Dieser Text ist eine Kurzform des gleichnamigen Blogbeitrags von Frank auf diesem Kanal. In dieser Form ist der Text im Heft 17/2025 von Doppelpunkt erschienen.
Die Stimmen sind laut, die Meinungen festgefügt – und doch fehlt es in den Debatten über Israel und Palästina oft an dem, was nötig wäre: an einem verantwortlichen, selbstkritischen und theologisch sensiblen Zugang zum Geschehen. Kirchen können die Gewalt nicht beenden. Aber sie können etwas anderes: helfen, differenziert zu sehen. Und das bedeutet vor allem: alle Opfer sehen – und über Täter sprechen. – Frank Mathwig
Die Rede von den Opfern, so menschlich sie scheint, wird allzu oft funktionalisiert: als moralische Positionierung, als Vorwurf, als Parteinahme. Gerade kirchliche Verlautbarungen und Aktionen laufen Gefahr, sich in der vermeintlich «unparteiischen» Opferperspektive einzurichten – und dabei genau das zu tun, was sie vermeiden wollen: einseitig zu urteilen.
Der israelisch-palästinensische Konflikt lässt sich nicht in einfachen Bildern erzählen. Wer sich auf eine Seite schlägt,
sieht meist nur deren Leid – und verschliesst die Augen vor dem der anderen. Dabei ist die Realität ambivalent. Israel verteidigt sich gegen Terror, der nicht zu
relativieren ist – und verletzt dabei systematisch Rechte der palästinensischen Bevölkerung. Palästinenserinnen und Palästinenser leben unter Besatzung, in prekären Verhältnissen – und werden zugleich von einer Terrororganisation wie der Hamas instrumentalisiert, unterdrückt und geopfert.
In kirchlichen Kontexten zeigt sich diese Komplexität kaum. Da wird der Konflikt zu einer Bühne moralischer Gewissheit. So auch bei der «Berner
Mahnwache», die sich als Einsatz für einen gerechten Frieden versteht, aber de facto palästinensisches Leid zur alleinigen Perspektive erhebt. Jüdische Stimmen kommen fast nur als Kritiker Israels zu Wort, die Gewalt der Hamas wird zwar gelegentlich benannt, aber nicht eingeordnet – nicht in ihrer menschenverachtenden, grausamen Konsequenz für israelische Frauen, Kinder, Familien. Kirchliches Handeln darf nicht zur ideologischen Verstärkung eines Opfer-Täter-Dualismus werden. Wer nur sieht, was ins eigene Weltbild passt und was sich moralisch gut anfühlt, trägt nicht zum Frieden bei, sondern zum Unfrieden der Debatten. Empathie ohne Analyse ist blind. Moral ohne Kontext ist gefährlich. Und Gebet ohne politische Verantwortung bleibt folgenlos.
Doppelte Klarheit gefordert
Was es braucht, ist eine doppelte Klarheit: Die Klarheit, Gewalt überall zu benennen – unabhängig davon, von wem sie ausgeht. Und die Klarheit, Gerechtigkeit als politisches und rechtliches Projekt zu verstehen, nicht als Gefühlslage. Der Internationale Strafgerichtshof hat mit seinen Haftbefehlen gegen Verantwortliche auf beiden Seiten ein solches Zeichen gesetzt. Es ist keine Gleichsetzung, sondern eine rechtliche Geltungserklärung: Für die Opfer zählen nicht Herkunft und Geschichte, sondern die Tatsachen.
Kirchen müssen nicht alles wissen, aber sie dürfen nicht alles mitmachen. Sie haben sich nicht in moralischen Triagen zu verlieren, sondern zur Ambivalenz der Verhältnisse zu stehen. Wer Gerechtigkeit will, muss mit Unsicherheit leben. Und wer Frieden will, muss mit allen sprechen – nicht nur mit denen, mit denen man sich versteht.
Kirchliche Friedensethik beginnt nicht mit der Wahl der richtigen Seite. Sie beginnt mit dem Hören – auf die Stimmen, die sonst überhört werden. Und sie endet nicht mit dem Gebet. Sie führt in die Verantwortung, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Die Geschichte Israels, die Katastrophe der Schoah, die politische Realität von Antisemitismus – all das bleibt auch in kirchlichen Kontexten oft unterbelichtet.
Die prophetische Kritik des Amos richtet sich gegen genau diesen Rückzug in den kultischen Trost: «Ich hasse eure Feste, ich kann eure Lieder nicht hören. Rollt das Recht heran wie Wasser!» (Amos 5,21.23f.). Das ist mehr als eine Mahnung. Es ist ein Massstab: Nicht der moralisch aufgeladene Ruf nach Frieden, sondern die nüchterne Suche nach Gerechtigkeit macht den Unterschied.


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