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Organspende nach assistiertem Suizid: Eine ethische Sicht

Die Diskussion um die Organspende nach assistiertem Suizid gewinnt international an Bedeutung – auch in der Schweiz. Während Länder wie Kanada, Belgien und die Niederlande diese Praxis bereits ermöglichen, stehen hierzulande noch grundlegende ethische und rechtliche Fragen im Raum. Ist es vertretbar, Suizidhilfe mit Organspende zu kombinieren? Wie lassen sich Autonomie, Wohlergehen und das Nichtschaden-Prinzip in Einklang bringen? Und welche Risiken birgt eine solche Verknüpfung für die betroffene Person und die Gesellschaft? Dieser Artikel beleuchtet die zentralen bioethischen, medizinischen und rechtlichen Aspekte einer Debatte, die an der Schnittstelle zwischen persönlicher Entscheidungsfreiheit und gesellschaftlicher Verantwortung steht.

1. Die Fragestellung

Mit der in einigen Ländern (Kanada, Niederlande, Belgien) praktizierten Organspende nach assistiertem Suizid soll der Organknappheit in der Transplantationsmedizin begegnet werden. Die medizinischen und bioethischen Debatten erreichen nun auch die Schweiz, stehen dort aber noch am Anfang. Eine Diskussion des Themas setzt zweierlei voraus: (1.) Weder die Organspende noch der assistierte Suizid werden grundsätzlich abgelehnt, und (2.) aus der Zulässigkeit beider Praktiken folgt nicht ipso facto die Legitimität oder Praktikabilität ihrer Kombination. Wein und Kaffee schmecken fein, aber nicht als Mixgetränk. Zwei für sich betrachtet legitime Handlungsoptionen können zu unakzeptablen Ergebnissen führen, wenn sie verbunden und gleichzeitig verfolgt werden. Das wäre der Fall, wenn die Normen und Verfahren der etablierten Suizidhilfepraxis und die Regulierungssysteme von Organspende und Transplantationsmedizin beim Aufeinandertreffen in der Praxis kollidieren würden. Die Frage lautet also: Was passiert, wenn die Praxis der Organspende auf die Praxis der Suizidhilfe trifft?

2. Der gemeinsame ethische Nenner

  1. Autonomie (autonomy): Eine Person, die ihr eigenes Leben beenden will, und eine Person, die ihre Organe postmortal spenden möchte, müssen nachweisslich oder idealtypisch bestimmte Bedingungen erfüllen: Beide Personen haben ihre Entscheidung selbstbestimmt, frei und ohne äusseren Druck, urteilfähig und informiert sowie nicht spontan, sondern wohlüberlegt getroffen. Die Bedingungen leiten sich aus dem Grundrecht der Person auf körperliche Integrität und freie Persönlichkeitsentfaltung ab und gelten für jede soziale Praxis. Sowohl bei der Organspende als auch beim assistierten Suizid muss garantiert sein, dass die Person als Subjekt ihres Lebens und Körpers selbst und frei über ihr Leben und ihren Körper entscheiden kann. Umgekehrt darf sie nur an der Umsetzung ihrer Interessen gehindert werden, wenn die vorausgesetzten kumulativen Bedingungen nicht erfüllt sind, die Interessendurchsetzung geltendes Recht und übergeordnete allgemeine Interessen (Art. 36 BV) verletzen oder in unzulässiger Weise ein Handeln Dritter in Anspruch nehmen würde.
  2. Wohlergehen (beneficence): Bei der Organspende und der Suizidhilfe geht es nicht um ein Wohlergehen, das prospektiv auf das eigene Leben und den eigenen Körper gerichtet ist. Vielmehr bezieht es sich auf etwas, das von der eigenen Existenz abgekoppelt erscheint. Das Erstrebenswerte geht entweder über das eigene Leben hinaus oder tritt aus dem eigenen Leben heraus. Während die Organspende voraussetzt, dass für die spendenwillige Person nichts mehr getan werden kann, beruht die Suizidhilfe darauf, dass die sterbewillige Person etwas tut.
  3. Nichtschaden (nonmaleficence): Bei der Organspende und der Suizidhilfe zielt das Nichtschaden-Prinzip nicht primär auf die Vermeidung gesundheitsschädlicher Handlungsfolgen, sondern auf den Schutz der körperlichen Integrität der Person und ihrer Selbstbestimmung. Wenn im Blick auf die Suizidhilfe gilt, «Kein Dritter kann mich zum Weiterleben verpflichten, wenn ich sterben möchte, und kein Dritter hat ein Recht, mich zu töten, wenn ich am Leben bleiben möchte.»,[1] folgt daraus für die Organspende: Kein Dritter kann mich gegen meinen Willen zur Spende meiner Organe verpflichten, und kein Dritter hat das Recht, mir meinen Willen zu verweigern, wenn ich meine Organe spenden möchte.

3. Wünsche, zu sterben versus Gründe, zu sterben

Im Blick auf drei der vier bioethischen Prinzipien von Beauchamp und Childress[2] zeigt sich eine weitgehende Übereinstimmung bei den ethischen Voraussetzungen für die Organspende und den assistierten Suizid. Die Handlungsoptionen mögen moralisch unterschiedlich beurteilt werden. Entscheidend ist, dass beide mit den Rechten der Person übereinstimmen, frei und selbstbestimmt über das eigene Leben und den eigenen Körper entscheiden zu können.

Anspruchsvoller wird das Thema Organspende nach assistiertem Suizid durch eine Umbesetzung der Szene: Trifft das Gesagte auch dann zu, wenn die Entscheidungen für die Organspende und den assistierten Suizid nicht von zwei Personen, sondern von ein und derselben Person getroffen werden? Eine spendenwillige Person könnte sagen: «Ich spende meine Organe, wenn mein Leben beendet ist.» Sie erklärt damit, was mit ihrem Körper postmortal geschehen soll. Ob die Person dabei ihren Tod abwarten oder den Todeszeitpunkt selbst bestimmen will, hat keinen Einfluss auf die geäusserte Absicht. Aus der Perspektive der 1. Person kollidieren die Wünsche nach assistiertem Suizid und Organspende prima facie nicht. Eine Person kann den einen oder den anderen Wunsch oder beide Wünsche zugleich haben.

Nun könnte eine spenden- und sterbewillige Person auch äussern: «Ich spende meine Organe, weil ich mein Leben beenden will.» Der Unterschied zum ersten Satz besteht in der Ersetzung des Bindeworts «wenn» durch «weil». Mit dem wenn-Satz erklärt die Person ihre Absicht zur Organspende. Die temporale Präzisierung «wenn mein Leben beendet ist» braucht es eigentlich nicht, weil die postmortale Organspende den Tod der spendenden Person voraussetzt. Mit dem weil-Satz begründet die Person dagegen ihren Organspende-Wunsch. Der Grund dafür besteht in dem anderen Wunsch, das eigene Leben zu beenden. Die Verbindung der beiden Wünsche stösst in den medizinischen und bioethischen Diskursen auf breite Kritik.[3] Denn die Nähe beider Wünsche sei nicht vor der Gefahr einer Umkehrung gefeit, bei der dann der Wunsch nach Organspende zum Grund für den Sterbewunsch würde: «Ich beende mein Leben, weil ich meine Organe spenden will.» Um dieses prekäre Umschlagen auszuschliessen, müsse konsequent verhindert werden, dass der Sterbewunsch einer Person (wesentlich) durch ihren Wunsch nach Organspende veranlasst wird.[4]

4. Zwischen Kausalität und Rechtfertigung

Die Plausibilität der Forderung hängt davon ab, was mit der «Veranlassung» des einen Wunsches durch den anderen gemeint ist. Entweder bildet der Wunsch nach Organspende das Motiv, das den Sterbewunsch kausal verursacht. Oder der Wunsch nach Organspende stellt den Grund dar, mit dem der Sterbewunsch normativ gerechtfertigt wird. Die erste Variante der kausalen Verursachung beschreibt einen mentalen Zustand der Person, den sie (aus welchen Gründen auch immer) hat. Die zweite Variante der normativen Rechtfertigung bezieht sich auf eine kognitive Überzeugung der Person vor einem intersubjektiven normativen Horizont. Handlungsmotive sind viel unmittelbarer mit der Person verbunden als Handlungsgründe. Motive hat eine Person in Bezug auf sich selbst als handelndes Subjekt. Gründe hat eine Person als Mitglied einer Kommunikationsgemeinschaft, gegenüber der sie ausweist, warum sie so entschieden und gehandelt hat. Während die Handlungsmotive mit dem Selbstbild bzw. der Identität der Person korrelieren, geht es bei den Handlungsgründen um die normative Kohärenz mit der sozialen Interaktionsgemeinschaft, zu der die Person gehört.

Die Unterscheidung zwischen dem Innenbezug persönlicher Motive und dem Aussenbezug intersubjektiver Gründe wiederholt sich im konkreten Fall auf der Ebene der Handlungsgründe. Die Motive für den Sterbewunsch sind auf die eigene Person gerichtet, während die Motive für eine Organspende im Blick auf Dritte bestehen. Selbst unter der Annahme, dass die Gesellschaft eine allgemeine Bereitschaft zur Organspende erwarten würde, wäre es völlig undenkbar, damit die Hingabe des eigenen Lebens zu verbinden. Organspende ist kein Martyrium und deshalb kann der Sterbewunsch prinzipiell nicht mit dem Wunsch der Organspende begründet werden. Die Forderung aus der 3. Person-Perspektive, dass eine Person ihre Organe spenden soll, wäre nur dann berechtigt, wenn er den entgegengesetzten Wunsch, dass diese Person leben und nicht sterben soll, paradoxerweise voraussetzt.

Die Schwierigkeit, einen Sterbewunsch mit der Organspende zu begründen, zeigt sich auch auf sprachlich-metaphorischer Ebene. In der Wunschkombination tritt zu der Gabe der Organe eine zweite Gabe hinzu, die im französischen Ausdruck se donner la mort – «sich den Tod geben» anklingt. Die Gabe des eigenen Todes verliert durch ihren konditionalen Bezug auf die Organgabe für andere ihren reflexiven Charakter (se), sodass der Tod der spendenden Person als Bedingung für ihre Organspende zu einer Art zweiter Gabe wird. Die spenden- und sterbewillige Person gibt ihre Leben, um ihre Organe zu geben (das reflexive Ausgangsmotiv, nicht mehr leben zu wollen, wird vom Motiv der Organspende geschluckt). Jede Forderung nach dieser doppelten Gabe (aus der 3. Person-Perspektive intersubjektiver Handlungsgründe) wäre unsittlich und ethisch unakzeptabel. Die Gabe des eigenen Lebens darf nicht Gegenstand generalisierter Forderungen werden, sondern stellt sich allenfalls als supererogatorischer Grenzfall persönlichen Handelns (1. Person-Perspektive). Aus der 1. Person-Perspektive persönlicher Handlungsmotive ist sie zwar irrational und irritierend, aber prima facie nicht ausgeschlossen. Ob sie allgemeine Interessen verletzen würde und deshalb verboten werden kann, oder ob sie unter das Recht auf Persönlichkeitsentfaltung fallen würde, muss rechtlich geklärt werden.

5. Die 1. Person- und die 3. Person-Perspektive

Aus ethischer Sicht muss ein Vermischen zwischen der 1. Person- und 3. Person-Perspektive vermieden werden. Ein Kurzschluss liegt vor, wenn die Motive einer Person im Blick auf ihre Entscheidungen und Handlungen als Begründung von Dritten für den Umgang mit dieser Person benutzt werden. Die subjektiven Urteile aus der 1. Person-Perspektive über die eigenen Belange werden dann zu objektiven Urteilen aus der 3. Person-Perspektive über die Belange anderer. Die Übertragung unterläuft die fundamentale autonomieethische Einsicht, dass die Perspektive der 1. Person auf das eigene Leben einer 3. Person-Perspektive auf das Leben dieser Person prinzipiell verschlossen ist. Daraus folgt im konkreten Fall zweierlei: (1.) Mein Motiv, mein Leben für die Spende meiner Organe beenden zu wollen, rechtfertigt nicht das Handeln einer Person, die mein Leben zu diesem Zweck beendet. Sie kann mein Leben aus Mitleid, Solidarität und Eigennutz beenden oder weil sie von den Angehörigen einer Person, die dringend ein Organ benötigt, bedroht wird, aber nicht aus dem Grund, dass ich mein Leben beenden will, um meine Organe zu spenden. (2.) Während die eigenen Motive keine Legitimität beanspruchen müssen und manchmal explizit davon suspendieren (Gewissensvorbehalt; «Hier steh’ ich nun, ich kann nicht anders»), zielen Begründungen auf die Legitimation von Urteilen, Entscheidungen und Handlungen gegenüber der moralischen Gemeinschaft.

Dieser Unterscheidung entsprechen sowohl die schweizerische Praxis der Organspende als auch die Praxis des assistierten Suizids. Die zuletzt eingeführte Widerspruchslösung geht formal und allgemein von der Zustimmung zur Organspende aus, die gilt, sofern eine Person nicht explizit, ohne Angabe von Motiven und Gründen, widerspricht. Die medizin-ethischen Richtlinien zum assistierten Suizid der SAMW formulieren Qualitätskriterien für die Abklärung eines Sterbewunsches, aber keine Massstäbe zur inhaltlichen Beurteilung der Motive einer sterbewilligen Person. Die Prüfung betrifft die rechtlichen, kognitiven und psychischen Voraussetzungen, die eine Person erfüllen muss, um ihren Sterbewunsch erfassen und beurteilen zu können. Das mit dem Sterbewunsch vorgenommene Urteil über das eigene Leben liegt ausschliesslich bei der Person. Die in der Literatur intensiv diskutierte Gefahr eines Interessenkonflikts bei der Kombination von Suizidhilfe und Organspende betrifft also (1.) nicht die Person selbst und liegt (2.) auf struktureller Ebene nur dann vor, wenn der Sterbewunsch der Person mit dem medizinischen Interesse an Organspenden verbunden wird.

Um eine strukturelle Trennung zwischen beiden Entscheidungsprozessen zu gewährleisten, wird manchmal eine verpflichtende zeitliche Reihenfolge vorgegeben, nach der die Abklärung des Sterbewunsches dem Wunsch nach Organspende zeitlich vorausgehen muss. Das widerspricht grundsätzlichen Überlegungen und der schweizerischen Praxis: Hinter der Entscheidung für die Organspende steht eine Haltung der Person, ein Merkmal, das nicht von der je aktuellen Kontingenz der Lebensumstände abhängt, sondern zum über die Zeit relativ stabilen Charakter der Person gehört. Im Gegensatz dazu bildet der Sterbewunsch keine Haltung, sondern entsteht in einer konkreten Lebenssituation oder -phase. Der Wunsch, die eigenen Organe zu spenden, geht biographisch dem Sterbewunsch voraus. Der Organspendeausweis ist die Entscheidung für die Organspende, der Mitgliedausweis einer Suizidhilfeorganisation dagegen eine Art Versicherung, für eine mögliche zukünftige Situation, in der sich die Frage des assistierten Suizids stellen könnte. In der bisherigen Praxis erfolgt der Entschluss einer Person, ihre Organe zu spenden (bzw. der Organspende nicht zu widersprechen) grundsätzlich ausserhalb medizinischer Zusammenhänge. Auch beim assistierten Suizid ist die Medizin – abgesehen von den vorgeschriebenen Abklärungen und der Rezeptausstellung[5] – weder am endgültigen Entschluss der sterbewilligen Person noch an der Ausführung des Suizidaktes beteiligt. Die Einführung der Organspende nach assistiertem Suizid könnte zu strukturellen und prozeduralen Veränderungen oder Anpassungen führen, bei denen sich die beschriebene medizinische Distanz verringert, wenn die Prozesse der Suizidhilfe und der Transplantationsmedizin aus Gründen der medizinischen Koordination enger zusammenrücken. Weil dadurch die Gefahr einer Instrumentalisierung oder Manipulation der sterbewilligen Person nicht vollständig ausgeschlossen werden kann, braucht es flankierende rechtliche Bestimmungen, robuste medizinische Standards und Richtlinien, eine (soweit medizinisch möglich) weitgehende strukturelle Abkopplung der Entscheidungsprozesse und eine sorgfältige Prozesssteuerung und -kontrolle.

6. Konsequenzen und offene Fragen

Unter der Voraussetzung der etablierten Praktiken der Organspende und Suizidhilfe stehen einer Organspende nach assistiertem Suizid keine grundsätzlichen ethischen Einwände entgegen. Die bisherige schweizerische Praxis bietet bei korrekter Durchführung der Prozesse und Verfahren einen wirksamen Schutz vor der Gefahr des Drucks und der Einflussnahme auf sterbewillige Personen zugunsten einer Organspende. Die mit einer Öffnung für die Organspende nach Suizidhilfe verbundenen Verfahrensanpassungen und Prozessänderungen sollten an den bewährten Grundsätzen festhalten: (1.) Der Status der Suizidhilfe sollte beibehalten und ihre Integration in die Prozesse rund um die Transplantationsmedizin, sofern medizinisch unverzichtbar, so gering wie möglich gehalten werden. Die strukturelle und prozedurale Trennung beider Verfahren ist unverzichtbar für den Schutz der beteiligten Personen und die Transparenz des Gesamtprozesses. (2.) Die bisherige Praxis der anonymen Spende sollte nicht aufgegeben oder relativiert werden. (3.) Aufrechterhalten werden sollte auch das damit zusammenhängende Verbot der gerichteten postmortalen Organspende. (4.) Abzulehnen ist die international teilweise etablierte Praxis, sterbewillige Personen explizit auf die Organspende anzusprechen. Das Vorgehen würde einerseits mit der eingeführten Widerspruchslösung kollidieren. Andererseits würde es der befürchteten Verknüpfung von Suizidwunsch und Organspende Vorschub leisten. (5.) Schliesslich sollte die Einführung der Organspende nach assistiertem Suizid durch geeignete, institutionalisierte Evaluationsverfahren begleitet werden.

Die internationale Diskussion über die Organspende nach assistiertem Suizid fokussiert auf die Konsequenzen für die Organspende. Kaum thematisiert werden mögliche Rückwirkungen auf die assistierte Suizidhilfe und das Verständnis des Sterbewunsches. Was bedeutet es, die Organe eines Körpers zu spenden, mit und in dem das Leben geführt wurde, das auf eigenen Wunsch beendet werden soll? Was bedeutet es umgekehrt, möglicherweise ein Organ zu erhalten, das aus dem Körper einer Person stammt, die leben könnte, aber nicht mehr leben wollte? Sind diese Aspekte autonomieethisch irrelevant (weil es ausschliesslich auf den Spendenwunsch der Person ankommt und nicht auf die Umstände der tatsächlichen Organspende) oder verändert die Todesart das Verständnis von der postmortalen Organspende? Die bisherige Praxis könnte als eine imaginäre Verbindung zwischen Spender:innen und Empfänger:innen verstanden oder gedeutet werden, bei der die eine Person auf schicksalhafte Weise verliert, was der anderen Person auf ebenso schicksalhafte Weise zugutekommt. Was diese imaginierte Verbindung bedeutsam machen könnte, ist die Unterstellung, dass die verstorbene Person, die ihre Organe gespendet hat, genauso leben wollte, wie die Person, die ein Organ erhalten hat. Beide sind durch die Vorstellung eines geteilten Lebenswillens fiktiv verbunden. Es kommt nicht darauf an, ob das die tatsächlichen Motive der Person waren, als sie sich zur Spende entschloss, sondern ob diese Vorstellungen für die Personen, die ein Organ erhalten, grundsätzlich möglich oder ausgeschlossen sind.

Die narrative Kohärenz zwischen dem schicksalhaften Verlust für die eine Person und der schicksalhaften Chance für die andere Person gilt nicht in gleicher Weise im Blick auf eine Person, die nach assistiertem Suizid ihre Organe spendet. Selbstverständlich verändert die Todesursache weder die biologische Beschaffenheit noch den Nutzen der gespendeten Organe. In der Schweiz weiss darüber hinaus eine Person, die ein Organ aus einer postmortalen Spende erhält, nichts über die spendende Person und deren Todesumstände. Die Frage, ob die Unterstellung eines verbindenden Lebenswillens Bedeutung hat, stellt sich bisher nicht, sondern erst eine erweiterte Praxis könnte zeigen, ob dieser Aspekt Relevanz hat oder nicht.

Dagegen könnte eingewendet werden, dass auch eine Person, die ihre Leben beendet, einen Lebenswillen hat und teilen könnte. Der Sterbewunsch könnte die Konsequenz aus widrigen Lebensumständen sein, die die lebensbejahende Grundeinstellung der Person zwar überdeckt, aber nicht auflöst. Der Lebenswillen zeigt sich im übertragenen Sinn in der Bereitschaft zur Organspende. Die Person ähnelt auf den ersten Blick einer anderen Person, für die die Freiheit den höchsten Wert darstellt, die aber um eines grösseren Zieles willen auf sie verzichtet, ohne dass die in Kauf genommene Unfreiheit etwas an ihrer Hochschätzung der Freiheit ändern würde. Beide Personen stimmen darin überein, dass sie gegen etwas handeln, das ihnen in hohem Mass wertvoll ist. Aber sie unterscheiden sich darin, dass die zweite Person genau besehen ihre Freiheit nicht aufgibt, sondern auf ihre kontinuierliche Verwirklichung verzichtet. Ihre Freiheit verschwindet nicht in der Weise, wie das Leben der ersten Person mit der Ausführung des assistierten Suizids endet.

Allerdings macht die Analogie auf einen weiteren Zusammenhang aufmerksam: eine durch das Selbstbestimmungsparadigma häufig verdeckte Ambivalenz des assistierten Suizids. Wie der Freiheitsverzicht um höherer Ziele willen, hat auch die Organspende nach Suizidhilfe eine elementare soziale Dimension. Sie zeigt sich in einem Handeln, das über die eigene Person hinaus auf andere gerichtet ist. Der Organspende besteht nicht nur in ihrer Uneigennützigkeit, sondern wesentlich in ihrer Sozialität, die – in genuiner Weise – den eigenen Körper einschliesst. Eine solche soziale Ausrichtung wird gewöhnlich «Empathie» genannt und bezeichnet eine Mitmenschlichkeit, bei der die empathische Person anderen Personen nicht nur funktional, sondern mit ihrer ganzen Persönlichkeit präsent ist. Vielleicht besteht die moralische Irritation der Organspende nach assistiertem Suizid in der Konfrontation der personalen Präsenz in dem sozialen Wunsch der Organspende mit dem Sterbewunsch, der darauf hinausläuft, diese Präsenz ultimativ auszulöschen. Die Wahrnehmung dieser Ambivalenz animiert dazu, über das eigene Leben und die conditio humana nachzudenken. Sie ist aber kein moralisches Indiz oder ethisches Argument dafür, die Organspende nach assistiertem Suizid zu verbieten.

Hier finden Sie den Text als PDF.

[1]      Hans Saner, Gibt es eine Freiheit zum Tode?: Pascal Mösli/Hans Balz Peter (Hg.), Suizid …? Aus dem Schatten eines Tabus, Zürich 2003, 57–62 (61).
[2]      Tom L. Beauchamp/James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics. Seven th Edition, New York, Oxford 2013.
[3]      Vgl. Richard C. Armitage, The Extent to Which the Wish to Donate One’s Organs After Death Contributes to Life-Extension Arguments in Favour of Voluntary Active Euthanasia in the Terminally Ill: An Ethical Analysis: The New Bioethics, 30/2024, 123–151; Jan A. M. Bollen et al., Feasibility of organ donation following voluntary assisted dying in Australia: lessons from international practice: MJA 219/2023, 202–205; ders. et al., Euthanasia through living organ donation: Ethical, legal, and medical challenges: The Journal of Heart and Lung Transplantation 38/2019, 111–113; ders. et al, Legal and ethical aspects of organ donation after euthanasia in Belgium and the Netherlands: J Med Ethics 42/2016, 486–489; Genevieve M. Casey et al., A request for directed organ donation in medical assistance in dying (MAID): Can J Anesth 67/2020, 806–809; Gert van Dijk/Rozemarijn van Bruchem-Visser/Inez de Beaufort, Organ donation after euthanasia, morally acceptable under strict procedural safeguards: Clinical Transplantation 32/2018, e13294; Nathalie van Dijk et al., Case report: Organ donation after euthanasia for psychiatric suffering: some of the practical and ethical lessons Martijn taught us: Front Psychiatry 2024 Mar 5:15:1234741; Johannes Mulder, Facilitating the wishes of patients who choose both MAiD and organ donation: CMAJ 191/2019, E595-6; ders. et al., Practice and challenges for organ donation after medical assistance in dying: A scoping review including the results of the first international roundtable in 2021: Am J Transplant 22/2022, 2759–2780; Robert Ray/Dominique Martin, Missed opportunities: saving lives through organ donation following voluntary assisted dying: Internal Medicine Journal 53/2023, 861–865; Lisa Rosenbaum, Altruism in Extremis – The Evolving Ethics of Organ Donation: N Engl J Med 382/2020, 493–496; Jonah Rubin, Autonomy to a fault: The confluence of organ donation, euthanasia, and the dead donor rule: Bioethics 37/2023, 374–378; Michael Shapiro, Euthanasia by Organ Donation. Dalhousie Law Journal 41/2018 (1), 153–172; Vanessa Silva e Silva et al., Organ donation following medical assistance in dying, Part I: a scoping review of legal and ethical aspects: JBI Evid Synth 22/2024, 157–194; dies. et al., Organ donation followingmedical assistance in dying, Part II: a scoping review of existing processes and procedures: JBI Evid Synth 22/2024, 195–233; dies. et al., Outcomes from organ donation following medical assistance in dying: A scoping review: Transplantation Reviews 37/2023, 100748; Matthew J. Weiss et al., Organ donation after medical assistance in dying: a descriptive study from 2018 to 2022 in Quebec: CMAJ 29/2024 (196), E79–84.
[4]      Vgl. Vivienne Béchir, Die Organspende nach Suizidbeihilfe: aktuelle Situation in der Schweiz. Literaturreview. Masterarbeit, Bern 2024, 7; sowie die dort genannte Literatur.
[5]      Vgl. SAMW, Medizin-ethische Richtlinie. Umgang mit Sterben und Tod, Bern 2022, cp. 6.2.1

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Autor:in

Frank Mathwig

Frank Mathwig

Prof. Dr. theol. Beauftragter für Theologie und Ethik

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