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Überirdisch entrückt und doch ganz verbunden

Rezension «Umlaufbahnen» von Samantha Harvey

Kriege, Klimakrise und Vormarsch rechter Ideologien. Angesichts der weltweiten Situation könnte man schon verzweifeln. Da erinnert uns die britische Autorin Samantha Harvey mit ihrem äussert originellen Roman daran, für kurze Zeit aus dem irren Spin menschengemachter Probleme und Katastrophen herauszutreten. Wie? Mit einer Reise ins All.

Und das hat im Buch «Umlaufbahnen» nichts mit dem Aufbruch in weitentfernte Galaxien zu tun. Nein, Harvey geht genau auf die Distanz, die es erlaubt, unsere Heimat, diesen gewaltigen Planeten, einmal als Ganzes zu betrachten. Durch die Augen von sechs Astronaut:innen und Kosmonauten, die 400 km Höhe 16-mal pro Tag um die Erde kreisen.

Worum geht es in «Umlaufbahnen»?

Schwer zu beschreiben, irgendwie um alles und nichts. Harvey schafft es in ihrem Roman fast durchgängig auf der Metaebene zu bleiben. Was die sechs Crewmitglieder in der Raumstation tun, gerät Seite für Seite zur Nebensache. Viel Zeit verwendet die Autorin darauf, die Erdoberfläche zu beschreiben. Gleitet dabei aber nie in Kitsch und Romantik ab. «Umlaufbahnen» ist ein entschleunigtes Buch.

Welche Gedanken nimmt man mit?

«Reisen im Weltraum bedeutet, sich der Schönheit und Zerbrechlichkeit der Erde bewusst zu werden», sagte der Schweizer Astronaut Claude Nicollier einmal so treffend. In jedem Kapitel ihres Buches macht die Autorin den Lesenden implizit deutlich: Wenn man unseren verrückten wundervollen Planeten doch einmal mit Abstand betrachten würde, sind wir alle vielmehr verbunden als getrennt. Schauen die Kosmo- bzw. Astronauten bei Tageslicht auf den blauen Himmelkörper, ist keine Spur der menschlichen Zivilisation zu sehen. Keine Grenzen, keine Städte, nur Weite und Farben. Das verändert die Crew: «Bevor sie hierherkamen, hatten sie das Gefühl, es gäbe eine andere Seite der Welt, etwas weit Entferntes, kaum Erreichbares. Nun sehen sie die Kontinente wie überwuchernde Gärten ineinander übergehen…».

Harvey schildert unseren Heimatplaneten als erhabenen faszinierenden Organismus, der geduldig unter dem Raumschiff seine Runden dreht. Zugleich wird der Crew klar, wie fragil das Gleichgewicht der Erde ist, wenn sie z.B. einen Taifun auf die Küste treffen sehen oder die hauchdünne Schicht Atmosphäre, die das Leben erst ermöglicht. Sie sehen, welche Auswirkungen die menschlichen Eingriffe auf die Natur haben: abschmelzende Gletscher, Grossfeuer, Algenteppiche, schwindende Regenwälder. «Ein Planet, vom Verlangen geprägt und gestaltet.»

Trotz aller irdischen Beschreibungen: Umlaufbahnen ist auch ein Roman über die Menschen. Wo auch immer wir hingehen, unsere menschliche Natur nehmen wir mit. Die Astronauten erleben im All Trauer, Einsamkeit und Schmerz genauso wie Hochgefühle und Erstaunen angesichts ihrer aussergewöhnlichen Position. So weit weg von der Erde und ihr doch so verbunden. So denkt Kosmonaut Anton über seine Scheidung nach, Astronautin Chie muss den Tod ihrer Mutter verarbeiten, Pietro sorgt sich um eine befreundete Familie in den Überflutungsgebieten. Solch kraftvoll Abschnitte unterbricht Harvey durch den Einschub von unterhaltsamen Episoden: Wenn beispielsweise Pietro versucht zu kochen und versehentlich Knoblauch in der ganzen Lüftungsanlage des Raumschiffs verteilt, die russischen Kosmonauten über die Vorzüge von Konservenmilch philosophieren oder die Astronauten im schwerelosen Schlaf vergessen, wo ihre Gliedmassen sind.

Auch religiöse Gefühle finden in dem Buch ihren Platz. Astronaut Shawn sieht im wundersamen Universum einen Plan Gottes, während seine Kollegin Nell genau darin einen wunderbares willenloses Chaos erkennt. Im Angesicht der Erde erleben die Crewmitglieder Epiphanien. «Mitunter sehen sie die Erde an und sind versucht, alles, wovon sie wissen, dass es wahr ist, über Bord zu werfen und zu glauben, dass dieser Planet im Zentrum von allem steht. Er wirkt so spektakulär, so ehrwürdig und majestätisch. Sie würden sich weismachen lassen, dass Gott selbst die Erde dort, im Zentrum des tanzenden Universums, platziert hat, ganz leicht könnten sie all die Wahrheiten vergessen, die Männer und Frauen […] aufgedeckt haben und die beweisen, dass die Erde ein winziger Fleck im Zentrum von Nichts ist.» Ein anderes Mal schauen die Astronauten die Erde an und erkennen ihre perfekte Oberfläche, substanzlos, sie wird «zu einer Erscheinung, einem Heiliger Geist.»

«Ich sehe es als eine Art Weltraumpastoral», sagte Harvey 2024 im Podcast New Scientist zum Buch, das den renommierten Booker Prize gewann. «Ich wollte sehen, was man mit Worten auf malerische Weise anstellen kann, um zu versuchen, diesen verzückten, freudigen, aussergewöhnlichen und auch jetzt etwas trauernden Blick auf die Erde heraufzubeschwören.»

In einem der letzten Kapitel wagt Harvey einen noch weiteren Abstand und schildert die Geschichte des Universums in einem Kalenderjahr. Der Mensch betritt in dieser Metapher erst am Nachmittag des 31.12. die Erde. So spät, so unbedeutend? Nein, die Autorin findet versöhnlichere Gedanken. Es wird eine Zukunft geben, es liegt letztlich in der Hand der Menschheit, wie diese aussehen wird.

EKS blog

Autor:in

Michèle Graf-Kaiser

Michèle Graf-Kaiser

Fachmitarbeiterin für Medienkommunikation Deutschschweiz/Collaboratrice pour communication médias suisse-alémanique

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