Weise befremdlichen und undurchschaubaren Welt das lebensnotwendige Vertrauen zu ermöglichen. Das Ritual arbeitet mit Symbolisierung, das Design mit «Make-up»: «Die Basismaschinen der gegenwärtigen Welt, die Uhren, die Automobile, die Computer, der Gerätepark der Unterhaltungselektronik, die höheren Werkzeuge und dergleichen – sie sind allesamt für die absolute Mehrheit der Benutzer nur glitzernde Oberflächen, deren Innenwelten unmöglich zu betreten sind, […] in zeitgenössischer Sprache heissen solche undurchdringlich komplexen Blöcke in der Umwelt der Benutzer schwarze Kästen. […] Diese Benutzeroberflächen sind gleichsam die Gesichter der Kästen, sie sind das Make-up der Maschinen; sie simulieren eine Art von Verwandtschaft zwischen Mensch und Kasten und flüstern dem Benutzer Appetite, Berührungslüste, Handlichkeitsempfindungen und Initiativen ein. Je unbegreiflicher und transzendenter das Innenleben des Kastens ist, desto auffordernder muss das Kastengesicht dem Kunden ins Naturgesicht lächeln und ihm signalisieren: Du und ich, wir können es miteinander». Die kooperative Funktion von Design hat auch eine zynische Variante, wie eine Episode am Rande der Havarie von Swissair-Flug 316 auf dem Flughafen Athen am 7. Oktober 1979 verdeutlicht. Noch während der Bergung der überlebenden und 14 toten Passagiere veranlasste die Fluggesellschaft, «dass das hoch aufragende Heck der zerbrochen am Boden liegenden Maschine mit dem allzu sichtbaren weissen Kreuz auf rotem Grund von einem Flughafenarbeiter auf der Stelle übermalt werden sollte. […] Es zeigt präzise, was Design im Extremfall will und kann: Die Heckübermalung ist ein Beweis dafür, dass man immer noch etwas tun kann, wenn man nichts mehr tun kann.»
In der aktuellen Debatte über «Sarco» begegnen beide Motive. Die Gestaltung des Geräts spielt mit Assoziationen von Wellness, smarter Mobilität und Science-Fiction und überspielt jeden Bezug auf Sterben und Tod. Zumindest erinnert nichts an die martialisch-abschreckende Ästhetik aus der langen Tradition der Tötungstechniken, die bis in die jüngste Geschichte der Selbsttötungsapparate reicht. Vorstellungen von der Hässlichkeit und Grausamkeit des Todes sind eng verbunden nicht nur mit der ohnmächtigen Einsicht in die Unwiderruflichkeit und Unumkehrbarkeit der eigenen Endlichkeit, sondern auch mit der zur Schau gestellten Brutalität, wie Menschen sterben und tot «gemacht» werden (können). Physisches Töten, die tatsächliche oder metaphorische Bedrohung und Angst, getötet zu werden, und das Ernstnehmen der manifesten oder latenten Abschreckung, um nicht getötet zu werden, gehen Hand in Hand und bestimmen die kollektiven, kulturell und sozial geprägten Vorstellungen von Sterben und Tod. Die komplexen Zusammenhänge spiegeln sich in Hinweisen auf das ansprechende (einladende?) Design und Marketing von «Sarco» wider: Ist seine Gestaltung «ein freundlicher Lebenshelfer, versehen mit den Talenten eines wohlwollenden Gauklers» oder eine perfide Verkleidung und Umcodierung seines tödlichen Effekts («In der Not nimmt auch der Teufel den Farbeimer»)?
Im Blick auf das Verhältnis zwischen Kapseldesign (was sie darstellt, symbolisiert oder signalisiert) und technischer Funktion (zu welchem Zweck das Gerät hergestellt wurde und wofür es verwendet wird) unterscheidet die Frage ein zweckdienliches von einem den Zweck verbergenden Design. Allerdings geht es nicht darum, ob die Gestaltung die Funktion und den Zweck des Geräts unterstützt oder erschwert, sondern um die symbolisch-kommunikative Entsprechung von Design und Funktion. In den Medien kursieren unzählige Fotos von «Sarco», die in Texte eingebettet sind, die seine Funktion in der Regel kritisch diskutieren. Die Konfrontation der Abbildung des smarten Designobjekts mit dem schwierigen Thema Suizidhilfe besteht in einer kalkulierten kommunikativen Inszenierung, die sich ihrer provozierenden Effekte sicher sein kann. Spätestens an dieser Stelle zeigt sich, dass es nicht um das Design von «Sarco» geht (wie müsste eine «akzeptabele» Selbsttötungsmaschine «korrekt» aussehen?), sondern um die alte Vorstellung von dem korrumpierbaren Verhältnis zwischen Form und Telos. Religiös-moralisch gesprochen: Das Böse (Destruktive) hat kein Gesicht, sondern muss paradoxerweise daran erkannt werden, dass es in Gestalt des Guten (Schönen) auftritt: Die smarte Hochglanzästhetik dekonstruiert «Sarco» moralisch als gefährliche Täuschung, die die wahren Absichten des Geräts verschleiert.
Moderne liberale Gesellschaften haben den Suizid von der religiös-moralischen Schuldfrage abgekoppelt, ohne seine moralische Beurteilung aufzugeben. Im Hintergrund steht die Frage, ob das grösste anthropologische Trauma von Sterben und Tod (endgültig) entdramatisiert oder umgekehrt, angesichts seiner fortschreitenden Banalisierung, (konsequent) enttrivialisiert und retabuisiert werden müsse. Es geht nicht darum, dass die Verzweiflung oder der Wunsch, das eigene Leben zu beenden, die grössten existenziellen Herausforderungen darstellen können (was sie zweifellos der Fall sein kann), sondern darum, dass der Suizidwunsch und seine Umsetzung moralisch auch als grösstes existenzielles Problem wahrgenommen und erlebt werden müssen. Zwar bekannten schon die ersten Christ:innen: «Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?» (1Kor 15,55). Aber die Einsicht wurde theologisch und lebenspraktisch auf das Martyrium, also das Sterben für andere (die Sache der Kirche und ihres Herrn) beschränkt, und schloss die eigene Person als Zweck kategorisch aus. Die religiöse und moralische Sicht auf Sterben und Tod wird durch die negativen Vorstellungen des Feindlichen, Schweren, Hässlichen und Grausamen bewahrt und geschützt. Vor diesem Hintergrund haftet einem Kunstobjekt, das den entspannten, schmerzfreien Tod (als Gegenmodell zum Martyrium) in Aussicht stellt, etwas geradezu Blasphemisches an.
4. Die Perfektionierung der Einsamkeit
Liberale Gesellschaften, in denen Zigarettenverpackungen mit medizinischen Horrorbotschaften und -abbildungen aus dem Pschyrembel bedruckt und Gynäkolog:innen, die öffentlich auf die Dienstleistung des Schwangerschaftsabbruchs hinweisen, vor den Kadi gezerrt werden, tun sich erstaunlich schwer im Umgang mit «Sarco». Aktuell begegnen zwei Reaktionen: Entweder scheint nichts auf dem Spiel zu stehen, was zu konsequenter staatlicher und institutioneller Aufklärung oder Sanktionierung Anlass gäbe, oder der Gesellschaft wird ihre Verantwortung durch staatliche Verbote (mit unklarem juristischem Ausgang) von vornherein entzogen (und abgesprochen). Vertreter von «Exit» und «Dignitas» äussern sich ungewöhnlich zurückhaltend über Nitschke und «Sarco», mit dem Tenor, bloss keine schlafenden Hunde zu wecken. Dagegen lehnt die Ärztin und Mitinitiantin von «lifecircle» und «Eternal SPIRIT», Erika Preisig, die Suizidkapsel «zu 100 Prozent ab» und erklärt: «Würden Sie sich denn gerne in einen Plastiksarg legen und sich ins Jenseits befördern lassen? […] Der Plastiksarg nimmt dem Sterbeprozess aber die Würde.»
Im Unterschied zum gläsernen Sarg Schneewittchens ist die Person in «Sarco» nicht Opfer eines Verbrechens geworden (sofern sie keines ist), aber verfügt nach dem Auslösen des Mechanismus über keine realistische Möglichkeit mehr, die gläserne Kapsel wieder zu verlassen. (Weil der Code für den Kapselzutritt auf 24 Stunden beschränkt ist, entsteht darüber hinaus ein zeitlicher Entscheidungs- und Handlungsdruck.) Während der Plot des Grimmschen Märchens davon abhängt, dass in den Sarg gesehen (und Schneewittchen nur deshalb gerettet) werden kann, geht es beim «Sarco»-Design ausschliesslich um das Hinausschauen in eine abgeschnittene Welt (weil jedes Eingreifen von dieser Welt aus keine Rettung, sondern eine selbstbestimmungsfeindliche Übergriffigkeit wäre). Hatte Norbert Elias Anfang der 1980er Jahre die «Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen» analysiert und begünstigte genau diese prekäre gesellschaftliche Situation den Aufstieg der Suizidhilfeorganisationen in der Schweiz, wird das durchsichtige Design von «Sarco» zum Fanal und Triumph der Einsamkeit. Der Fribourger Moraltheologe und Präsident der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK), Markus Zimmermann, präzisiert: «So zu gehen, abgekapselt von der Umwelt, von den Mitmenschen, ist eine sehr unmenschliche Art des Sterbens. Der Sarco banalisiert und trivialisiert diesen Moment. Der moderne Hyperindividualismus wird sozusagen auf die Spitze getrieben. […] Der Sarco, dieses Plastikding, erinnert mich an den wohl schlimmsten Aspekt der Corona-Pandemie. Nämlich, dass jene, die auf Intensivstationen verstorben sind, gleich in einem Plastiksack versorgt wurden.»
Das Gerät schafft gegenüber der in der Schweiz üblichen Suizidhilfe(begleitung) seine eigene soziale Konstellation: (1.) Während die eine suizidwillige Person Begleitenden freiwillig auf ein Eingreifen verzichten (obwohl sie es könnten), werden sie von dem technischen Gerät objektiv und gewaltsam daran gehindert. (2.) Das unverzichtbare wechselseitige Vertrauen bei der begleiteten Suizidhilfe wird ersetzt durch die abwehrende Gerätehülle, die keinen Zugriff zulässt (und deshalb ohne Vertrauen auskommt). (3.) Im Gegensatz zur Suizidbegleitung verhindert die Kapsel jede leibliche Perzeption, taktile Berührung und körperliche Verbindung. (4.) Die Beziehungsdimension, auf die auch das Kriterium der Medinisch-ethischen Richtlinien der SAMW anspielt, dass der Sterbewunsch einer Person von Dritten grundsätzlich nachvollzogen werden kann, wird durch die «Sarco»-Methode systematisch umgangen. (5.) Gegenüber dem begleiteten Suizid bestreitet die Ideologie hinter «Sarco», dass Personen nicht anderen, sondern in fundamentaler Weise sich selbst ihre Sozialität schuldig sind. (6.) Die durch die Technik vorgegebene locked-in-Situation der sterbewilligen Person hat zur Folge, dass die mitmenschliche Sozialität bereits im Leben endet und nicht erst mit dem Tod.
Darin besteht der Preis für eine Suizidmethode, die einerseits ein notorisches Misstrauen gegenüber Staat und Medizin profiliert und andererseits ihr Vertrauen ausschliesslich in eine Selbsttötungstechnik setzt. Es geht aus ethischer Sicht nicht darum, ob solche Geräte rechtlich erlaubt oder verboten werden sollten, sondern darum, ob eine Gesellschaft erstrebenswert ist, in der diese Technik zum Mittel der Wahl wird, und ob wir gute Gründe haben, um für uns selbst zu wünschen, dass es «Sarco» gibt.
Original mit Fussnoten und Quellenangaben:
Kurzfassung “Gedanken zur Suizidkapsel” – erschienen im Magazin Doppelpunkt: