Pfingsten

Pfingsten gilt als Fest des Heiligen Geistes und als Beginn der Kirche. Doch es steht nicht für ein lautes Reden, sondern für ein überraschendes Verstehen. Dieser Text zeigt, wie Pfingsten als radikales Hörereignis gedacht werden kann – jenseits von Einheitssprache und theologischer Kontrolle. Statt nur an ein Wunder zu erinnern, fordert Pfingsten Kirche und Glauben bis heute heraus: als Moment geistlicher Resonanz inmitten pluraler Welt.

Kirche als Hörereignis

«Souverän ist, wer über den Zeitgeist bestimmt. […] Der Geist ist der Reim, den wir uns auf die Dinge machen.»

Armin Nassehi[1]

Pfingsten – «Ohne das Diktat eines hegemonialen Jargons. Eher schon (wenn auch nicht nur) als dessen Subversion.»

Petra Gehring[2]

1. Der biblische Hintergrund

Pfingsten, bezeichnet den 50. Tag (pentekoste hemera), an dem die Jünger in Jerusalem zum jüdischen Schawuot-Fest zusammenkamen (Apg 2,1–41), und bildet das Ende des siebenwöchigen christlichen Osterfestkreises. Zehn Tage nach Jesu Auffahrt zurück zu seinem Vater im Himmel, mit der die irdische Existenz des Gottessohnes zu Ende gegangen war, mussten sich seine Anhänger:innen in einer Welt ohne die leibliche Anwesenheit ihres Messias zurechtfinden. Pfingsten ist das erste Fest im sich später herausbildenden Kirchenjahr, bei dem die Kirche kein Ereignis aus dem Leben Jesu, sondern seine Präsenz in Abwesenheit erinnert. Das Fest fällt in ein Loch. Es steht für eine Transitpassage im liturgischen Kalender zwischen Frühling und Sommer, Himmelfahrt und Trinitatis, Abwesenheit und Verheissung. Zwar war die junge christliche Gemeinschaft zur Zeit der Ereignisse in Jerusalem noch fest von der unmittelbar bevorstehenden Wiederkehr Christi (parousia) überzeugt (Mt 25,31; Mk 13,26; 14,62; Lk 12,40; 1Thess 4,15). Eng damit verbunden waren apokalyptische Vorstellungen vom göttlichen Endgericht (Mt 13,24–30.36–43) und der Vollendung des Gottesreiches (1Thess 4,13–17). Allerdings begegnen bereits zur Zeit von Paulus Zweifel an der Naherwartung (1Kor 15,51f.; 2Kor 5,1–10), die sich mit dem Ausbleiben der Parusie (Parusieverzögerung) sukzessive verstärkten.[3]

Die Pfingstereignisse, von denen nur die Apostelgeschichte berichtet, beginnen im Kleinen, verweisen aber auf das grosse Ganze. Am Morgen des Sabbats des jüdischen Wochenfests[4] versammeln sich die Jünger in Jerusalem zu einem gottesdienstähnlichen Anlass. Inmitten dieser Zusammenkunft kam der Geist «auf einmal vom Himmel her» (Apg 2,2) auf sie und es ereignen sich gleichzeitig ein Natur-, Feuer- und Sprachwunder: «ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, […] erfüllte das ganze Haus, in dem sie sassen; und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich zerteilten, und auf jeden von ihnen liess eine sich nieder. Und sie wurden alle erfüllt von heiligem Geist und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie der Geist es ihnen eingab.» (Apg 2,2–4). Anschliessend schwenkt die Geschichte von der Hausversammlung auf die Jerusalemer Öffentlichkeit. Dort «wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als nun jenes Tosen entstand, strömte die Menge zusammen, und sie waren verstört, denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden.» (Apg 2,5f.) Die Diasporajuden, die sich anlässlich der Feiertage in Jerusalem aufhielten, waren fassungslos und verstört (Apg 2,12). Ihre Irritation galt weniger der Glossolalie – dem damals wenig spektakulären Zungenreden (vgl. Apg 10,44ff.; 11,15ff.; 19,1ff.) – als der Tatsache, dass sie dieses fremdklingende Gerede – eigentlich handelte es sich um Xenolalie – problemlos verstehen konnten: «Wie kommt es, dass jeder von uns sie in seiner Muttersprache hört?» (Apg 2,8) Als Petrus den erstaunten und irritierten Anwesenden die Bedeutung des Erlebten erklärt, werden sie «mitten ins Herz» getroffen (Apg 2,37) und ungefähr 3.000 von ihnen lassen sich taufen (2,41).

Medientheoretisch handelt Pfingsten von einer Kommunikationssensation. Und weil Kommunikation stets zwischen Senderinnen und Hörern stattfindet, ist das Pfingstwunder ein Doppeltes bzw. Geteiltes: Die begeistert Gestimmten, konnten sich nicht nur den Fremden verständlich machen, sondern die hörbegabten ausländischen Jerusalemtourist:innen konnten die Fremden auch verstehen.[5] Personen, die eigentlich nicht miteinander reden können, weil sie aus den unterschiedlichsten Ecken der damaligen Welt stammen, können sich verständigen – genauer: sie hören in ihrer Muttersprache das Zeugnis von den grossen Taten Gottes. Das Zeugnis von Gottes Taten wird universell.[6] Nicht bloss die Juden, sondern alle Völker der Erde hören die Botschaft.

Gänzlich unerwartet kommt der Geist jedoch nicht. Die Pfingstereignisse werden als eine Erfüllungsgeschichte erzählt, die mit den Worten beginnt: «Als nun die Zeit erfüllt und der Tag des Pfingstfestes gekommen war» (Apg 2,21). Lukas bezieht sich einerseits auf die Verheissungen Jesu (Lk 24,49; Apg 1,4f.8), in denen er seinen Jüngern das Kommen des Heiligen Geistes als Kraft aus der Höhe verheisst, und auf dessen Ankündigung (Lk 24,47), dass Jerusalem zum Ausgangspunkt der Völkermission werden würde. Andererseits bettet Petrus in seinen anschliessenden Erklärungen mit Verweisen auf Joel 3,1–5 und Psalm 110 die universale Dimension der Geistausgiessung in die jüdische Tradition ein und erklärt damit Pfingsten zu weit mehr als einem Wunder unter Abwesenheit eines Wundertäters. Im Text des alttestamentlichen Propheten wird die Sendung von Gottes Geistes über alles Fleisch verheissen und als Fülle gedeutet. Der Geist wird ausgegossen jenseits gesellschaftlich konstruierter Grenzen zwischen Männern und Frauen, Alten und Jungen, Herrschenden und Dienenden. Die Egalisierung genealogischer und sozialer Differenzen illustriert die prophetische Vision von einer neuen Menschheit. Im eigentlichen Pfingstereignis wird die Perspektive durch die Verwischung der Grenzen zwischen Völkern und Sprachen ausgedrückt.

Mit Pfingsten kommt kein neuer Player ins Spiel. Der Geist ist keine neue Offenbarung, sondern legt Zeugnis ab von Jesus Christus (Joh 14,16). «[E]r wird nicht aus sich selbst reden, sondern was er hören wird, wird er reden, und was kommen wird, wird er euch kundtun» (Joh 16,13b). Er lehrt und bekräftigt, was Jesus den Jüngern gesagt hat (Joh 14,26b), durch ihn wirken Vater und Sohn in der Gemeinde. Er tritt an die Stelle des Sohnes, weist auf ihn hin und vertritt ihn in «vollkommener Selbstlosigkeit».[7] Als Lehrer und Exponent der Botschaft Jesu führt der Geist in seine Gemeinschaft und vergegenwärtigt seine Botschaft. Ostern ist also nicht Pfingsten und Pfingsten setzt die Auffahrt als Bedingung dafür voraus, dass der Geist kommen und in der Gemeinde wirken kann. Er wird «für immer bei euch bleiben» (Joh 14,16). Der Geist ist selbst ausschliesslich Zeuge und nicht Offenbarung. Von ihm geht die Zeugenschaft auf die Jünger über und bleibt durch sie in der Welt und in der Zeit bestehen.[8] Der Geist befähigt zum Zeugnis, nimmt die Menschen für seinen Dienst in Anspruch und bezeugt durch sie Jesus Christus.

2. Vom Geist des Hörens

Pfingsten ereignete sich in Jerusalem unter Mitgliedern jenes Volkes, das sich mit Überraschungen dieser Art bestens auskannte.[9] Deshalb mussten die Pfingstereignisse dem anwesenden Publikum wie ein déjà vu vorkommen, immerhin erinnerte es sich genau an dem Festtag an ein verblüffend ähnliches Ereignis: die von Naturgewalten und Feuer begleitete Theophanie am Sinai. Donner und Feuer untermalten die Szene vor dem Empfang der Gesetzestafeln am Gottesberg (Ex 19,16–19; vgl. Dtn 4,11f.36). Analog gingen auch Elijas Begegnung mit Gott am Horeb/Sinai Sturm, Erdbeben und Feuer voraus, bevor Gott im «Flüstern eines sanften Windhauchs» zu sprechen beginnt (1Kön 11,13). Die Parallelität der Ereignisse in der Wüste und in Jerusalem ist unverkennbar und die Frage nach dem Göttlichen in solchen enthüllenden und zugleich verhüllenden Phänomenen stellte sich am Sinai genauso wie in Jerusalem. Was hören die Anwesenden eigentlich, wenn Gott ihnen in dieser Weise erscheint?

Am Hören scheiden sich die Geister. Jüdische Ohren hören anders als griechisch-römisch sozialisierte, christliche Ohren. Dem im jüdischen Denken fest verhafteten Hören stand im griechisch und römisch geprägten Christentum die Fokussierung auf die aktive Rede (Verkündigung, Zeugnis) und ihrer Verschriftlichung (die Schrift) gegenüber. Auch die Reformation hat mit ihrer zumindest missverständlichen Zentralkategorie des sola scriptura zur notorischen christlich-abendländischen Schwerhörigkeit beigetragen. Denn die Betonung der «Schrift» hat immer wieder dazu geführt, das solus verbum – das «Wort» Gottes» – als Grund, Ausgangspunkt und Zentrum des reformatorischen Schriftprinzips aus den Augen zu verlieren.[10] Entsprechend wurde und wird Pfingsten in der Kirchen- und Theologiegeschichte regelmässig als Sprech– und nicht als Hörereignis rezipiert. Das geschieht gegen den biblischen Text, in dem ausschliesslich über das Gehörte und nichts über das Gesprochene berichtet wird. Während Kirche und Theologie von den Bemerkungen darüber, wie gehört wurde, einfach darauf kombiniert haben, was gesprochen wurde, lässt das biblische Zeugnis völlig offen, ob die geistgestimmten Jünger tatsächlich gesagt haben, was das geistbegabte Publikum gehört hat. Haben die Sprechenden tatsächlich intendiert und wirklich gewusst, was sie sagten und was die Angesprochenen hörten bzw. hören würden? Wäre das nicht bereits ein Gedanke zu viel, der aus Pfingsten eine «mystische Simultanübersetzungsanlage» machen würde, wie Umberto Eco bemerkt hat?[11] Die Bibel schweigt sich beharrlich über die Verbindung zwischen Sprechenden und Hörenden aus und hält lediglich fest, dass sich an Pfingsten in Jerusalem eine denkwürdige Verständigung ereignete.

Wie kann gehört werden, was nicht oder wenn nichts gesagt wird? Rabbi Mendel von Rymanow wurde im 18. Jahrhundert berühmt für seine kontrovers diskutierte These, dass eine Offenbarung der Zehn Gebote an das Volk Israel am Sinai nicht stattgefunden habe. Stattdessen behauptete er im Anschluss an die jüdische Mystik, dass Israel lediglich den ersten Buchstaben der Gesetzgebung gehört habe: das Aleph in dem Wort anochi («ich»), mit dem das erste Gebot beginnt: «Ich bin der Herr, dein Gott» (Ex 20,2). Allerdings ist der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets lautlos und hat nur die phonetische Funktion eines Lautträgers für den nachfolgenden Vokal. Er ist unhörbar und bedeutungsleer. «Das Aleph zu hören ist eigentlich so gut wie nichts, es stellt den Übergang zu aller vernehmbaren Sprache dar.»[12] Das Paradox einer im wahrsten Sinne des Wortes nichtssagenden Stimme gehört zu den Eigenarten einer jüdischen Toraauslegung. Der französische Philosoph Jean-François Lyotard bemerkt: «Die Stimme [VOIX] lässt ihre selbstlautlosen Buchstaben stimmlos, auf dem Wüstenstein. Sie lässt sie einem Volke zur Aussprache, damit es sich erfreue, bemerkt worden zu sein, von ihr, die nichts Sichtbares ist».[13] «Etwas wurde nicht etwa gesagt, sondern angekündigt, und mir scheint, dass das Aleph ankündigend ist, nämlich Atem des Anfangs, den man nicht hört. In gewisser Weise hat das Volk nichts gehört, ausser dass etwas angekündigt worden ist. Vielleicht hat es also das Aleph als Ankündigung gehört, aber als Phänomen ist das Aleph nicht vernehmbar.»[14]

Das Unaussprechliche und deshalb Undarstellbare der wortlosen Stimme Gottes wirft die Hörenden ständig auf das «Absolute» (Lyotard) zurück. Ungleich radikaler als jede Revolution im Namen der menschlichen Autonomie ereignet sich Freiheit in der Befreiung zum Hören der lautlos vernommenen Stimme des anderen. «Die gutartige Emanzipation lautet […] für das Kind, sich nach dem Ruf des Vaters zu richten, imstande zu sein, ihn zu hören. Keineswegs geht es darum, sich von dieser Stimme zu befreien.»[15] Dieses befreiende Hören entledigt sich sogar der Freiheit selbst, nämlich jener abendländischen Vorstellung vom autonomen Subjekt, «das sich nur noch sich selbst verdankt» und sich «aller Schuld gegenüber anderem» entledigt hat.[16] Die zum Hören Befreiten werden – paradoxerweise – «von einer Stimme als Geisel genommen, einer Stimme, die nicht eigentlich zu [ihnen] spricht, sondern nur sagt, dass sie ist» und die fordert, «nur auf einen Ton zu achten, nur einem Timbre Gehorsam zu leisten».[17] Diese Bindung kennzeichnet ein «absolutes Gehör»,[18] auf das das reformatorische Verständnis der libertas christiana im Anschluss an 1. Korinther 9,19–23 anspielt. Die Bindung besteht in einem Hören als Totalität, das nicht hinhört, um anschliessend Hören zu lassen, sondern das ausschliesslich hört, um zu hören. Eine Stimme ohne inhaltliche Äusserung zu hören bedeutet, jedem Versuch zu widerstehen, die Anrede der anderen Person auf den Begriff zu bringen und damit die andere Person zu identifizieren und zu vereinnahmen. Es bleibt alles beim «Höre Israel» (Sch’mah Jisrael; Dtn 6,4) und bei Lyotards Konsequenz: «Man muss davon ausgehen, dass die Stimme, die das Hören vorschreibt, nicht in den Zuständigkeitsbereich des Diskurses fällt, zumindest nicht im Sinne von Diskurs als logos[19] Die Aufforderung «Höre!» bezweckt zwar «ein Verhalten des Angesprochenen […], doch keine Bedeutung».[20]

Ein jüdischer Blick auf die Pfingstereignisse macht auf eine radikale Verschiebung aufmerksam: vom Inhalt zur Geste, von der Aussage zur Ankündigung, vom Platzhalter für das Zeichen zur Möglichkeit der Zeichen. Entscheidend ist nicht das Hören des Gesagten, sondern die Beziehung zur Stimme, die nicht durch Information, sondern durch Präsenz bindet. Die Stimme teilt nichts mit, aber verändert alles. Wer hört, antwortet nicht aus Überzeugung oder weil es etwas zu sagen gäbe, sondern aus Betroffenheit, die keine Alternative zulässt. Pfingsten bildet nicht das Gegenmodell zur babylonischen Sprachverwirrung (Gen 11,7f.). Die Sprachenvielfalt wird genauso wenig aufgehoben wie die kulturelle Zerstreuung. Vielmehr spielt Pfingsten in der babylonischen Welt. Pfingstliche Einheit geschieht unter den babylonischen Bedingungen zerstrittener Differenz und feindlicher Pluralität. Pfingsten handelt nicht von Universalismus und Uniformität allgemein gültiger Überzeugungen und Lehren, sondern von der Universalität dessen, was jede Person ausmacht und angeht. Der Geist von Pfingsten ist universell, weil er allgemeine Geltung beansprucht und deshalb nicht in universaler Einheitssprache, sondern in pluraler Vielstimmigkeit auftritt. Gottes Gegenwart widersetzt sich einer theologischen Einheitsgrammatik.

Pfingsten gilt als Geburtsstunde der Kirche, als eine Art Wartehalle der christlichen Nachfolgegemeinschaft in einer Welt, die die Wiederkunft Christi und die Vollendung des Gottesreiches ersehnt (vgl. Röm 8,22f.). Das Bild entsprach der gefährlichen Lebenswirklichkeit der urchristlichen Gemeinden weit mehr als der sich seit der Konstantinischen Wende etablierenden Kirche in einem von ihr geprägten «Christlichen Abendland». Pfingsten bestimmt die Kirche theologisch als geist(g/b)estimmten Klangkörper des in der Weltgeschichte anbrechenden Gottesreiches und als ein im Hören (immer neu) in Schwingungen versetzter Resonanzkörper von universeller Reichweite. Wie ein Cello aus einer Person eine Cellistin und ein Buch aus einer anderen Person einen Leser macht, bringt der Geist als Medium aus den Hörenden die Kirche hervor.[21] Dabei ist der Geist weder sakral lokalisierbar noch ortbar, sondern ortschaffend in der jeweils konkreten Begegnung. Er weht, wo er will (Joh 3,8), was bis heute wüste kirchliche Auseinandersetzungen und theologische Skandale befeuert. Pfingsten bleibt kirchlich ein gefährliches Pflaster, weil es sich weder theologisch bändigen noch liturgisch zähmen und homiletisch fixieren lässt. Pfingstliche Kirche bedeutet die notorische Infragestellung jeder Definition von Kirche, weil sie daraus existiert, was sie nicht besitzt und über das sie nicht verfügt. Kirche ist keine installierte und institutionalisierte Heilsanlage, sondern eine von Gott ins Leben gerufene und am Leben erhaltene Bewegungsform. Pfingsten nötigt die institutionalisierten Kirchen zur Selbstunterscheidung. Der Geist ist nicht der Spirit der Kirche, sondern Gottes Geist, den die Kirche nicht hat, sondern um dessen Gegenwart sie immer neu bittet. Deshalb ist Kirche weniger Bewahrerin als Getriebene des Geistes, der sich nicht binden, lokalisieren und systematisieren lässt, sondern da ist, wo Kirche hingehört.

3. Der Geist als Medium

Der Geist begegnet in Jerusalem als die Kraft, die nicht nur Unterschiede überwindet, sondern das Unterschiedliche zusammenhält und vereint, ohne die Unterschiede zu nivellieren.[22] Die Idee vom Geist als ein Prinzip, das alles Besondere in einem letzten Allgemeinen aufhebt und verbindet, bestimmt auch das abendländische Denken bis zu seinem Höhepunkt bei Hegel. Der Preis besteht aber in einem von Descartes der Neuzeit in die Wiege gelegten Dualismus zwischen einem reinen Geist und all dem, was dieser (von sich) wegzudenken vermag. Damit wird das vorneuzeitliche Zusammenspiel von einem kosmologischen Geist als Gesamtordnung und einem epistemologischen Geist der höchsten Erkenntnis auflöst.[23] Für Charles Taylor spiegelt sich die Differenz in dem neuzeitlichen «‹abgepufferten› Selbst» gegenüber «dem ‹porösen› Selbst der verzauberten Welt von einst» wider.[24] Im Gegensatz zum vorneuzeitlichen porösen Ich, für das «die Quellen seiner eindringlichsten und wichtigsten Gefühle ausserhalb des ‹Geistes› liegen», verfügt das neuzeitliche abgepufferte Ich über «die Möglichkeit, sich von allem, was ausserhalb des Geistes liegt, zu distanzieren und zu lösen. […] Dieses Ich kann sich als unverwundbares Wesen sehen, als Gebieter der Bedeutungen, die die Dinge für es haben.» Das neuzeitliche Subjekt kann einerseits nicht (mehr) «durch Geister, Dämonen und kosmische Kräfte verwundert werden» und sich andererseits «von allen Dingen jenseits der Grenze [des Puffers …] lösen und seinem Leben eine eigene, autonome Ordnung […] verleihen».[25] Unter den Konstruktionsbedingungen des neuzeitlichen Subjekts geht dem pfingstlichen Geist die Puste aus. Denn eine «entzauberte Welt», in der Sinn konstitutiv an das selbstbewusste Subjekt gebunden ist, wird nicht nur als gottlos verstanden, sondern kann auch nur als gottlos erlebt werden.[26] Sinn wird kommunikativ durch Fremd- und Selbstzuschreibungen (Identität) erzeugt und das Ich zum exklusiven Medium eines (selbstgenügsamen) Geistes.

Die Zumutung, die Pfingsten bereits für die Jerusalemer Feiertagstouristen bedeutete, hat sich zweitausend Jahre später massiv verschärft. Wenn Gottes Geist – wie der Wind – weht, wo er will (Joh 3,8), dann ist (1.) gänzlich unkalkulierbar, ob er als Rückenwind unterstützt, als Gegenwind ausbremst oder als Seitenwind aus dem Gleichgewicht bringt, und (2.) vollkommen irrelevant, welche Absichten, Interessen und Aufmerksamkeiten die Person leiten, die von ihm getroffen wird. Pfingsten präsentiert eine Wahrnehmungsform, die rationaler Erkenntnis fremd geworden ist und fundamental widerspricht. Die Zumutung besteht in der Vorstellung von nichtintentionaler Begegnung und Betroffenheit, das heisst in einem Erleben, das weder als beabsichtigtes noch als funktional zweck- und zielgerichtetes zustande kommt. Damit wird auch das übliche Verständnis kirchlicher Verkündigung auf die Probe gestellt, nach der eine Sprechperson – über die Bande des heiligen Geistes gespielt – einen Effekt bei den Hörenden bewirkt.

Der französische Mathematiker und Philosoph Michel Serres vergleicht dieses Kommunikationsmodell mit einer Sanduhr. Die grösste Machtposition – Sprach-, Deutungs- oder Entscheidungsmacht – befindet sich an der schmalsten Stelle, dort wo gerade ein einziges Sandkorn Platz hat. «Die Sanduhr […] bildet Beziehungen von der Art viele – einer – viele ab.»[27] Viele Sender:innen – eine Übersetzungsinstanz – viele Zuhörende. Die Übersetzungsinstanz befindet sich im Brennpunkt der Sanduhr. Der Prototyp dieser Zentralfigur ist der Götterbote Hermes, der Schutzgott des Verkehrs, der Reisenden, Händler und Diebe. «Alles geht durch Hermes‘ Hände […], weil alles sich zwischen seinen Händen mehr oder weniger verwandelt. Der Verteiler ist auch ein Transformator […]. Die Nachricht […] verändert sich beim Durchgang durch seine Hände […]. Sie gelangt nicht rein, unverändert und stabil zum Empfänger.»[28] Hermes ist der grosse Zensor, der die Knotenpunkte der Kommunikation besetzt und steuert, worauf die Aufmerksamkeit gerichtet ist und was, in welcher Weise wahrgenommen wird. Die Hermes-Funktion wird in der Theologie üblicherweise Christus und seinem Geist zugeschrieben. Aber passt die Rollenzuschreibung?

Serres widerspricht der Parallelisierung und präsentiert ein alternatives Kommunikationsmodell: «Nehmen wir einmal an, irgendein Sender spreche in seiner Sprache und jeder Empfänger verstünde ihn in seiner Sprache, ganz gleich, welches diese Sprache sei, und gleich auch, an welchem Ort sich der Empfänger befinde. Die Beziehungen lassen sich dann als von der Art viele – viele kennzeichnen, und das Netz, das sie bilden, ist ohne Zentrum, ohne Verteiler und ohne Kreuzung. […] Wenn der Redner so, als solcher, verstanden wird, verliert das Netz sein Zentrum, auch lokal: Es gibt keinen Störer mehr, keine Kreuzung, es gibt keinen Vermittler mehr […]; Hermes, der Vater Pans stirbt am Pfingsttage.»[29] Das System kollabiert, es findet keine Selektion, Transformation, Übersetzung oder neue systemische Verbindung statt. All das, was gelungene Kommunikation lebensweltlich auszeichnet, passiert nicht an Pfingsten.

Die vom Brausen angelockten Jerusalemtourist:innen bilden ebenso wenig eine Einheit, wie die Traube von Schaulustigen bei einem Verkehrsunfall. Trotzdem ereignet sich an Pfingsten genau das: Eine zufällige Ansammlung von Personen wird plötzlich und ungeachtet aller ethnischen und sprachlichen Barrieren zu einer einzigen Hörgemeinschaft, bei der Verständigung ohne Kommunikation bzw. Kommunikation als reines Hören stattfindet. Das «Pfingstschema»[30] besteht in sich unmittelbar ereignender, direkter und nicht intendierter Begegnung. «Der Dritte erscheint, der Dritte ist eingeschlossen. Vielleicht ist er jeder von uns.»[31] An Pfingsten ereignet sich ein Moment geteilter Wirklichkeit, ohne dass klar wäre, wie er zustande gekommen ist. Das Dritte, das in Jerusalem erscheint, ist nicht eine weitere Stimme, sondern eine Unterbrechung, der Kommunikation, die nicht vermittelt, sondern Differenz herstellt. Das Dritte ist nicht die Mitte zwischen Ich und Du, sondern der Bruch, der die Begegnung zwischen beiden ermöglicht. In diesem Sinn ist der heilige Geist keine göttliche Funktionseinheit und kein theologischer Dienstleister, sondern sich ereignende Möglichkeit. Er ist nicht zielgerichtet nützlich, sondern wirksam.

4. Im Geist eintauchen

Das alles klingt seltsam oder kompliziert oder beides, nicht wegen der Pfingstereignisse selbst, sondern aufgrund der Wahrnehmungsbeschränkungen des abgepufferten Selbst. Allerdings kennt auch seine Welt poröse Reservate des Ergriffenwerdens extra nos. Der ungarische Regisseur, Schriftsteller und Filmtheoretiker Béla Balázs hat anhand des Mediums Film gezeigt, was es bedeutet, «mitten drin» zu sein.[32] Der Film hebt die in allen Kunstformen zuvor unüberwindbare Distanz zwischen Objekt und Betrachtenden auf. «Die Kamera nimmt mein Auge mit. Mitten ins Bild hinein. Ich sehe die Dinge aus dem Raum des Films. Ich bin umzingelt von den Gestalten des Films und verwickelt in seine Handlung, die ich von allen Seiten sehe. […] Ich sehe Romeo und Julia doch nicht vom Parterre. Denn ich blicke aus den Augen Romeos zum Balkon hinauf, und aus den Augen Julias auf Romeo hinunter. Mein Blick und mit ihm mein Bewusstsein identifiziert sich mit den Personen des Films. Ich sehe das, was sie von ihrem Standpunkt aus sehen. Ich selber habe keinen. Ich gehe in der Menge mit, ich fliege, ich tauche, ich reite mit. Und wenn einer dem anderen im Film in die Augen sieht, so blickt er von der Leinwand mir in die Augen. Denn die Kamera hat meine Augen und identifiziert sie mit den Augen der handelnden Personen. Sie schauen mit meinem Blick.»[33] Das faszinierende Eintauchen in den Film durch den (technisch simulierten) Verlust des eigenen Standpunkts wird in der Medien- und Kunsttheorie als Immersion beschrieben. Immersion (lat. immersio) bezeichnet ursprünglich das physikalische Eintauchen eines Objekts in eine Flüssigkeit und im übertragenen Sinn die Absorbierung von Objekten oder Lebewesen durch ihre Umwelt. Es handelt sich um eine Art ästhetischer Adaption der christlichen Taufe. Mit dem Eintauchen befindet sich die Person «nicht mehr auf dem Trockenen, sondern ist rundum von Wasser umgeben, was zu veränderten Sinneswahrnehmungen und einer veränderten Erfahrung der Naturgesetze (wie z.B. der Schwerkraft) führt. [… Die Person] ist im Wasser ganz anders auf [ihre] Körperlichkeit angewiesen – die Stärken und Schwächen des Körpers bekommen andere Bedeutungen».[34] Immersion kann weder auf der Seite des Wassers oder der Musik noch auf der Seite des Subjekts lokalisiert werden, sie ereignet sich im Moment des Aufeinandertreffens. «Musikalische Immersion ist aus diesem Blickwinkel nicht in erster Linie (nur) durch die Medien charakterisiert, die immersiv auf das Ich einwirken; sie ergibt sich vielmehr aus einer spezifischen Begegnung zwischen Musik und Ich, die zu einer veränderten Aufmerksamkeit des Ich selbst führt und damit die neue Umwelt bewirkt; eine Umwelt, die nur in der Wahrnehmung des Ich, im Verhältnis zum Ich, zu einer neuen Umwelt wird.»[35]

Pfingsten ist kein Blockbuster und keine ergreifende Komposition von Johann Sebastian Bach oder Emerson, Lake and Palmer (zumindest nicht nur). Aber die Ereignisse in Jerusalem teilen mit ihnen die Resonanzmöglichkeit zwischen dem Gehörten und den Hörenden, bei der sich im Eintauchen jede Distanz auflöst und einen genuinen Pathosraum schafft. Das Gehörte (und Gelesene) wird dann nicht als Äusserung (oder Text) im Sinn eines objektiven Gegenübers erlebt, sondern als Klang oder Atmosphäre des Präsenzaums, der im Hören des Gehörten (oder im Lesen des Gelesenen) entsteht. Entscheidend sind nicht die Raumattribute, sondern die Gewissheit (Glaube), in diesem und keinem anderen Raum zu sein oder sein zu können. Dabei gilt es, die Grenzen des Bildes zu berücksichtigen. «Glaube kann man nicht ausprobieren und einen Abend lang spielen», wie einen Kino- oder Konzertbesuch. Die Besucher:innen werden keine anderen, sondern nach der Unterhaltung dorthin zurückkehren, wo sie herkamen. «Alles andere wäre gefährlich und vermutlich pathologisch. Im Glauben hingegen wird es sowohl gefährlich als auch folgenreich.»[36] Mit dem Glauben und mit der Kirche ist es – daran erinnert Pfingsten – wie mit dem Kreuz im Garten einer Kirche in Austin, Texas: Erst beim Blick aus dem grossen Kirchenfenster nach draussen wird es sichtbar.[37]

[1]       Armin Nassehi, Pneuma oder Rheuma? Erwägungen zwischen Heiligem Geist und Zeitgeist: zeitzeichen 5/2020, 32–34 (32.34).

[2]       Petra Gehring, Wind mit Feuerzungen: Zur Sprache philosophischer Zeitschriften: https://praefaktisch.de/philosophiezeitschriften/wind-mit-feuerzungen-zur-sprache-philosophischer-zeitschriften/.

[3]       Der Text greift auf Überlegungen zurück von Matthias Felder/Frank Mathwig, Pfingsten – das Erscheinen des Dritten: Matthias Zeindler/David Plüss (Hg.), «In deiner Hand meine Zeiten …» Das Kirchenjahr – reformierte Perspektiven, ökumenische Akzente, Zürich 2018, 159–186.

[4]       Vgl. Rudolf Pesch, Die Apostelgeschichte. 1. Teilband: Apg 1–12, Zürich u. a. 1986, 102. Das Passafest fiel im Todesjahr Jesu auf einen Freitag.

[5]       Vgl. Klaus Berger, Art.: Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben III: TRE XII, Berlin, New York 1984, 178–196 (184).

[6]       Vgl. Michael Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 1992, 217f.

[7]       Welker, Geist, 208.

[8]       Vgl. Udo Schnelle, Johannes als Geisttheologe: Novum Testamentum 40/1998, 17–31 (21).

[9]       Vgl. Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. III/4: Die Lehre von der Schöpfung, Zollikon-Zürich 1951, 365f.; Dietrich Ritschl, Pneumatologie, 2. systematisch-theologisch: EKL3, Bd. 3, Göttingen 1992, 1247–1252 (1249).

[10]      Vgl. Ulrich H. J. Körtner, Theologie des Wortes Gottes. Positionen – Probleme – Perspektiven, Göttingen 2001, 13.46, mit Verweis auf Heinrich Bullingers bekannte Formulierung aus dem Zweiten Helvetischen Bekenntnis «Praedicatio verbi Dei est verbum Dei». In aller Klarheit findet sich dieser Zusammenhang im Heidelberger Katechismus, vgl. Frank Mathwig, Wo sind wir, wenn wir fragen? Annäherungen an das Frage-Antwort-Ereignis im Heidelberger Katechismus: Martin Ernst Hirzel/Frank Mathwig/Matthias Zeindler (Hg.): Der Heidelberger Katechismus – ein reformierter Schlüsseltext: reformiert !, Bd. 1, Zürich 2013, 245–283.

[11]      Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, München 31995, 355.

[12]      Gershom Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Zürich 1960, 47.

[13]      Jean-François Lyotard/Eberhard Gruber, Ein Bindestrich – zwischen «Jüdischem» und «Christlichem», Düsseldorf, Bonn 1995, 27.

[14]      Vor dem Gesetz, nach dem Gesetz. Gespräch mit Jean-François Lyotard: Elisabeth Weber (Hg.), Jüdisches Denken in Frankreich, Frankfurt/M. 1994, 157–179 (162).

[15]      Lyotard/Gruber, Bindestrich, 19.

[16]      Lyotard/Gruber, Bindestrich, 11.

[17]      Jean-François Lyotard, Heidegger und die Juden, Wien 2005, 32.

[18]      Lyotard/Gruber, Bindestrich, 20.

[19]      Lyotard/Gruber, Bindestrich, 134.

[20]      Ebd.

[21]      Vgl. Philipp Stoellger, Geist als Medium in den Medien des Geistes. Zur pneumatologia crucis: Albrecht Philipps (Hg.), Creator Spiritus. Das Wirken des Heiligen Geistes als theologisches Grundthema, Göttingen 2019, 15–40 (16).

[22]      Vgl. Nassehi, Pneuma, 32.

[23]      Vgl. Dirk Evers, «Der Geist, der lebendig macht …» Pneumatologie und Empirie: Philipps (Hg.), Creator, 89–107 (91–93).

[24]      Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt/M. 2009, 72.

[25]      Taylor, Zeitalter, 72f.

[26]      Vgl. Evers, Geist, 95f.

[27]      Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt/M. 1987, 70.

[28]      Ebd.

[29]      Serres, Parasit, 70f.

[30]      Serres, Parasit, 73.

[31]      Serres, Parasit, 78.

[32]      Vgl. Béla Balázs, Der Geist des Films, Halle 1930, 9; vgl. dazu Stoellger, Geist, 35–40.

[33]      Balázs, Geist, 9f.

[34]      Marie Louise Herzfeld-Schild, Musikalische Immersion. «Hörende Anwesenheit spüren»: Navigationen – Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften 19/2019, Nr. 1, 71–88 (71f.); vgl. Frank Mathwig, «… a gift that God himself needs» (Nick Cave). Über die Rede vom Hören Gottes ….: Magdalene L. Frettlöh/Matthias Zeindler (Hg.), «Offener nichts als das geöffnete Ohr». Motive einer Theologie des Hörens. reformiert! – Bd. 15, Zürich 2023, 197–218.

[35]      Herzfeld-Schild, Immersion, 72.

[36]      Stoellger, Geist, 38f.

[37]      Vgl. Ingrid Schobert, «Du stellst meine Füsse auf weiten Raum» – Raummetaphern und leibhaftiges Leben: Reinhard Bernhardt/Ulrike Link-Wieczorek (Hg.), Metapher und Wirklichkeit. Die Logik der Bildhaftigkeit im Reden von Gott, Mensch und Natur, Göttingen 1999, 241–251 (251).

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Frank Mathwig

Frank Mathwig

Prof. Dr. theol. Beauftragter für Theologie und Ethik

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