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Ringen um Gemeinschaft in Verschiedenheit

Wie die GEKE-Vollversammlung über Gender und Gleichstellung diskutierte

Eine Rückschau auf die Ergebnisse der Vollversammlung der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa GEKE: Ende September 2024 trafen sich Delegierte aus den fast 100 Mitgliedkirchen der GEKE im rumänischen Sibiu. Zur Delegation der EKS gehörte auch die reformierte Zürcher Genderbeauftragte Sabine Scheuter. Sie widmete sich während des Treffens der kontrovers diskutierten Genderstudie der GEKE. Im Interview erzählt sie, wie sie den Mittelweg zwischen liberaler Position und Verständnis für konservativere Ansichten fand.

Sabine Scheuter, Sie reisten als Mitglied der EKS-Delegation an die Vollversammlung der GEKE. Ihr Schwerpunkt lag auf der Frauen- und Gender-Thematik. Ein Highlight fand für Sie allerdings schon vor der Vollversammlung statt, oder? 
Ja, denn zwei Tage vor Beginn der Vollversammlung fand die Feier von 30 Jahren Frauenordination in der evangelischen Kirche von Rumänien statt, zu der auch alle ordinierten Frauen unter den Delegierten eingeladen waren. Zum Einstieg erzählten fünf Frauen etwas über die Geschichte und Situation der Frauen und insbesondere der Pfarrerinnen in ihren Herkunftsländern. Ich berichte aus der Schweiz.

Wie kam das an? 
Die Kolleginnen waren erstaunt über die sehr frühe Ordination 1918 der ersten beiden Frauen in Zürich, und auch darüber, wie viele Frauen bei uns in den letzten Jahren Leitungsfunktionen übernommen haben. Hier zeigen sich noch grosse Unterschiede zwischen den Kirchen.  

Inwiefern? 
In den rumänischen Kirchen gibt es zwar schon einige Frauen im Pfarramt, doch noch sehr wenige in Leitungsämtern. In einzelnen Kirchen gibt es auch noch offene Ungleichbehandlung: In der Ausbildungsstätte der Unitarischen Kirche war lange Zeit nur ein Studienplatz von insgesamt 20 für eine Frau reserviert. Durch den Pfarrmangel wurde diese Zahl vor einigen Jahren auf fünf erhöht, aber nicht ganz geöffnet, obwohl die Studienplätze der Männer nicht mehr besetzt werden können. 

Sind die Frauen dennoch optimistisch? 
Ja. Insgesamt wurde weniger über Benachteiligung gesprochen, sondern vielmehr über alles, was die Frauen erreicht haben. Die Teilnahme der internationalen Gäste hat sicher dazu beigetragen, die Position der Pfarrerinnen innerhalb der rumänischen Kirchen zu stärken. Die Festschrift zum Jubiläum namens «Wege entstehen im Gehen» dokumentiert die Entwicklungen.  

Das zweite spannende und zugleich herausfordernde Thema war für Sie die Studie «Gender, Sexualität, Ehe, Familie», die auf der GEKE-Vollversammlung behandelt wurde. 
In der Tat. Die Studie war ein Auftrag aus der letzten Vollversammlung. Sie ist kein Positionspapier. Meines Erachtens ist sie vielmehr eine sehr fundierte und differenzierte Zusammenstellung der aktuellen Diskussion und Situation in den verschiedenen Kirchen. Sie bildet eine gute Gesprächsgrundlage für den Dialog unter den Kirchen und in den Kirchen. 

Das Papier sorgte schon im Vorfeld für Unmut und Diskussionen. Warum? 
Für einige der Delegationen, vor allem aus den osteuropäischen Ländern, ist es schwierig, über diese Themen schon nur zu sprechen. Teils aus biblisch-theologischen Gründen, teils aufgrund des Drucks aus Gesellschaft und Politik sehen sie ihr Wertesystem durch die Auseinandersetzung mit Genderthemen gefährdet. So hatte die Delegation der reformierten ungarischsprachigen Kirchen verlangt, dass die Besprechung der Studie von der Traktandenliste gestrichen wird.  

Der Rat der GEKE ist diesem Antrag aber nicht gefolgt.  
Ja, deshalb hat die ungarische Delegation ihre Teilnahme an der Konferenz abgesagt. Ihr Fehlen lastete über der ganzen Vollversammlung.  

Wie erlebten Sie dann die Diskussionen vor Ort in Sibiu? 
In persönlichen Gesprächen und auch in den Plenumsdiskussionen war das Sprechen über die Studie eine grosse Herausforderung. Denn auf beiden Seiten ging es um sehr persönliche Themen, um Grundfragen der Identität und der Lebensführung. Die sind oft auch verbunden mit Ängsten oder Verletzungserfahrungen. Dazu waren zentrale christliche Werte wie Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit involviert. 

Wie fanden Sie einen Weg in diesem Umfeld?  
Es war herausfordernd. Bereits an der Frauenfeier vor der Vollversammlung wurde ich auf die Studie angesprochen. Die schwesterliche Verbundenheit machte das heikle Gespräch möglich, sie wurde aber auch auf die Probe gestellt. Ich suchte eine Balance zwischen meiner klaren Haltung in einer liberalen Position und dem Verständnis für einen Kontext, in dem eine solche Position alles andere als selbstverständlich ist. 

Zeichneten sich diese unterschiedlichen Haltungen auch in den offiziellen Diskussionen ab? 
Ja. Im Plenum wurde ebenfalls um diese Balance gerungen. Fürsprecher:innen der ungarischen Delegation beantragten, dass die Studie mit den kritischen Kommentaren der ungarischen Kirche hätte veröffentlicht werden sollen. Das Plenum hätte diesen Antrag wohl abgelehnt, und damit noch einmal ein Zeichen gegen die Minderheitsmeinung gesetzt.  

Aber es kam anders? 
Irgendwie war an diesem Abend ein Hauch der heiligen Geistkraft spürbar. So empfand ich es auf jeden Fall. Kurz vor der Abstimmung stellte jemand den weisen Antrag, den Entscheid zu vertagen, und über Nacht nochmals nach einer Lösung zu suchen, die beiden Seiten gerechter werden könnte. Ein solcher Vorschlag wurde tatsächlich am nächsten Tag präsentiert. Der Text soll in den kommenden Monaten nun mit einem Vorwort des Rates versehen werden, das die verschiedenen Kontexte und Spannungen sichtbar und nachvollziehbar macht.  

Welche Erkenntnisse nehmen Sie aus Sibiu mit? 
Dieses Ringen um Gemeinschaft in Verschiedenheit war sehr eindrücklich für mich. Ich glaube, dass wir davon auch für unsere Kirchen viel lernen können. Denn auch bei uns sind die Themen der Studie noch lange nicht zu Ende diskutiert. Ich hoffe, dass wir in der Schweiz, auch mit Hilfe der Studie, uns im Genderthema weiterbewegen. So wie unsere Geschwister in den anderen europäischen Kirchen, alle im jeweils eigenen Tempo.  

Das Interview wurde im November 2024 geführt.

EKS blog

Autor:in

Michèle Graf-Kaiser

Michèle Graf-Kaiser

Fachmitarbeiterin für Medienkommunikation Deutschschweiz/Collaboratrice pour communication médias suisse-alémanique

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