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Beat Büchis Dissertation «Die Ordnung der Kirche. Eine evangelisch-reformierte Kriterienbildung im Kontext der Schweiz» ist weit mehr als eine historische oder juristische Analyse. Sie entfaltet eine tiefgehende theologische Reflexion über die Kirchenordnung in der reformierten Tradition und entwickelt daraus einen systematisch fundierten Kriterienkatalog. Dabei bewegt sich die Arbeit an der Schnittstelle von Dogmatik, Ethik und kirchlichem Verfassungsrecht – eine Perspektive, die sowohl für Fachtheolog:innen als auch für kirchenleitende Gremien von grosser Relevanz ist.
Die reformierte Kirche versteht ihre Ordnung nicht als reine Verwaltungssache, sondern als Ausdruck theologischer Überzeugungen. Bereits Johannes Calvin und Heinrich Bullinger waren davon überzeugt, dass die Kirche nicht nur durch ihre Lehre und Sakramente, sondern auch durch ihre Ordnung geprägt wird. Eine theologisch fundierte Kirchenordnung dient dabei nicht nur der organisatorischen Stabilität, sondern trägt dazu bei, dass das Evangelium klar und wirksam verkündigt wird.
Von Beginn an stand die reformierte Kirche in einem Spannungsfeld zwischen theologischer Norm und historischer Praxis. Während Luther die kirchliche Ordnung stärker an bestehenden politischen Strukturen orientierte und die lutherischen Landeskirchen früh mit den Fürsten verbunden waren, entwickelten die Reformierten eine Vorstellung von Kirchenordnung, die sich bewusst von weltlicher Macht emanzipierte. Der Genfer Reformator hat ein presbyterial-synodales Modell entwickelt, in dem Älteste und Pastoren gemeinsam Verantwortung trugen – ein Modell, das bis heute die Grundlage reformierter Kirchenordnungen bildet.
«Heute stehen die reformierten Kirchen vor der Aufgabe, ihre Ordnung unter veränderten Bedingungen weiterzuentwickeln, ohne ihre theologischen Grundlagen zu verlieren.»
Doch die Kirchenordnung ist kein statisches Konstrukt. In der Neuzeit wurde sie durch das Staatskirchentum, gesellschaftliche Pluralisierung und die nachlassende Kirchenbindung immer wieder herausgefordert. Heute stehen die reformierten Kirchen vor der Aufgabe, ihre Ordnung unter veränderten Bedingungen weiterzuentwickeln, ohne ihre theologischen Grundlagen zu verlieren.
In der Schweiz wurde diese Herausforderung zuletzt mit der 2020 verabschiedeten Verfassung der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) besonders sichtbar. Die neue Ordnung hat nicht nur Zustimmung, sondern auch kritische Rückfragen ausgelöst: Wird sie den theologischen Prinzipien der reformierten Tradition gerecht? Oder bedarf sie einer theologischen Korrektur?
Genau hier setzt Büchis Dissertation an: Sie fragt, welche institutionenethischen Kriterien eine nach Gottes Wort reformierte Kirchenordnung leiten sollten – und wie sich diese in einer gegenwärtigen Kirchenverfassung abbilden lassen.
Büchi geht von der These aus, dass die Kirchenordnung nicht einfach eine pragmatische Notwendigkeit ist, sondern eine zutiefst theologische Angelegenheit, die das Wesen der Kirche berührt. Er formuliert die Kernfrage:
Welche institutionenethischen Kriterien sind für eine reformierte Kirchenordnung entscheidend? Um diese Frage zu beantworten, verbindet die Arbeit historische Analysen mit systematischer Theologie und entwickelt ein mehrstufiges Untersuchungsmodell. Ein zentraler methodischer Bezugspunkt ist der Dreischritt «sehen – urteilen – handeln», der aus der katholischen Sozialethik stammt und von der Befreiungstheologie weiterentwickelt wurde. Büchi reinterpretiert ihn offenbarungstheologisch und wendet ihn auf die Kirchenordnung an.
Die Arbeit ist in fünf Hauptteile gegliedert, die systematisch von den Grundlagen bis hin zur praktischen Anwendung der reformierten Kirchenordnung führen. In der Einleitung skizziert Büchi die zentrale Bedeutung der Kirchenordnung innerhalb der reformierten Tradition und zeigt auf, dass sie nicht nur eine funktionale, sondern auch eine theologisch begründete Notwendigkeit darstellt. Ziel der Untersuchung ist es, Kriterien zu entwickeln, die sowohl biblisch fundiert als auch für die heutige reformierte Kirche in der Schweiz relevant sind.
Das zweite Kapitel, die Prolegomena, legt die methodologische Basis der Arbeit und reflektiert die Kirchenordnung aus einer theologisch-strukturellen Perspektive. Büchi greift dabei auf enzyklopädische und offenbarungstheologische Konzepte zurück, um eine tragfähige Grundlage für die weitere Analyse zu schaffen.
Im dritten Kapitel, der fundamentalen Ekklesiologie, werden die historischen und theologischen Prinzipien der Kirchenordnung systematisch dargestellt. Die Betrachtung der Positionen von Johannes Calvin, Heinrich Bullinger, Friedrich Schleiermacher und Karl Barth zeigt auf, dass die Kirchenordnung in der reformierten Tradition stets eine Balance zwischen theologischer Notwendigkeit und praktischer Strukturierung finden musste. Dabei wird betont, dass sie sich immer am Wort Gottes orientieren und in jeder Epoche reformiert werden muss.
Das vierte Kapitel, die materiale Ekklesiologie, wendet sich der konkreten Ausgestaltung der Kirchenordnung zu. Hier zeigt Büchi, dass die kirchliche Ordnung aus der Wechselwirkung von Auftrags-, Leitungs- und Territorialordnung besteht. Durch die sogenannte Matrixordnung wird versucht, diese Elemente kohärent zu verbinden und eine praxisnahe Kirchenstruktur zu entwerfen.
Den Abschluss bildet ein offener Kriterienkatalog, der in einem eigenständigen Schlusskapitel systematisiert wird. Hier fasst Büchi die erarbeiteten Prinzipien zusammen und formuliert theologisch fundierte Kriterien für eine reformierte Kirchenordnung. Diese sollen nicht nur zur Bewertung bestehender Verfassungen dienen, sondern auch als Orientierung für zukünftige Reformprozesse innerhalb der reformierten Kirche.
Eines der zentralen Argumente der Arbeit ist, dass eine reformierte Kirchenordnung nicht von weltlichen Strukturen oder Machtinteressen geprägt sein darf, sondern sich ausschließlich aus der Theologie ableiten muss. Büchi folgt der reformierten Tradition, die bereits von Johannes Calvin und Heinrich Bullinger geprägt wurde: Die Kirche wird nicht durch hierarchische, monarchische oder staatliche Strukturen geleitet, sondern durch eine kollegiale, presbyterial-synodale Ordnung, die allein Christus als Haupt der Kirche anerkennt.
Die historische Perspektive zeigt, dass sich die reformierte Kirchenordnung in verschiedenen Kontexten unterschiedlich entwickelt hat. Während sich in der Schweiz ein föderalistisches, konsensuales Modell durchsetzte, dominierte im englischsprachigen Raum mit den Westminster Standards eine stärker dogmatisch fixierte Presbyterianische Ordnung. Im 20. Jahrhundert griff Karl Barth das Prinzip der „nach Gottes Wort reformierten Kirche“ erneut auf, insbesondere im Kampf gegen die „Deutschen Christen“ und in der Formulierung der Barmer Theologischen Erklärung von 1934.
Ein besonders aufschlussreicher Aspekt der Untersuchung ist die Frage nach dem Amtsverständnis in der reformierten Kirchenordnung. Während in katholischer und orthodoxer Tradition das kirchliche Amt als sakramental geordnet und hierarchisch strukturiert gilt, betont die reformierte Theologie das allgemeine Priestertum aller Gläubigen und eine kollegiale Leitung der Kirche.
Büchi analysiert das reformierte Amtsverständnis im Kontext der Kirchenordnung und arbeitet zwei kontrastierende theologische Modelle heraus:
1. Die Stiftungstheorie: Hier wird das kirchliche Amt als göttliche Setzung verstanden. Calvin etwa sah die vier Ämter (Pastoren, Doktoren, Älteste und Diakone) als von Christus selbst gestiftet. Diese Ämter stehen nicht in einem hierarchischen Verhältnis, sondern haben unterschiedliche, aber gleichwertige Aufgaben in der Leitung der Kirche.
2. Die Übertragungstheorie: Nach dieser Sichtweise ist das Amt nicht unmittelbar von Christus gestiftet, sondern entsteht durch die Beauftragung der Gemeinde. Die Kirche bestimmt also in eigener Verantwortung, welche Funktionen notwendig sind und wer diese ausführt. Dieses Modell ist insbesondere für die moderne reformierte Kirche prägend.
Die heutige Praxis der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) bewegt sich zwischen diesen beiden Modellen. Während einerseits an einer institutionell verankerten Ordination festgehalten wird, zeigt sich zugleich eine zunehmende Ämterindifferenz: Die klare Unterscheidung zwischen ordinierten Pfarrer:innen und anderen Amtsträger:innen und anderen kirchlichen Leitungsfunktionen wird zunehmend verwischt.
Büchi kritisiert diese Entwicklung und plädiert für eine theologisch klarere Begründung des reformierten Amtsverständnisses. Dabei stellt er mehrere Kriterien auf, die eine theologisch reflektierte Leitungsordnung auszeichnen:
• Das theozentrisch-mehrgliedrige Leitungsämterkriterium: Die Leitung der Kirche muss sich an der biblischen Ordnung orientieren und darf nicht durch pragmatische oder demokratische Prinzipien überformt werden.
• Das allgemeine Priester-, Propheten- und Königtumkriterium: Alle Gläubigen tragen Verantwortung für die Kirche, doch bedarf es spezifischer Ämter, um Leitung und Verkündigung zu gewährleisten.
• Das presbyterial-synodale Kollegialitätskriterium: Entscheidungen sollen stets in kollektiven Gremien getroffen werden, um eine Konzentration von Macht zu vermeiden.
• Das Ordinationskriterium: Die Ordination bleibt ein zentrales Zeichen für die besondere Beauftragung, darf aber nicht in eine sakramentale Amtsauffassung münden.
Büchi zeigt, dass das reformierte Amtsverständnis bis heute von einem grundlegenden Spannungsverhältnis geprägt ist: Einerseits besteht der Anspruch, dass die Kirche nicht durch Einzelpersonen, sondern gemeinschaftlich geleitet wird. Andererseits zeigt sich in der kirchlichen Praxis eine zunehmende Individualisierung von Leitung. Insbesondere hinterfragt Büchi:
• Das Verhältnis von Synode und Kirchenleitung: Wie kann eine theologisch fundierte Leitungsordnung aussehen, die sich nicht bloß an politischen Organisationsprinzipien orientiert?
• Die Rolle der Präsidentschaft: Ist das Amt der EKS-Präsidentin oder des EKS-Präsidenten theologisch legitimierbar, oder führt es zu einer versteckten Episkopalisierung?
• Die Entscheidungsfindung auf nationaler Ebene: Entspricht das aktuell praktizierte Modell tatsächlich dem reformierten Subsidiaritätsprinzip?
Seine Untersuchung regt dazu an, die ekklesiologischen Grundlagen des reformierten Amtsverständnisses neu zu bedenken – eine Frage, die für die zukünftige Gestalt der reformierten Kirche von zentraler Bedeutung sein wird.
Diese Dissertation ist eine wissenschaftlich anspruchsvolle, aber hochrelevante Untersuchung für alle, die sich mit der Ordnung der reformierten Kirche befassen. Sie bietet eine exzellente theologische Grundlage für aktuelle kirchliche Debatten – insbesondere für die Frage, wie sich die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz in Zukunft verfassungsrechtlich aufstellen sollte.
Büchis Untersuchung füllt eine wesentliche Lücke in der reformierten Theologie. Sie zeigt, dass eine Kirchenordnung nicht nur eine organisatorische Notwendigkeit, sondern ein Ausdruck des Evangeliums ist. Diese Arbeit ist ein wertvoller Beitrag zur theologischen Debatte über Kirchenordnung und Verfassung. Sie zeigt auf, dass die Ordnung der Kirche eine geistliche und keine rein organisatorische Frage ist.
Es ist kein Handbuch für Gemeindeleitung oder kirchliche Reorganisationen. Teilweise kommt die Studie etwas wuchtig-dogmatisch und empirisch kurzatmig daher, z.B. wenn Büchi schreibt: «Das empirische Erkennungszeichen aller Föderalgemeinden der einen Gemeinde Gottes muss daher rechtfertigungs- bzw. erwählungsaxiomatisch in der gemeindlichen Darstellung des kontinuierlich-rituellen Empfangens der einen, vereinenden Gnade Gottes im Abendmahl liegen.» (548.)
Jede Ordnung muss sie sich nicht nur daran messen lassen, ob sie den normativen Grundlagen der reformierten Theologie entspricht, sondern auch daran, welche Antworten sie auf die erlebte Realität der Kirche anbietet – den Mitgliederschwund oder die dezentralen Organisationsformen, den fehlenden Nachwuchs in kirchlichen Berufen – und ob sie darin eine dynamische, offene und lebendige Kirche ermöglicht.
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