Über Universalismus und Vergeltung in Ethik und Recht
«If it will feed nothing else, it will feed my revenge. […] If you prick us, do we not bleed? If you tickle us, do we not laugh? If you poison us, do we not die? And if you wrong us, shall we not revenge?»
William Shakespeare, Merchant of Venice
«Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts […] eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex, sowohl des Staats- und Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt, und so zum ewigen Frieden».
Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden
1. Universalismus und Mehrheit
Es scheint, als käme der 300. Geburtstag von Immanuel Kant gerade noch rechtzeitig – nicht, weil seine Philosophie obsolet geworden wäre, sondern weil seine Ideen Politik und Gesellschaft nicht mehr zeitgemäss erscheinen und ihr starker Selbstverpflichtungscharakter zu unbequem geworden ist. So konsequent der Philosoph das Selbstdenken des autonomen Subjekts verteidigte, so klar sah er, dass die Freiheit jeder Person nur durch eine universale Rechtsordnung gewährleistet, geschützt und verteidigt werden kann. «Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.» Im Kern geht es Kant nicht um die Formulierung konkreter moralischer Normen und Gesetze, sondern um die Prinzipien von Ethik und Recht und die Begründung ihrer universalen Geltung. Epochenbildend war seine transzendentale Setzung des freien Willens als Grund der unhintergehbaren Würde des moralischen Subjekts und der Rechtsperson. Er war fest davon überzeugt, damit die normativen Pflichten und Ordnungen den partikularen, interessengeleiteten Spielen von sozialer Macht und politischer Herrschaft ein für alle Mal entzogen zu haben. Freiheit ist kein individuelles oder Gruppenprivileg, sondern der unterstellte Status der Person, der ein universales reziprokes Anerkennungsverhältnis aller Personen begründet. Folgerichtig kann die Souveränität der Gesetzgebenden (der Bürger:innen als Autor:innen und Unterworfene des Rechts) nur eine relative (und insofern keine eigentliche Souveränität) sein, weil sie die Freiheit der Person voraussetzt, die diese nicht selbst setzen (sondern nur mit Gewalt gegen die Schwächeren durchsetzen) kann. An diese Begründungsfigur konnte – spät aber immerhin – die christliche Deutung der Gottebenbildlichkeit als göttliche Bestimmung anschliessen, die Kirche und Theologie einen positiven Zugang zu den Menschenrechten eröffnete.
Der Königsberger Philosoph war nicht so weltfremd, seine prinzipienethische und völkerrechtliche Rechnung ohne die conditio humana der bürgerlichen Wirt:innen zu machen. «Daher sind Leidenschaften nicht bloss, wie die Affekten, unglückliche Gemütsstimmungen, die mit viel Übeln schwanger gehen, sondern auch ohne Ausnahme böse […]. Der Affekt tut einen augenblicklichen Abbruch an der Freiheit und der Herrschaft über sich selbst. Die Leidenschaft gibt sie auf und findet ihre Lust und Befriedigung am Sklavensinn. Weil indessen die Vernunft mit ihrem Aufruf zur innern Freiheit doch nicht nachlässt, so seufzt der Unglückliche unter seinen Ketten, von denen er sich gleichwohl nicht losreissen kann: weil sie gleichsam schon mit seinen Gliedmassen verwachsen sind.» Vor diesem Hintergrund ist Kants berühmte Antwort in seiner Preisschrift Was ist Aufklärung? zu lesen: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. […] Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.» Und nüchtern konstatiert der Philosoph die Herausforderung seines Programms: «Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen liess. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Missbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fussschellen einer immerwährenden Unmündigkeit.» Das von seinem antiken Kollegen Aristoteles betonte anthropologische Merkmal der Sozialität (zoon politikon, animal sociale) bildet für Kant eine höchst ambivalente menschliche Notwendigkeit und Fähigkeit. Sie ermöglicht die soziale Sorge und Verantwortung für andere genauso, wie einen opportunistischen Konformismus durch die Tyrannei der Massen (Alexis de Tocqueville). No risk, no benefit.
Kant reagiert mit seiner praktischen Philosophie auf ein fundamentales ethisches und rechtliches Dilemma: die Ungleichbehandlung, Ungerechtigkeit und Diskriminierung durch partikulare Moralen, die Faktizität des Rechts und seine Auslegung. Die konstruktionsbedingten gesellschaftlichen und politischen Schwachstellen verletzen je auf ihre Weise den Respekt gegenüber der Autonomie der Person. Die von Kant kritisierte Unmündigkeit ist eine doppelte entlang der Unterscheidung zwischen Personen und Gruppen, die zu Opfern in einem Spiel werden, weil sie davon ausgeschlossen sind, und Personen und Gruppen, die zu Opfern werden, weil sie mitgespielt und verloren haben. Es liegt eine Welt zwischen denen, die unmündig gemacht werden, indem ihnen ihr Status als moralische und Rechtssubjekte verweigert wird, und denjenigen, die als moralische und Rechtssubjekte in ihrer Unmündigkeit verharren oder sich unmündig machen. Daraus folgt: (1.) Sich selbst unmündig zu machen oder von anderen für unmündig erklärt zu werden, ist ein himmelweiter Unterschied. (2.) Für die Folgen der eigenen Unmündigkeit ist die Person selbst verantwortlich. (3.) Das unmündig-gemacht-Werden bedeutet in jedem Fall eine verbrecherische Beugung und Bestreitung des Status des moralischen und rechtlichen Subjekts.
Die Gewalt der Entmündigung durch Personen, Gesellschaft und politische Institutionen stellt eine permanente Gefährdung für alle dar, die sich nicht strukturell und verfahrenstechnisch aus der Welt bringen lässt. Auch Demokratien sind davor nicht geschützt, weil jeder Mehrheitsentscheid eine Minderheit hervorbringt und häufig die Machtlosigkeit von Minderheiten reproduziert und zementiert. Das demokratische Mehrheitsprinzip ist das politisch am besten kalkulierbare und gerechtigkeitsethisch labilste Verfahren, weil es auf der Übereinkunft beruht, proportionale Gerechtigkeitsfragen arithmetisch aufzulösen.
2. Zur Reproduktion von Unmündigkeit
Die lange Zeit auf Hochglanz polierte liberale Demokratie hat in der jüngeren Vergangenheit Macken bekommen und an Begeisterung und Zustimmung eingebüsst. Inzwischen hat die Krise der liberalen Demokratie Dauerkonjunktur. «Die einschlägigen intellektuellen Angriffe auf ihre geistigen und moralischen Grundlagen – Aufklärung, Universalismus, Vernunft – verfangen jenseits hochtrabender intellektueller Debatten und abgehobener Philosophie-Fachbereiche zunehmend auch in politischen Kreisen. […] Das Problem mit dem universalistischen Projekt der Aufklärung besteht nicht darin, dass es gescheitert ist, sondern dass man es überhaupt versucht hat. Und so wetteifern beide politischen Lager [die Linken und die Rechten; FM] darum, den Massstab des abstrakten Universalismus durch eine konkrete Identität zu ersetzen: Wie die Rechte im Namen traditioneller Werte kämpft, so kämpft die Linke im Namen von Gender und Race. Der universelle Humanismus gilt keine der beiden Seiten als Grundlage, um ungerechte Gesetze und diskriminierende Machtstrukturen zu kritisieren und zu verändern. Es wird vielmehr als die Maske wahrgenommen, die es den Herrschenden ermöglicht, die Strukturen der Ausgrenzung und Ausbeutung aufrechtzuerhalten.» So holzschnittartig die ernüchternde Diagnose Omri Boehms daherkommt, so präzise entspricht sie aktuellen politischen und gesellschaftlichen Weltbildern, die sich immer unkritischer mit den moralischen Sensorien von Gut und Böse ihrer eigenen communities begnügen. Tatsächlich waren Politik und die Debatten darüber selten so komplex, eruptiv und unkalkulierbar wie heute. Immer neue Wissenschaftsprogramme und Expert:innengremien beschäftigen sich mit den Ursachen und Gründen für diese Entwicklungen. Vorausgesetzt werden dabei politische und gesellschaftliche Prozesse, also Dynamiken, bei denen etwas, das in der Vergangenheit (so) noch nicht da war, auf verschlungenen Wegen zu einem späteren Zeitpunkt aufgetaucht ist.
Die Annahme solcher Prozesse richtet den Blick auf Neues und tendiert dazu, das Bekannte, und Selbstverständliche zu übersehenen, zu verdrängten oder misszuverstehen. Die Schattenseite begegnet auch in Boehms universalistischer Krisendiagnose. Der Antiuniversalismus woker Identitätskonstruktionen beruht auf drei Denkfehlern: (1.) einem Missverständnis über die eigenen Praktiken, die ohne universalistische Prämissen nicht auskommen, (2.) einer irrationalen ordnungspolitischen Zockerlogik, die Zukunft auf die eigenen Interessenlagen reduziert, und (3.) einer naiven, unrealistischen Anthropologie, bei der nicht sein kann, was nicht sein darf.
(1.) Das praktische Missverständnis zeigt sich unmittelbar in der Bedeutung verallgemeinerbarer und objektiver (von der subjektiven Erkenntnis abgelösten) Annahmen für die Stützung elementarer Alltagsüberzeugungen wie die, dass Politik rational, Recht interessenlos, das richterliche Urteil affektfrei, Wissenschaft objektiv, Natur(zerstörung) kontrollierbar, Kirche gewaltfrei, und Demokratie gerecht sei. Die Unterstellungen sind nicht beliebig, weil es für liberale Gesellschaften unmöglich ist, ihren Institutionen nicht nicht zu vertrauen und weil dieses Vertrauen um der Freiheit willen erwartungsgewiss gestreamt sein muss. Selbst eine Person, die aus Protest gegen den demokratischen Rechtsstaat Gesetze übertritt, wird vernünftigerweise verlangen, dass ihre Taten auf präzise dieser rechtsstaatlichen Grundlage verfolgt, beurteilt und sanktioniert werden. Und eine Gruppe, die radikal die Interessen einer Minderheit vertritt und der Mehrheit ihre Rechte einschränken will oder abspricht, erwartet nichts anderes, als dass die so angegriffene Mehrheit die Forderungen vorurteilsfrei hört, ernstnimmt und erfüllt. Der einzige Grund, warum Personen und Gruppen nicht nur erwarten können, nach Massstäben behandelt werden, die sie dezidiert ablehnen, sondern alle anderen darüber hinaus an diese Massstäbe bindet, ist die Verpflichtung auf universale ethische und rechtliche Prinzipien, die auch gegenüber denjenigen gilt, die sie verwerfen und für ihr eigenes Handeln nicht respektieren.
(2.) Die Zockerlogik resultiert aus einem moralischen Tunnelblick, der die gesamte Welt auf monolithische Eigeninteressen zusammenschrumpfen lässt. Dagegen richtet sich John Rawls’ Gedankenexperiment vom Schleier des Nichtwissens (veil of ignorance): Wenn dir dein persönliches Lebensschicksal und dein zukünftiger sozialer und ökonomischer Status unbekannt sind und du mit diesem Unwissen die Gesellschaftsordnung wählen sollst, unter der du zukünftig leben wirst, dann wäre es töricht, sich für ein System zu entscheiden, das nur bestimmten Personen und Gruppen Vorteile bringt oder von dem nur wenige Privilegierte profitieren würden, weil du nicht weisst, ob du diese Person seien bzw. zu diesen Gruppen oder den Privilegierten gehören wirst. Die für das eigene Wohlergehen einzig vernünftige Strategie, ein umfassendes Panorama von Lebensumständen und -möglichkeiten bei der Wahl einzubeziehen, bedeutet, eine universalistische Haltung im Blick auf die eigene Zukunft einzunehmen, die die Chancen für jedes denkbare Lebensszenarium und -schicksal im Blick hat.
(3.) Das anthropologische Defizit ist einer postmodernen Schubumkehr geschuldet, für die das praktisch-philosophische Anliegen insgesamt und das Projekt der Aufklärung im Besonderen unverständlich geworden ist. Der liberale Königsweg der Kombination von Freiheit und Universalität ist ein Kompensationsprojekt für eine ambivalente Freiheit, die jederzeit in (neue) Unmündigkeiten umzuschlagen kann. Die Ausstattung ihrer Protagonist:innen macht die Aufklärung selbst zu einem dialektischen Projekt, das dem Motto des fiktiven subversiv-sozialistischen Radiosenders Eriwan folgt: «Im Prinzip ja, aber …» Die Herausforderung besteht – in der Sprache der traditionellen Philosophie und Theologie – in den Eigenarten menschlicher Antriebe, Motive und Emotionen. Gemeint sind die Affekte und Leidenschaften (passio animi) der conditio humana, die Kain zum ersten Mörder der biblischen Menschheitsgeschichte werden lassen (Gen 4,6f.), Paulus fast in den Wahnsinn treiben (Röm 7,19) und die Philosophie seit der Antike mit der Tugend der Mässigung und Besonnenheit (sophrosyne, temperantia) in den Griff zu bekommen versucht. Das Christentum geht einen Schritt weiter, indem es die souveränitätsphilosophische Lösung des Freiheitsproblems verwirft und an seinen Gott outsourct.
Aktuelle identitätstheoretische Ansätze verwerfen sowohl die Enge rationalistischer philosophischer Entwürfe, weil diese die andere Seite von anthropos ausblenden oder diskreditieren würden, als auch den Utopismus theologischer Entwürfe, die nur in Aussicht stellen und das, was wirklich ist, nicht wertschätzen würden. Das identitätstheoretische Gegenmodell besteht einerseits in der positiven Integration der einstigen anthropologischen Störfaktoren und andererseits im Verzicht auf eine theologisch profilierte Perspektive vom Sein im Werden. Identität ist, was sie ist, behauptet sich als das, was sie zu sein behauptet, fordert ein Recht des jeweils Faktischen und bildet damit die wohl steilste positivistische Idee, die jemals gedacht wurde. Die Konsequenzen zeigen sich im Blick auf die ursprünglichste Methode gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Selbstvergewisserung: tradierte Erzählungen über die eigene Genealogie, Identität und Exklusivität oder Berufung. Typischerweise werden die verrücktesten Geschichten immer dann erzählt, wenn sie am abwegigsten erscheinen und am wenigsten vermutet werden (Hollywood ist die einflussreichste politische Erfindung der globalisierten Welt). Evidenzmangel ist eine Merkmal dieses Genre, wobei zwischen einer dialektischen und positivistischen Verrücktheit unterschieden werden muss: Während die biblischen Traditionen, die antiken Mythen und Tragödien, die grossen Werke der Weltliteratur Gegengeschichten (counterstorys) erzählen, die die realen Verhältnisse auf den Kopf stellen und Möglichkeiten dort entdecken, wo die Wirklichkeit keine Chancen bietet, sind die modernen Märchen paradoxe Legitimationserzählungen von der in jedem Fall besten aller möglichen Welten. Die modernen Märchen sind so phantasielos und zwangsläufig («alternativlos»), wie die Gesellschaften, in denen sie ausgedacht werden und in denen selbst der Zweifel nur als rhetorische Attitüde der Selbstbestätigung begegnet. Kant hätte diese Narrative wohl als Perfektion der Unmündigkeit diagnostiziert, als Produkt eines häretischen Zeitgeists, dessen Tragik darin besteht, das Unglaubwürdige nicht nicht glauben zu können.
3. Welches Recht für wen?
Natürlich steckt auch die kantische Idee vom freien Willen in einer Geschichte, dem Narrativ von der europäischen Überlegenheit und einer daraus abgeleiteten globalen Mission. Der kritische Blick ist nicht neu, wie Olympe de Gouches’ Protest an dem männlich-bürgerlichen Exklusivismus der französischen Revolutionsverfassung von 1789 in ihrem zwei Jahre später erschienenen Gegenentwurf zeigt. Noch radikaler demontiert ein halbes Jahrzehnt später Marquis de Sades Juliette die Ambivalenzen der Vernunftmoral vom «allgemeinen Subjekt», das «den Widerstreit zwischen der reinen und empirischen Vernunft in der bewussten Solidarität des Ganzen» aufhebt und demonstriert die «Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen». Unter dem Eindruck des Faschismus im 20. Jahrhundert entlarven Max Horkheimer und Theodor W. Adorno die aufklärerische Idee der vernünftigen und autonomen Person als Quelle für ihre totale Instrumentalisierbarkeit. «Die Schwierigkeiten im Begriff der Vernunft, die daraus hervorgehen, dass ihre Subjekte, die Träger ein und derselben Vernunft, in realen Gegensätzen stehen, sind in der westlichen Aufklärung hinter der scheinbaren Klarheit ihrer Urteile versteckt.» Entgegen dem aufklärerischen Freiheitsversprechen beruht die Liberalität einer Gesellschaft längst nicht nur auf der wechselseitigen Anerkennung der persönlichen Freiheiten ihrer Mitglieder. Die von der Liberalismus-Kommunitarismus-Kontroverse befeuerte Erzählung, dass liberale Gesellschaften auf die Homogenität vormoderner und kommunitaristischer Gemeinschaften verzichten können, weil sie das Individuum und seine Interessen ins Zentrum rücken, wird von den realen Verhältnissen nicht bestätigt. Auch der Liberalismus beschwört seine Korpsgeister, wie die positive Variante die gesellschaftlichen Zustände in der Schweiz und die negativen Varianten der US-amerikanischen und deutschen Gesellschaftsverhältnisse vor Augen führen: Werden die soziökonomischen Unterschiede zu gross und begegnen sich gesellschaftliche Gruppen zunehmend als Gegnerinnen oder Feinde, zerrinnt die liberale Anerkennungsforderung wie Butter in der Sonne. Dass Anerkennungsverhältnisse tragfähige materielle Grundlagen voraussetzen, wird auch vom ökonomischen Liberalismus nicht bestritten. Aber er betrachtet (unter liberalen Bedingungen) Armut und Ungerechtigkeit lediglich als Defekte und nicht als strukturelle Übel, die ordnungspolitisch bekämpft werden müssen.
Dagegen schärft die liberale Schweizer Bundesverfassung an prominenter Stelle in ihrer Präambel ein, «dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen». Das ist die Kurzfassung der Theorie der Befähigungsgerechtigkeit (capabilities approach), die aus der produktiven Liaison zwischen Liberalismus und neoaristotelischem Essentialismus bei Amartya Sen und Martha Nussbaum hervorgegangen ist. Aus rechtsethischer Sicht hatte der Ökumenische Rat der Kirchen auf seiner Weltkonferenz in Genf 1967 die Gerechtigkeitsfrage auf die wegweisende Formel gebracht: «Wer im Leben wenig hat, soll mehr im Recht haben.» Die Forderung ist in zwei Hinsichten bemerkenswert: (1.) Sie stellt die Realität auf den Kopf, in der einem Mehr im Leben häufig auch ein Mehr im Recht entspricht. Und (2.) sie weist dem Recht eine Kompensationsfunktion zu, die anstelle der Gleichbehandlung durch Wegsehen («ohne Ansehung der Person») eine Ungleichbehandlung durch Hinsehen (interpersonaler Vergleich von Lebenslagen) profiliert.
Das Recht hat danach die doppelte Aufgabe, (1.) jeder Person ihren Status als Rechtssubjekt zu garantieren und (2.) jeder Person die für ihr Leben (als Rechtsperson) notwendigen Ressourcen und Chancen zuzuteilen. Die universalistische Perspektive verlangt einerseits formale Gleichbehandlung und andererseits gerechtfertigte Ungleichbehandlung. Das Recht hat zwei inkommensurable Adressat:innen: einerseits die Rechtspersonen, die von den Spielregeln des Rechts – wie in jedem Spiel – als gleiche betrachtet werden, und andererseits die lebensweltlichen Subjekte, die im Blick auf ihre individuellen Biographien einzigartig und im strengen Sinn unvergleichbar sind. Weil die theoretische Idee der Gleichheit von allen realen Ungleichheiten abstrahiert, beruhen Vorstellungen der Ungleichheit als Bedingungen für ihre quantitative und qualitative Vergleichbarkeit auf komplexen und kontroversen Urteilen über reale Lebensverhältnisse. Umstritten ist, welche konkreten Umstände und Faktoren ungleichheitsrelevant sind und welche Aspekte als Ausdruck individueller Personalität unberücksichtigt bleiben sollen und müssen. Die komplementären Forderungen der Gleichbehandlung von Personen angesichts ihrer ungleichen Lebensvoraussetzungen, -bedingungen und -aussichten und ihrer Ungleichbehandlung angesichts gleicher Rechtsansprüche konstituieren eine anspruchsvolle und konfliktreiche Konstellation, in der die Moral eine höchst ambivalente Rolle als Schiedsrichterin übernimmt.
4. Vor Gericht
Ein aktuelles Beispiel bildet die Kontroverse über die am 20. Mai 2024 gleichzeitig beantragten Haftbefehle beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gegen die drei Hamasführer Yahya Sinwar, Mohammed Diab und Ibrahim Al-Masri einerseits und den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu sowie seinen Verteidigungsminister Joav Gallant andererseits. Den Anträgen des IStGH-Chefanklägers, Karim Khan, gingen intensive Recherchen in Israel und im Gazastreifen voraus sowie eine von Südafrika am 29. Dezember 2023 gegen Israel eingebrachte Klage beim Internationalen Gerichtshof (IGH) wegen Verstosses gegen die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes. Darüber hinaus berief sich Khan auf einen «Report of the Panel of Experts in International Law» zu den Terroranschlägen der Hamas in Israel und den israelischen Vergeltungsaktionen im Gazastreifen.[xvii] Vorgeworfen werden den Vertretern der Hamas und Israels Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemäss Art. 7 und 8 des Römer resp. Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, das am 1. Juli 2002 in Kraft getreten ist und dem bis heute 124 Staaten beigetreten sind (die Schweiz hat das Statut am 1. Oktober 2001 ratifiziert). Den Hamas-Vertretern werden Ausrottung, Mord, Geiselnahme, Vergewaltigung und andere Akte sexueller Gewalt, Folter, grausame Behandlung, Verletzung der persönlichen Würde und andere unmenschliche Handlungen vorgeworfen, den israelischen Regierungsmitgliedern das Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung, die vorsätzliche Verursachung grosser Leiden und schwerer Verletzungen des Körpers und der Gesundheit, vorsätzliche Tötung, vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung, Ausrottung und Mord, Verfolgung und andere unmenschliche Handlungen. Während die westliche Welt die strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen durch die Hamas unterstützt, steht sie den Anträgen gegen die israelischen Regierungsmitglieder kritisch gegenüber. Unterschieden werden muss zwischen rechtlichen und politischen Argumenten. Juristisch umstritten sind etwa der Vertragsstatus Palästinas, die Frage, ob die Komplementaritätsbedingung des Römer Statuts (wonach der IStGH seine Gerichtsbarkeit nur dann ausüben darf, wenn die nationalen Rechtssysteme zur Strafverfolgung unfähig oder unwillig sind) auf Israel überhaupt zutrifft und das Novum, dass bei einer Anklage gegen Netanyahu und Gallant erstmals Vertreter:innen eines demokratischen Staats wegen Kriegsverbrechen verfolgt würden.
Die politische Diskussion entzündetet sich dagegen vor allem an der Gleichzeitigkeit der Haftbefehlsanträge. Kritisiert wird, dass die Terrorakte und Geiselnahmen der Hamas in Israel mit den daran anschliessenden israelischen Militäraktionen im Gazastreifen auf die gleiche Stufe gestellt würden. Dem völkerrechtlich verbrieften Recht auf staatliche Selbstverteidigung würden die gleichen Beurteilungsmassstäbe zugrunde gelegt, wie den terroristischen Angriffen. Terrorakte seien grundsätzlich nicht vergleichbar mit dem legalen Handeln von Staaten und ihren demokratisch legitimierten Regierungen und Institutionen. Netanyahu hat dem Chefankläger des IStGH einen «neuen Antisemitismus» vorgeworfen und die westlichen Staaten schlossen sich mehr oder weniger deutlich der Empörung des israelischen Parlaments an. Hinter der Kritik der westlichen Vertragsstaaten des Römer Statut steht ein handfestes Dilemma: Sollte die Vorverfahrenskammer des IStGH dem Antrag auf internationale Haftbefehle zustimmen, wären sie verpflichtet, die gesuchten Personen, sobald sie ihr Staatsgebiet betreten, zu verhaften und dem Gericht in Den Haag zu überstellen.
Die Haltung der westlichen Staaten im Israel-Gaza-Konflikt hat zu massiven Protesten von Intellektuellen und Studierenden an US-amerikanischen und europäischen Universitäten geführt. Der Kontroverse liegen entgegengesetzte Wahrnehmungs- und Urteilsperspektiven zugrunde: Während die staatlichen Äusserungen auf die Handlungsursachen und die Legalität resp. Legitimität der Handlungsgründe des Gewaltkonflikts fokussieren (Terrorakte versus staatliche Selbstverteidigung und Vergeltung), rückt die Kritik die Folgen der Gewalt (zivile Opfer, Not, Zerstörung etc.) ins Zentrum. Eine dritte Position vertritt der Chefankläger des IStGH. Kahns Erklärung zu den Anträgen auf Strafverfolgung enthält ein starkes universalistisches Plädoyer: «Wir sollten uns heute über eine zentrale Frage im Klaren sein: Wenn wir nicht bereit sind, das Recht auf alle gleich anzuwenden, sondern selektiv darauf zugreifen, schaffen wir die Voraussetzungen für seinen Zusammenbruch. Damit lockern wir auch die letzten Bande, die uns zusammenhalten, die stabilisierenden Verbindungen zwischen allen Gemeinschaften und Individuen, das Sicherheitsnetz, auf das alle Opfer in Zeiten des Leids schauen. Darin besteht die wahre Gefahr, der wir in diesem Augenblick ausgesetzt sind.»
Obwohl diese Sätze jede Sonntagsrede auf den demokratischen Rechtsstaat und jedes Völkerrechtsseminar schmücken würden, wirken sie wie ein Fremdkörper in der realpolitischen Welt. Zweifellos kann terroristische Gewalt im Gegensatz zu staatlicher Gewalt durch nichts gerechtfertigt werden. Aber folgt daraus eine Ungleichheit der Opfer? Können die Opfer von terroristischer Gewalt eine staatliche Selbstverteidigungs- und Vergeltungsgewalt legitimieren, während den Opfern dieser Gegengewalt jede Legitimität abgesprochen bzw. verweigert wird? Rechtfertigen die unschuldigen Personen, die zu Gewaltopfern wurden, dass unschuldige Personen zu Gewaltopfern werden? Welches Leben zählt aus welcher Perspektive, warum und wie viel? Die Fragen verschwinden aus der Rechtsperspektive, weil das Recht kategorisch zwischen der rechtmässigen und rechtserhaltenden staatlichen Gewalt und der intrinsisch unrechten terroristischen Gewalt unterscheidet. Der Mechanismus gründet in einem Rechtsverständnis, das mit dem Recht zugleich den Rahmen und die Modalitäten setzt, wie Recht und Unrecht, Gleichheit und Ungleichheit sowie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zur Sprache kommen können.
Dem Problem hat William Shakespeare in Gestalt der ambivalenten und tragischen Figur des Shylock im Kaufmann von Venedig ein kulturgeschichtlich höchst ambivalentes Denkmal gesetzt. Das Schicksal des jüdischen Geldverleihers bildet einerseits den literarischen Gegenentwurf zum Happy End der biblischen Hiob-Geschichte und zum Fatalismus von Voltaires Anti-Hiob Candide und andererseits die antimoralische Variante des Streits zwischen Recht und Gnade zu Heinrich von Kleists Prinz Friedrich von Homburg. Shylock scheitert an einer Welt, die er hasst und die ihn verachtet, nicht an seiner moralischen Zwielichtigkeit, sondern an seinem unerschütterlichen Glauben an das – sein – Recht.
Um einem Freund in finanzieller Not unter die Arme zu greifen, bittet der durch den Seehandel wohlhabend gewordenen Geschäftsmann Antonio den von ihm verachteten und öffentlich gedemütigten Shylock um einen Kredit und stimmt dessen skurrilen Vertragsbedingungen – «denn Spass muss sein» (I/3 [28]) – zu: Anstelle der üblichen Zinsen fordert Shylock von Antonio bei Nichteinhaltung der Vertragslaufzeit «ein volles Pfund von Eurem Fleisch […] Von welchem Teil von Eurem Leib ich will» (I/3 [28]), «ganz nah dem Herzen» (IV/1 [63]). Weil seine Handelsflotte in Schwierigkeiten gerät und der Geschäftsmann das Geld zum vereinbarten Zeitpunkt nicht zurückzahlen kann, geht Shylock vor Gericht, um die Verpflichtung des Vertragspartners durchzusetzen – «Ich ford’re Mein Recht» (IV/1 [62]). Trotz der Ablehnung, die ihm vor Gericht entgegenschlägt, erhält er anfangs Unterstützung von einem geheimnisvollen Juristen, hinter dem sich Portia verbirgt, die Geliebte des Freundes, für den sich der Kaufmann verschuldet hatte. Sie bestätigt die Rechtmässigkeit des Vertrags und schlägt Shylock zunächst vor, Gnade vor Recht walten zu lassen und für die dreifache Kreditsumme als Kompensation auf das Pfand zu verzichten. Als der Geldverleiher ablehnt, fordert Portia ihn auf, sich das ihm vertraglich zustehende Pfund Fleisch von Antonio zu nehmen, wobei er das Gewicht präzise treffen müsse und kein Tropfen Blut vergiessen dürfe. Die vermeintliche Rechtsgelehrte wechselt die Perspektive, indem sie das Vertragsrecht mit dem Strafrecht sticht, nach dem eine fremde Person, die einem Bürger Venedigs nach dem Leben trachtet, hart sanktioniert und nur durch eine Begnadigung des Dogen am Leben bleiben kann.[xx] Shylock erlebt vor Gericht eine doppelte Verwandlung: Einerseits wird er vom Kläger auf zivilrechtlicher zum Angeklagten auf strafrechtlicher Ebene und andererseits mutiert sein Status als Rechtssubjekt zu einer Position, in der sein Leben nicht mehr durch das Recht geschützt ist, sondern von der richterlichen Gnade abhängt. Die einschlägigen Deutungen der antisemitischen Stereotype von Gesetz und Gnade in Shakespeares Komödie übersehen die kritische Pointe gegenüber einer «christlichen» Gnade, die der Person ihren von Shylock verteidigten Status als Rechtssubjekt bestreitet.
5. Rache, Vergeltung und Strafe
Der befremdliche Charakter von Shylock gründet in seiner Verteidigung des Wunsches nach Rache auf dem Boden einer universalen Humanität. Auf die Frage, worum er das Fleisch Antonios als Vertragspfand gewählt habe, antwortet er: «Wenn es sonst nichts füttert, so wird es meine Rache füttern. Er [Antonio; FM] hat mich schlechtgemacht, mich um eine halbe Million Verdienst gebracht, gelacht über meine Verluste, gespottet über meine Gewinne; verachtet hat er mein Volk, vereitelt meine Geschäfte, kalt gemacht gegen mich und meine Freunde, angeheizt meine Feinde – und was war sein Grund? Ich bin ein Jud. Hat nicht ein Jud Augen? hat nicht ein Jud Hände, Organe, Leib und Glieder, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? genährt mit derselben Nahrung, verwundet mit denselben Waffen, anfällig für dieselben Krankheiten, geheilt mit denselben Mitteln, gewärmt und gekühlt von demselben Winter und Sommer wie ein Christ? – Wenn ihr uns stecht, müssen wir nicht bluten? Wenn ihr uns kitzelt, müssen wir nicht lachen? Wenn ihr uns vergiftet, müssen wir nicht sterben? Und wenn ihr uns Unrecht tut, sollen wir es nicht rächen? – Wenn wir sind wie ihr in allem anderen, dann wollen wir euch auch ähnlich sein in dem.» (III/1 [45]) Die Verteidigung des jüdischen Geldverleihers liest sich (paradoxerweise) wie ein Plädoyer für die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen, der es ähnlich ergeht, wie dem um sein Recht kämpfenden Shylock in Venedig. Aber das ist nur die eine Seite. Auf der anderen Seite steht seine Gier nach Vergeltung, die ihn zugleich als Anwalt Netanyahus erscheinen lässt. In gewisser Weise steht die Biographie Shylocks typologisch für den israelisch-palästinensischen Konflikt: die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von universaler Humanität und Rache.
Shylock verteidigt seinen Rechtsanspruch mit den Worten: «Verweigert Ihr’s, dann fällt das nur zurück / Auf Eurer Stadt verbrieftes Recht und Freheit!» (IV/1 [58]) Der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Stephen Jay Greenblatt hat in seinen Adorno-Vorlesungen das kulturelle Setting im Kaufmann von Venedig auf die aktuellen Asyl- und Flüchtlingspolitiken übertragen und resümiert aus der Perspektive der Einheimischen: «Schon seit langem hätten wir hören sollen auf die, die uns vor unseren Feinden warnten. Wir werden eines Tages erwachen und uns einem Komplott gegenüberstehen, das sich gegen unschuldiges Leben richtet. Dies Komplott wird möglicherweise eben das System zur Waffe machen, das uns ein ziviles Zusammenleben mit den Fremden ermöglicht. Und wenn dieser schreckliche Tag kommt, werden wir herauszufinden haben, wie wir das unsere retten können, ohne die Regeln unseres Gesetzes über Bord zu werfen; denn es sind diese Regeln, ohne die unsere Kultur nicht prosperieren kann. Doch was, frage ich mich, ist das gesetzliche Mittel gegen den Hass?»
Die letzte Frage hat es in sich: Einerseits unterscheidet sich darin Greenblatts Warnung vor einer Rechtsbeugung von dem Plädoyer des IStGH-Chefanklägers für ein Recht, das die Welt zusammenhält. Andererseits beansprucht Shylock das Recht ausdrücklich als Mittel für seinen Wunsch nach Rache. Dagegen hatte Portia eine christliche Sichtweise positioniert, die das Gesetz der Rache durch eine übergesetzliche Gnade überbietet: «Der Gnade Wesen ruht auf keinem Zwang. / Sie fällt vom Himmel wie der sanfte Regen / Zur Erde unter ihr, zweifach gesegnet. / Sie segnet ihn, der gibt, und ihn, der nimmt; / Am mächtigsten im Mächtigen: sie schmückt / den Herrscher auf dem Thron mehr als die Krone. […] Ob auch dein Anspruch Recht ist, so bedenke, / Dass, ging es nur nach Recht, von uns nicht einer / Erlösung fänd: Drum beten wir um Gnade, / Und dies Gebet muss uns auch alle lehren, / Gnade zu üben.» (IV/1 [61f.]). Das klingt nach gutem christlichem Mainstream, verdrängt aber die eigentümliche Doppelbödigkeit der paulinischen Ermahnung: «Übt nicht selber Rache, meine Geliebten, sondern gebt dem Zorn Gottes Raum! Denn es steht geschrieben: Mein ist die Rache, ich werde Vergeltung üben, spricht der Herr. Vielmehr: Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen; wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken. Denn wenn du dies tust, wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.» (Röm 12,19f.)
Der realistische Apostel lässt die menschlichen Rachegefühle nicht unter den Tisch fallen, aber adressiert sie – weitaus wirkmächtiger – an Gott selbst. Auch Kant lässt die Rache – wenn auch in anderer Weise – zu ihrem Recht kommen: «der Rechtsbegriff aber, weil er unmittelbar aus dem Begriff der äusseren Freiheit hervorgeht, weit wichtiger und den Willen weit stärker bewegender Antrieb ist, als der des Wohlwollens: so ist der Hass aus dem erlittenen Unrecht, d.i. die Rachbegierde, eine Leidenschaft, welche aus der Natur des Menschen unwiderstehlich hervorgeht, und, so bösartig sie auch ist, doch die Maxime der Vernunft vermöge der erlaubten Rechtsbegierde, deren Analogon jene ist, mit der Neigung verflochten und eben dadurch eine der heftigsten und am tiefsten sich einwurzelnden Leidenschaften». Die Rache steht dem Recht nicht gegenüber, vielmehr verhält sich das Recht funktional zur Rache als Manifestation personaler Gegenseitigkeit. «Wer sich rächt, erwidert eine ihm wirklich oder vermeintlich angetane Verletzung durch einen anderen, indem er diesem im Wege einer Übelzufügung die Verletzung ‹heimzahlt› – in welchem Sinne immer er sein Tun als Heimzahlen begreifen mag. […] In ihrer funktionalen Logik zielt Rache auf die Herstellung eines reziproken Verhältnisses zwischen den beteiligten Personen. Reziprozität bezeichnet die Bedingung der Gegenseitigkeit und des Ausgleichs in Kontexten menschlicher Kooperation. Sie entspricht einem fundamentalen Prinzip der Fairness und damit der Gerechtigkeit.» Die Rache ist (1.) eine anthropologische und soziale Tatsache, (2.) das subjektive Prinzip der auf Fairness und Gerechtigkeit zielenden «Rechtsbegierde», die (3.) zum Unrecht wird, wenn jemand für sich beansprucht, «in seiner eigenen Sache Richter zu sein und andern Menschen keine Sicherheit wegen des Ihrigen zu lassen, als bloss seine eigene Willkür».
Gegen die Dirty-Harry-Anarchie subjektiver Rache setzt das Recht die objektive strafrechtliche Vergeltung. Im Gegensatz zur Rache gilt für die strafrechtliche Vergeltung: (1.) Sie reagiert auf einen Normbruch; (2.) setzt der Bestrafung eine inhärente Grenze; (3.) benötigt keine persönliche Beziehung zum Täter, Opfer oder zur Tat; (4.) verbietet jegliche Emotionalität und (5.) ist an allgemeine Normen gebunden. Aus historischer Perspektive besteht der Preis für die strafrechtliche Verdrängung der subjektiven Rache in einer «Neutralisierung der Opfer». Die formale Delegierung an das Recht erscheint nicht nur unangemessen kalt, sondern widerspricht den allgemeinen Gerechtigkeitsintuitionen im Angesicht «schwerer Verbrechen gegen Leib, Leben, Freiheit und sexuelle Selbstbestimmung, [die] die Menschenwürde ihrer Opfer verletzen und [die] für deren Persönlichkeit dauerhaft verheerende Folgen haben können». Das gegenüber den Gewaltopfern häufig als kontraintuitiv und ungerecht wahrgenommene Vorgehen staatlicher Strafverfolgung, Rechtsprechung und Sanktionen bildet ein starkes Motiv für das wachsende Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Institutionen. Jan Philipp Reemtsma, der als Entführungsopfer 33 Tage in einem Kellerverlies verbrachte, bringt es auf den Punkt: «Wenn Ihnen die Gesellschaft nicht deutlich macht, dass sie verstanden hat, was Ihnen geschehen ist, nicht ein Unglück, sondern ein Unrecht war, und wenn sie dieses Verbrechen nicht beglaubigt durch die Bestrafung des Täters, werden Sie in ihr nicht mehr heimisch.» Hass macht heimatlos und mit Rachegefühlen lässt sich nicht heimisch werden. Nach seiner Befreiung bemerkt Reemtsma über seinen Entführer: «Und wenn man mir morgen seinen Kopf brächte, ich hätte nichts davon. Und wenn ich straflos tun könnte, was ich wollte, es nützte mir nichts […]. Ich will, dass dieser Mensch vor Gericht kommt. Es gibt für mich keine Kompensation im Hass. Auch diese letzte Symmetrie hat die Zeit im Keller zerstört.» Das gilt für all diejenigen, die vor Bombenangriffen in Keller flüchten und noch mehr für diejenigen, die nicht einmal über schützende Keller verfügen. Ein Recht, das die Opfer von Verbrechen und Gewalt nicht neutralisiert, muss ihren Wunsch nach Rache und Vergeltung als Ausdruck ihrer Selbstachtung und Selbstbehauptung ernst nehmen. Und diejenigen, die sich ein Recht auf Vergeltung herausnehmen, kommen nicht darum herum, ihre Ansprüche vor einem Gericht zu verteidigen und von diesem beurteilen zu lassen. Diese Verpflichtung ist von Terroristen nicht zu erwarten, weshalb ihre Taten mit der ganzen Härte staatlicher Strafverfolgung und Rechtsprechung geahndet werden müssen. Militärische Interventionen sind dafür ein Mittel, aber kein Zweck, der an die Stelle einer ordentlichen Gerichtsbarkeit treten könnte. Umso mehr gilt dagegen die Verpflichtung gegenüber dem Recht und der Gerichtsbarkeit für die Repräsentant:innen rechtsstaatlicher Demokratien.
Text im Original mit Fussnoten: