Leadership in evangelisch-reformierter Perspektive
Kirchen sind Institutionen mit komplexen Strukturen. Ihre Leitung folgt eigenen Vorgaben und Vorstellungen und unterscheidet sich darin von der Leadership in Unternehmen und Organisationen. Historisch betrachtet ist die Kirche das erste global auftretende Unternehmen und der erfolgreichste Exportartikel, der je vom Mittelmeerraum ausgehend und über Europa die Welt eroberte. Die über zweitausendjährige Unternehmensgeschichte der Kirche ist höchst wechselvoll. Die Kirche hatte nicht nur eine – wie es heute heisst – «Unternehmenskultur», sie war mehr als alles andere kulturprägend für die westliche Welt. Die westliche Kultur verstand sich über die längste Zeit selbstverständlich als eine christliche und die Kirche prägte das soziale Leben, die Politik, das Recht und die gesellschaftlichen Normen. Die Reformation pluralisierte die Verhältnisse, sodass seither von Kirchen im Plural gesprochen wird. Aber sie änderte weder etwas an der Bedeutung und Relevanz der Kirche im Singular, noch bestritt sie die konstitutive Bedeutung der Religion für den Staat bzw. – wie wir heute sagen – der christlichen Kultur für die Gesellschaft. Soll über “Spirit of Leadership” im Kontext der reformierten Kirche nachgedacht werden, muss zunächst festgehalten werden, wie sich “Geist” im theologischen vom “Geist” im philosophischen Kontext unterscheidet und dann wie “Leadership” seit dem reformatorischen Prinzip des “Priestertums aller Glaubenden” sich als Zusammenspiel von Gemeinde, Gremien und Einzelpersonen versteht.
1. Spirit als Kraft aus dem Geist
Der objektive Geist der Philosophie steht für eine umfassende Weltanschauung, um die Welt und ihre Entwicklungen zu deuten. Der personale Geist der Theologie rechnet dagegen mit einer Instanz, die in der Welt wirkt, und verständigt sich daraus über die Welt. Der «Holy Spirit» ist kein personenloses Prinzip, sondern hat mit dem «Holy Ghost» einen konkreten Absender.
Der Ausdruck «Spirit of Leadership» schliesst an die philosophische Bedeutung an, indem er eine normative Kultur oder fundamentale Werthaltung auf die Führung von Institutionen, Organisationen und Unternehmen überträgt. Konkret geht es um «die menschen-, verhaltens-, eigenschafts-, interaktions- und/oder motivationsorientierten Aufgaben des Managements».
Bei der Institution Kirche ist die Sache komplexer. «Als solche kann sie wie andere Institutionen beschrieben werden mit ihren Zielen, Strukturen und Abläufen. Sie kann insbesondere beschrieben werden als eine Institution, die in der Gesellschaft bestimmte Leistungen erbringt.» Zugleich und zuerst ist sie aber die geglaubte Kirche als Schöpfung aus Gottes Wort. Sie entsteht und besteht aus der Geistkraft Gottes, wird durch sie geführt und vollendet wird. Bei der Kirchenleitung sind – im Unterschied zu allen anderen Institutionen und Organisationen – zwei Instanzen im Spiel: die ausführende Leitungsinstanz und die berufende und begabende Geistinstanz. Der Spirit of Leadership geht nicht in den Merkmalen und Fähigkeiten auf, die eine Person oder Gruppe von sich aus mitbringt und für bestimmte Aufgaben prädestiniert. Wesentlich ist die Beauftragung für diese Aufgabe, die anderen Massstäben und Kriterien folgt. Der kirchliche Spirit orientiert sich nicht nur an einem Kanon von Fachkompetenzen, die im Blick auf bestimmte Werte und Ziele gelehrt, gelernt und angewendet werden. Primär geht es um ein Kommunikationsverhältnis oder eine Beziehung, in der der Geist das Denken, Urteilen und Handeln der Leitungspersonen bestimmt. Der Spirit der Führung ist der Spirit der Gemeinschaft, die geführt wird, und diesen Spirit hat sich die Gemeinschaft nicht selbst ausgedacht, sondern kommt ihr von aussen zu. Deshalb spricht die Kirche – im Anschluss an Paulus (1Kor 12,11ff.) – von «Charismen» bzw. «Geistesgaben» und hat mit der Pneumatologie eine eigene Wissenschaft vom Geist entwickelt. Diese befasst sich nicht – wie die Geisteswissenschaften – mit dem menschlichen Verstand und seinen Erkenntnismöglichkeiten, sondern mit der Präsenz und dem Wirken des Heiligen Geistes. Menschlicher Geist wird gedacht, Gottes Geist wird als wirkender Geist empfangen. Der Spirit of Leadership ist in der Kirche also sowohl eine Orientierung an oder Anwendung von Prinzipien, Leitbildern, Normen und Werten, als auch die Führung durch den anwesenden und bestimmenden Geist Gottes. Das klingt für säkulare Institutionen zwar befremdlich, aber ihre Berufung auf einen «Spirit» folgt – wie ich kurz skizzieren möchte – der gleichen Logik. Dafür wähle ich einen kurzen Umweg.
2. Spirit of Leadership und Beruf(ung)
Leadership ist eine berufliche Aufgabe in funktional hoch ausdifferenzierten, arbeitsteiligen und global vernetzten Arbeits- und Erwerbsgesellschaften. Heute weitgehend vergessen ist die aus der Reformation stammende, konstitutive Verbindung von «Spirit» und «Beruf». Die Reformatoren haben den Berufsbegriff als Resultat ihrer Bibelübersetzungen und -auslegungen erfunden. Martin Luther war der erste, der das Wortfeld «Berufung»/«Beruf»/«Ruf» im Arbeitskontext verwendet. Der Ausdruck geht auf den biblischen Begriff des göttlichen Rufs bzw. der göttlichen Berufung (griech. klesis, lat. vocatio) bei Paulus zurück. Ging es urchristlich um die Berufung aus der Welt, so fokussierte die entstehende Kirche zunächst auf eine exklusive klerikale Berufung in der Welt. Dagegen protestiert der ehemalige Augustinermönch vehement, mit seiner Behauptung, dass jede Tätigkeit zu der eine Person von Gott berufen wird, Gottesdienst sei: «Ein jeglicher bleibe in dem ruff/ darinnen er beruffen ist.» (1Kor 7,20)6 Hatte bereits der mittelalterliche Mystiker Johannes Tauler jede Arbeit für eine göttliche Berufung erklärt, so stellt der Wittenberger Reformator die bis dahin abgewertete körperliche Lohnarbeit auf die gleiche Stufe mit der Berufung in ein kirchliches Amt. Der reformatorische Berufsbegriff «steht im Zeichen einer umfassenden Aufwertung der Vita activa, der werktätigen Arbeit. Diese erhält den Status des Gottesdienstes, allerdings unter der Bedingung, dass es sich um gemeinnützige Tätigkeit handelt. Beruf bei Luther ist Arbeit, aber nicht auferlegter Zwang, sondern aus Liebe zu Gott freudig ergriffener Dienst am Nächsten».
Luther verbindet die innere Berufung durch Gott (vocatio spiritualis) mit der Verankerung in und den Verpflichtungen gegenüber einem weltlichen Stand oder Amt (vocatio externa). Beruf meint die «göttliche Berufung für weltliches Wirken und die damit verbundene gesellschaftliche Einordnung». Der Genfer Reformator Johannes Calvin radikalisiert das Berufsverständnis, indem er es von den weltlichen Ständeordnungen abkoppelt. Beruf ist für ihn Tätigkeit zur Ehre Gottes («in majorem gloriam Dei»). «Gottes Ruhm wird vor allem durch eine zweckvolle Gestaltung und Entwicklung der Gesellschaft gemehrt. Der Einzelne trägt hierzu durch erfolgreiche Betätigung in politischen, kirchlichen oder anderen gemeinschaftlichen Organisationen bei, also durch seine Arbeit. Die erfolgreiche Erfüllung der Berufsaufgaben dient der Gesellschaft und dadurch auch dem Ruhm Gottes». Calvin betont die finale Ausrichtung jeder Tätigkeit auf das Ziel der göttlichen Schöpfung. Bemerkenswerterweise übernimmt der Pietismus den Berufsbegriff explizit für die weibliche Hausarbeit und Kindererziehung, ohne den Frauen den Zugang in öffentliche Berufe und Ämter zu gewähren. Es war dann eine wichtige Aufgabe der feministischen Theologinnen, diese Verengung aufzuarbeiten und die Frauen in allen weltlichen Berufen wie auch kirchlichen Ämtern gleichzustellen.
Für das Thema «Spirit of Leadership» folgt daraus, dass der «Spirit» nicht erst als äusserliche Orientierung zum Handeln dazukommen muss, sondern ursprünglich mit der Berufung zu einer Tätigkeit oder in ein Amt bzw. eine Funktion gegeben ist. Reformierte verstehen das Handeln in Gottes Schöpfung als Vita activa in der Kooperation (cooperatio Dei) von «Gottesdienst als göttliches Handeln» und «Gottesdienst als menschliches Handeln». Der «Spirit» meint im Kern keine Ausrichtung an Prinzipien, Pflichten, Werten und sozialen Normen, sondern die befreiende Beziehung, in der, aus der heraus und durch die gehandelt wird. Aus reformiert-theologischer Perspektive geht es um die fundamentale Verortung menschlicher Aktivitäten im ursprünglichen Bundesverhältnis zwischen Gott und seiner gesamten Schöpfung. Beruf und Berufung befähigen zur Teilnahme, Beteiligung und Partizipation an der sozialen, gesellschaftlichen, politischen und kirchlichen Welt und deren Gestaltung. Deshalb zeigt sich der christliche Spirit of Leadership nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Führung und Gestaltung in allen Bereichen der Wirtschaft, Politik, Kultur und in der Zivilgesellschaft. Der Geist ruft Glaubende zu Leadership innerhalb und ausserhalb der Kirche.
3. Leadership in der Evangelisch-reformierten Kirche
Wenn aus reformierter Sicht von «Spirit of Leadership» die Rede ist, dann geht es also stets um zwei Spirits, den Geist Gottes und den Geist, der im konkreten Leitungshandeln zum Ausdruck kommt. Johannes Calvin bringt es auf den Punkt: «Allerdings soll in der Kirche er [Gott] allein regieren und herrschen, er allein soll in ihr auch die Führung und den höchsten Platz innehaben und diese Herrschgewalt allein durch sein Wort ausüben und walten lassen. Aber er wohnt ja nicht in sichtbarer Gegenwärtigkeit unter uns (Matth. 26,11), […] und deshalb gebraucht er dabei […] den Dienst und gleichsam die vertretungsweise Tätigkeit von Menschen. Das tut er freilich nicht, um sein Recht und seine Ehre auf sie zu übertragen, sondern nur, um durch ihren Mund selbst sein Werk zu tun». Diesem Aufgabenprofil folgt alles, was anschliessend in Kirchenverfassungen, Kirchenordnungen und kirchlichen Organisationsreglementen normiert und in der Regel nur schwach sanktioniert wird. Dabei entsprechen kirchliche Führungsstrukturen wesentlich denjenigen von Unternehmen und Organisationen, in der Schweiz entsprechen die reformierten Führungsstrukturen und Organe im Wesentlichen denjenigen des Staates. Historisch betrachtet hatten partizipative Kirchenstrukturen anfänglich eine Vorbildfunktion bei der Ausbildung staatlicher, basisdemokratischer Beteiligungsordnungen. Meine Kirche, die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz EKS steht exemplarisch für ein solches Teilnahmemodell.
Das Ordnungsprinzip der EKS hat eine presbyterial-synodale Struktur. Die Bezeichnung «presbyterial-synodal» stammt aus dem griechischen Neuen Testament: Presbyteros heisst der «Gemeindeälteste», synodus bedeutet die «Versammlung» oder «gemeinsamer Weg». Daraus folgen zwei Grundsätze:
(1.) Die Kirche wird gestaltet durch den Geist in jedem Kirchenmitglied, also der inspirierenden Kraft der geistbewegten Basis, unabhängig von den kirchenleitenden Funktionen. Häufig waren und sind es Impulse, Bewegungen und Aufbrüche an der Basis, die auf die Synoden und Presbyterien einwirkten und dadurch Entwicklungen und Veränderungen in der Kirche in Gang setzten. Ein Paradebeispiel dafür ist der Kampf für die Frauenordination, die in der Schweiz an der kirchlichen Basis begann. Zwei junge Frauen – Lehrerinnen von Beruf – fühlten sich berufen, ihre ökonomisch sichere Position zu verlassen und sich an der theologischen Fakultät Zürich einzuschreiben. Sie schlossen 1918 das Theologiestudium mit Bestnoten ab und wurden ordiniert. Es wurde ihnen jedoch zunächst untersagt, als gewählte Pfarrerinnen in der Gemeinde zu arbeiten. Weitere Theologinnen gesellten sich zu den Pionierinnen, schlossen sich zum Verband Schweizer Theologinnen zusammen und ermutigten sich gegenseitig im Kampf um die Gleichstellung in allen kirchlichen Ämtern und Diensten. Die kirchliche Basis, die die Theologinnen als erfolgreiche «Pfarrhelferinnen» erlebten, setzte sich unter Protest für Veränderungen der Kirchenordnungen ein. So bewegten sie nach und nach die kantonalen Kirchenparlamente und stellten in ihren Ordnungen Frauen den Männern im Pfarramt gleich. Die männlich besetzten kirchlichen Gremien folgten dem Druck der Basis und vollzogen diesen entscheidenden Schritt.
(2.) Die Leitung der Kirche liegt im Zusammenspiel von allen Glaubenden, die berufen sind, Kirche mitzudenken, mitzugestalten, Impulse zu geben und bei auf Zeit berufenen und gewählten Gremien und Personen. In der reformierten bottom up-Struktur stehen Gemeinschaft und Eigenständigkeit in einem anspruchsvollen und manchmal auch spannungsvollen Verhältnis. Konflikte werden nicht mit Hilfe autoritärer Befugnisse bearbeitet, sondern in Form diskursiver Verfahren, die in einen konsensualen Entscheid oder eine demokratische Abstimmung münden können. Entscheidend bei diesem Vorgehen ist die Gewissensbindung der einzelnen Person vor Gott. Wenn die Schweiz als freie «Willensnation» (Ernest Renan) bezeichnet wird, dann bildet die EKS eine freie Gewissensgemeinschaft. Symbolisch dafür stehen die Verfassungsbestimmungen der EKS (§ 18 Abs. 3; § 26 Abs. 2), gemäss denen die Synodalen und Ratsmitglieder – einschliesslich dem/der Präsident:in – im Rahmen einer Gottesdienstfeier von der Präsidentin der Synode eingesetzt werden und der Segen für ihr Amt gemeinschaftlich erbeten wird.
4. Personale Leitung und Spirit of Leadership
Die am 1. Januar 2020 in Kraft getretene neue Verfassung der EKS definiert erstmals nicht nur eine zwei- sondern eine dreigliedrige Leitung. Neben der synodalen, und der kollegialen spricht sie auch von der personalen Kirchenleitung. Die synodale Leitung erlässt Reglemente, definiert inhaltliche Schwerpunkte und Aufgaben und wählt die Organe der EKS. Die kollegiale Leitung des Rates bestimmt die Ziele und Mittel seiner Arbeit, vertritt die EKS auf nationaler und internationaler Ebene, veröffentlicht Stellungnahmen zu kirchlichen, politischen und theologisch-ethischen Themen.
Die personale Leitung der EKS wird jedoch in der Verfassung typischerweise nur sehr knapp behandelt. Die Präsidentin oder der Präsident repräsentiert die EKS in der Öffentlichkeit, fördert die Gemeinschaft zwischen den Mitgliedkirchen und gibt Anregungen zum kirchlichen Leben und Auftrag. Das Amt der Präsidentin/ des Präsidenten wird nicht den vereinsrechtlichen Organen (§ 9) zugerechnet und folgt damit nicht der typischen «vereinsrechtlichen, formellen Organstellung der Präsidentin oder des Präsidenten». Gegenüber der checks-and-balances-Struktur politisch- parlamentarischer und unternehmerisch-aufsichtsrätlicher Organisationsstrukturen, wird die personale Leitung der EKS neben den Kirchenorganen platziert. Im Verfassungsprozess von 2014 bis 2019 war die präsidiale Rolle zwischen Stimmen, die sie mit mehr, und Stimmen, die sie mit sehr beschränkten Zuständigkeiten ausstatten wollten, kontrovers diskutiert worden. Durchgesetzt hat sich ein Verständnis, das als pastorale Leitung kirchenleitender Organe beschrieben werden kann, als ein Dienst in der und für die Kirche. Ihre charismatisch bestimmte Autorität zielt darauf, geistliche und theologische Impulse zu setzen und die Gemeinschaft der Mitglieder und Mitgliedkirchen zu einen. Institutionelle oder politische Macht im Sinn von Entscheidungsgewalt besitzt sie nicht.
Die Reformierten betonen in besonderer Weise das Priestertum aller Gläubigen: Nicht Herkunft, Status oder Geschlecht entscheiden über die Befähigung für ein Amt, sondern die Charismen bzw. Geistesgaben als Ausdruck einer spezifischen Berufung. In diesem Sinn sind alle gleich berufen, Kirche mitzuleiten, jedoch in je anderen Funktionen und Ämtern.
Die Schweizer Reformatoren sahen Fragen der Kirchenleitung erstaunlich nüchtern. Personenkult lehnten sie konsequent ab. Deshalb bezeichnen sich die Schweizer Reformierten bis heute nicht als Calvinisten oder Zwinglianerinnen, wie die Reformierten in anderen Ländern oder das Pendant des Lutherischen Weltbundes. Gegen jede Form charismatischer Überhöhung, die dazu führen kann, dass die charismatische Person geltendes Recht nicht anerkennt oder eigenes Recht setzt, treten die Zürcher und Genfer Reformatoren konsequent für die Geltung von Recht und Ordnung(en) ein, denen jede Person in gleicher Weise unterworfen ist. Daraus folgt umgekehrt: Charismen lassen sich nicht operationalisieren und in eine Ordnung einbinden. Geistesgaben sind keine Machttechniken, deshalb müssen Spirit und (kirchen-) politische Macht konsequent entkoppelt werden. Das kann so weit gehen, wie die frühen reformierten Kirchenordnungen in Norddeutschland und den Niederlanden, die die Kirchenleitung auf eine ad hoc Moderationsfunktion während der Synoden (Moderamen) beschränkten.
5. Innovation durch Teilhabe aller
Für Reformierte sind Jesus Christus und seine Gemeinde die Subjekte der Kirche. Damit die Gemeinde Subjekt sein kann, verfolgten die Schweizer Reformatoren ein ambitioniertes Bildungsprogramm für die Bevölkerung. Teilhabe durch Bildung war ein Credo der Reformierten, das sie konsequent in Kirche und Gesellschaft einbrachten. Reformierte Christinnen und Christen denken und urteilen selbst, ohne klerikale Bevormundung und lehramtliche Geländer. Kirchenleitung ist eine Aufgabe auf Zeit, bei der die Fähigkeiten und Begabungen der Person ihrem Amt oder ihrer Funktion konsequent untergeordnet werden. Die Ämter und Funktionen sind rechtlich definiert und theologisch begründet. Eine Besonderheit der reformierten Konfession besteht darin, dass die theologischen Begründungen nicht in Stein gemeisselt sind, sondern einer kontinuierlichen Überprüfung unterliegen. Zum kirchenpolitischen checks-and-balances tritt also die theologische Selbstreflexion über den Auftrag der Kirche und die Gestaltung ihrer Strukturen hinzu. Das hat auch zur Folge, dass die Reformierten, im Gegensatz zum Luthertum und zur Römisch-katholischen Kirche, ihre Bekenntnisprozesse niemals abgeschlossen und für sakrosankt erklärt haben. Einziger Glaubensmassstab ist die persönliche Gewissensbindung in der ernsthaften Auseinandersetzung mit Gottes Wort. Die relative Bedingungslosigkeit verbunden mit einem hohen Anspruch an die einzelne Person prägen das reformierte Selbstverständnis und bilden den Rahmen für kirchliche Leadership. Dialogische Kreativität und Durchsetzungsmacht verhalten sich proportional. Die diskursive Auseinandersetzung ist der Normalfall, respektvoller Streit der Motor reformierter Theologie, Kirchenpraxis und Innovation. So wird verständlich, warum die Reformierten häufig zu Vorreiterinnen kirchenpolitischer Entwicklungen wurden: bei der Frauenordination, beim Schwangerschaftsabbruch, bei der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften, bei der Suizidhilfe oder in der Bioethik. Darin gingen die Reformierten ihren internationalen Schwesterkirchen häufig voraus, was häufig mit Unverständnis in anderen Kirchen und Widerstand in den eigenen Kirchen verbunden war. Der Spirit of Leadership reformierter Kirchenleitung besteht deshalb wesentlich darin, den gemeinsamen Geist wachzuhalten, der das Ringen um die Scheidung der Geister (1Kor 12,10; 1Joh 4,1–6) möglich und unverzichtbar macht.
Referat von Rita Famos an der Konferenz “Theologie und Leadership” gehalten in Luzern am 20.06.2024
Text mit Fussnoten: