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Über Naturrecht(e)

Rechtsethische Anmerkungen aus aktuellem Anlass

Natur und Recht

In der antiken und mittelalterlichen Welt war das Natürliche kein rechtsfreier Raum. Bei den in der Natur – genauer im Seienden (griech.: on; lat.: ens) – vorgefundenen Rechten handelte es sich nicht um Gesetze, die ein Staat erlässt, über die ein Stimmvolk abstimmen oder gegen die es das Referendum ergreifen kann. Es ging auch nicht um physische Gesetzmässigkeiten, die sich aus der naturwissenschaftlichen Beobachtung natürlicher Phänomene deduzieren lassen. Vielmehr entdeckten die antiken und mittelalterlichen Menschen eine Ordnung im Natürlichen, die in den betrachteten und erlebten Naturphänomenen selbst stecken. Die beeindruckendste Erörterung dieses Zusammenhangs findet sich im XIX. Buch des epochalen Werks von Augustinus «Vom Gottesstaat» (De civitate Dei) aus dem Jahr 410. Darin entwickelt der Kirchenvater ein Naturverständnis als göttliche Friedensordnung. Frieden im physischen, psychischen, sozialen, politischen und religiös-metaphysischen Sinn besteht in der Übereinstimmung mit der jeweils vorgegebenen, den Phänomenen selbst innewohnenden Ordnung. So stellt etwa die natürliche Ordnung der Glieder im menschlichen Körper einen Friedenszustand dar, der durch eine Verletzung gestört wird. Der Naturbegriff von Augustinus ging weit über ein modernes wissenschaftliches Verständnis hinaus, das Natur auf die objektive Umwelt reduziert, wie sie menschlichen Subjekten als Erkenntnisgegenstand begegnet. Mit der neuzeitlichen Ersetzung des theozentrischen Naturverständnisses der Antike und des Mittelalters durch ein anthropozentrisches wurde das ordnende Subjekt ausgetauscht. Gott herrschte nicht länger in und durch die Natur, sondern die Menschen über die Natur.

Die fundamentale Umbesetzung wurde zunächst als Befreiung der Menschen von den Zwängen der (und ihrer) Natur gefeiert. Zwar hatten später Charles Darwin und Sigmund Freud der egozentrischen Naturentzauberung herbe Dämpfer verpasst. Aber es verging noch einmal viel Zeit, bis die Einsicht aufkam, dass sich die egozentrische Behauptung gegen die Natur als der vielleicht grösste menschliche Wahnsinn herausstellen und in näherer oder fernerer Zukunft alle bis dahin bekannten Zerstörungen in den Schatten stellen könnte. Mit dieser Befürchtung schafften es Hans Jonas mit seinem «Prinzip Verantwortung» und der Club of Rome mit seinen Zukunftsszenarien in den 1970er und 1980er Jahren sogar auf die Bestsellerlisten des Buchhandels. In diese Phase fiel auch die Erfindung der Nachhaltigeit (sustainable development) im sogenannten Brundland-Bericht. Die wachsende Aufmerksamkeit für die Natur angesichts ihrer Zerstörung und Zerstörbarkeit wird aber notorisch irritiert durch ein grundsätzliches Problem. Galt für die jüdische Weisheit: «Welchen Gewinn hat der Mensch von seiner ganzen Mühe und Arbeit unter der Sonne? Ein Geschlecht geht, und ein Geschlecht kommt, und die Erde bleibt ewig bestehen.» (Kohelet 1,3f.) und war wissenschaftliche Erkenntnis (episteme) in der griechischen Antike auf die Schau des Ewigen gerichtet, hat sich die moderne Perspektive ins Gegenteil verkehrt: Mit – oder vielleicht sogar vor – den Menschen steht die Erde selbst zur Disposition und anstatt Naturbetrachtung (Passion) setzen selbst der Natur- und Klimaschutz auf technologische Eingriffe (Aktion) in die Natur. Die neuzeitliche Perspektive auf Natur als zivilisatorische Ressource akzeptiert günstigenfalls eine Sicht auf Natur als Patientin in einem lebensbedrohlichen Gesundheitszustand.

Natur und Moral

Natürlich würde es seltsam klingen, der Natur einen Subjektstatus wie den Menschen zu attestieren. Auch den alternativen weisheitlichen Zugang der Bibel und der Antike zur Natur hatte die neuzeitliche Philosophie für obsolet erklärt. Der Bruch ist fundamental, sodass alle Versuche scheitern, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und zu einem vormodernen Welt- und Selbstbild zurückzukehren. Wir sind nicht frei, die Ehrfurcht des Moses vor dem im/als Gewitter erscheinenden Gott am Sinai der meteorologischen Unkenntnis der damaligen Menschen zuzurechnen. Vielmehr folgen wir mit der Erklärung konsequent dem modernen wissenschaftlichen Weltbild und dem Sicherheitsbedürfnis in der Risikogesellschaft. Unsere Sicherheitsdispositive verlangen eine Weltentzauberung, die so selbstverständlich geworden ist, dass ihre Einseitigkeiten gar nicht mehr auffallen. Der Macht systemischer Rationalität entspricht der Zwang innerhalb der Systemlogik. Die moralischen Donnerwetter, die uns mit dem Klimawandel um die Ohren fliegen, bilden lediglich die Empörungsvariante des Weltentzauberungsprogramms und bleiben folgenlos, weil sie die neuzeitliche Eingriffs- und Okkupationslogik bestätigen. Denn das Fortschrittsnarrativ, nach dem die Menschheit der Natur beliebig in die Suppe spucken kann, wird lediglich durch die hypertrophe Phantasie ergänzt, dass die Menschheit die Suppe anschliessend – korrigierend und reparierend – auslöffeln könne.

Der Verlust der alten Weltverzauberung, der die Menschen einst mit Ehrfurcht – in der untrennbaren Kombination von Furcht und Ehrerbietung – begegneten, lässt sich nicht mit den Mitteln der Moral rehabilitieren oder simulieren. Denn die Natur hat keinen Sinn für Moral und verfolgt keine Absichten – nicht einmal diejenige, sich selbst zu retten. Das gilt auch für die vielzitierte Äusserung Albert Schweitzers, «Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will», die eine Äquivalenz zwischen dem Interesse am eigenen Leben und dem Interesse jedes anderen Lebewesens behauptet. Natürlich ist das biologische Leben kein Subjekt, das lebt, weil es leben «will». Vielmehr lebt es, weil es lebendig ist. Natur ist kein moralisches Subjekt und deshalb gelingt es einer neuzeitlichen, an der autonomen Person festgemachten Ethik nicht, die Natur als Absenderin moralischer Forderungen anzuerkennen, ohne sie damit zum Objekt eigener Interessen und zum Artefakt der eigenen Zivilisation zu machen. Es ist unmöglich, etwas im Interesse von etwas einzufordern, das keine Interessen hat.

Auch die Überzeugung Friedrich Hölderlins, dass gerade in der Gefahr die Rettung stecke – «Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.» – steht heute eigenartig auf dem Kopf. Denn die «Rettungsaktionen» moderner Risiko- und Versicherungsgesellschaften setzen auf funktionale Naturbeherrschung und häufen damit «unablässig Trümmer auf Trümmer». Der Erfolg moderner Technologiegesellschaften besteht darin, schicksalhafte Gefahren in kalkulierbare Risiken zu transformieren, die rational entschieden und bearbeitet werden können. Verantwortung ist nicht die moralische Tugend, als die sie verkauft wird, sondern der Modus einer riskanten Welt, die auf die Nivellierung des Schicksalhaften und der Gefahr zielt. «Aber das wirkliche Problem ist die Explosion, nicht die Erosion der Verantwortung. In dem Masse, in dem die Demut schwindet, dehnt sich die Verantwortung in erschreckende Dimensionen aus. Wir schreiben weniger dem Zufall und mehr der Entscheidung zu.» Die Verantwortungskategorie konstruiert die Welt als einen Handlungsraum, der Handlungssubjekte und Gegenstände, an den gehandelt werden kann, voraussetzt und dem menschlichen Zugriff entzogene Gefahren in bearbeitbare Risiken rekonstruiert. Das hat zwei wesentliche Konsequenzen: «Die Bürger/innen halten Gefahren für Risiken, die über eine Kombination aus technischer Vorsorge und praktisch ausgeschlossenem Restrisiko sozial akzeptabel erscheinen. […] Sie werden überhaupt nicht (mehr) als die Gefahren wahrgenommen, die sie sind.» Gleichzeitig werden «Regulierungsreflexe» ausgelöst, «die je nach sozial und politisch divergierender Risikowahrnehmung zu einer unangemessenen Einschränkung von riskanten Freiheitsrechten führen.»

Mit Gefahren kann streng genommen nicht verantwortungsvoll umgegangen werden. Deshalb gehören die Gefahr ebenso wie die Angst als ihr emotionales und kommunikatives Korrelat nicht zum Bereich dessen, wofür Handlungssubjekte verantwortlich sind und gemacht werden können. Insofern ist die Kritik über das Politikversagen berechtigt, mit der Einschränkung, dass Politik auf die demonstrierten Gefahren und Ängste gar nicht politisch reagieren kann. Der Streit zwischen Klimakleber:innen, die den Verkehr aufhalten, und anschliessend ins Flugzeug steigen und den zur Immobilität Verdammten, die sich darüber entrüsten, nicht vorwärts zu kommen, parodiert die Vorstellung, «die Umwelt habe einen Partner in der Gesellschaft, oder gar: man selbst sei es». Es gibt diese Konstellation nicht, weil es keinen Kontrakt mit und keine Verantwortung gegenüber Gefahren ohne Subjekt geben kann. Daraus ergeben sich zwei mögliche Konsequenzen: entweder müssen solche Gefahren weiterhin als Risiken bearbeitet werden oder es muss «von ‹der› Risikogesellschaft als ‹dem› umfassendem sozialen, ökologischen, politischen und rechtlichen Erklärungs- und Handlungsmodell Abschied» genommen werden.

Natur und (Rechts-)Subjekt

Christopher D. Stone hat in seinem Aufsatz «Should Trees Have Standing? Toward Legal Rights for Natural Objects» von 1972, der die internationale Diskussion über Rechte der Natur wesentlich angestossen und geprägt hat, bemerkt: «Einem Gegenstand Rechte zu geben, stösst so lange auf Widerstand, wie er nicht für sich selbst gesehen und geschätzt wird; aber wir tun uns schwer damit, den Gegenstand zu sehen und um seiner selbst willen zu schätzen, solange wir nicht bereit sind, ihm Rechte zu geben – was einer grossen Gruppe von Menschen gänzlich unvorstellbar erscheint». Das Recht bildet das wirkungsvollste Instrument, um eine bedrohte Person oder ein gefährdetes Gut effektiv zu schützen. Es bewährt sich besonders dann, wenn eine Person oder ein Gut zu schwach oder ohnmächtig ist, um sich selbst zu wehren und zu schützen. Im demokratischen Rechtsstaat werden stellvertretende Schutzaufgaben durch das Recht kollektiviert, für alle Rechtssubjekte verpflichtend gemacht und durch den Staat kontrolliert und sanktioniert. Der Gedanke liegt nahe, Rechte der Natur in Analogie zu Grund- oder Menschenrechten («Greening of Human Rights») zu fixieren. Allerdings stösst der Vorschlag auf ein grundsätzliches Problem, wie die Ablehnung von fünf gleichlautenden parlamentarischen Initiativen «Recht auf gesunde Umwelt und Rechte der Natur» durch die Rechtskommission des Nationalrates vom Mai 2022 verdeutlicht. Die Kommission begründet ihre Zurückweisung mit der ungeklärten Frage, wie die Natur den Status eines Rechtssubjekts erhalten und wahrnehmen könne. Wie kann die Natur ihre Interessen in politische und juristische Zusammenhänge einbringen? Wie kann alternativ «eine Vertretung für sich in Anspruch nehmen […], die legitimen Interessen der Natur zu kennen»? Und was folgt aus der für unsere Rechtsordnung konstitutiven Komplementarität von Rechten und Pflichten für die Natur als Rechtssubjekt?

Die Fragen sind dem traditionellen Dogma des neuzeitlichen Rechts geschuldet: «Rechte aber lassen sich nur denen zusprechen, die auch als Rechtssubjekte gedacht werden können. Der Mensch kann sich selbst zum Anwalt seiner Lebensinteressen machen; Tiere und Pflanzen können das nicht. Gerade diese Verantwortungs- und Rechtsfähigkeit unterscheidet die Menschen von der aussermenschlichen Natur.» Was folgt aus dieser Standardsicht? Weil ein Wesen X nicht rechtsfähig ist und Verantwortung übernehmen kann, ist X kein Rechtssubjekt. Und weil X kein Rechtssubjekt ist, haben die Interessen von X nicht nur keine Relevanz im Recht und vor Gericht, sondern es ist ausgeschlossen, dass X überhaupt Interessen (in einem rechtlich relevanten Sinn) haben kann. Weil das Recht ausschliesslich Rechtssubjekten Interessen zuerkennt, haben Wesen ausserhalb des exklusiven Kreises der Rechtspersönlichkeiten, ipso facto keine (rechtsrelevanten) Interessen und können deshalb keine Rechte geltend machen, (aus rechtlicher Sicht) kein Unrecht erleiden und keinen (Rechts)Schutz beanspruchen. Wenn per definitionem Interessen fehlen, erübrigt sich die Frage nach ihrer Anerkennung bzw. Einklagbarkeit. Darin besteht die Schattenseite der Erfolgsgeschichte des subjektiven Rechts. «Subjektive Rechte privatisieren das Öffentliche. Sie forcieren das Eigenhaben von Rechten, verpflichten die Türhüter des Rechts aufs vereinzelte (und nicht gattungsförmige) Subjekt und die Subjekte auf die individuellen Privatwege in die Welten des Rechts. Was nicht ins Schema subjektiver Rechte passt, was keine ‹eigenen› Rechte verleiht, was keine individuelle Betroffenheit auslöst, kann – wenn überhaupt – nur über Umwege gerichtlich durchgesetzt werden. Subjektive Rechte öffnen daher nicht nur die Schutzpforten der Institutionen der Gerechtigkeit, sondern limitieren auch den Zugang zu ihnen.» Darin bestätigt sich die Alltagsweisheit: Wo kein:e Kläger:in, da kein:e Richter:in.

Das neuzeitliche Vernunft- oder Rationalitätsparadigma verteidigt die Freiheit des autonomen Subjekts als Fundament von Moral und Recht. Würde diese Voraussetzung in Frage gestellt – so die Unterstellung –, gerieten unsere staatlichen und gesellschaftlichen Ordnungen ebenso ins Schwanken wie unsere fundamentalen Kategorien von Absicht, Zurechnung, Verantwortung, Verdienst, Schuld und Vertrauen. Allerdings spricht einiges für die entgegengesetzte These, dass die – in sehr unterschiedlicher Hinsicht – bedrohlichen Zustände (in) der Welt wesentlich mit dieser Unterstellung zusammenhängen. Muss angesichts der dramatischen ökologischen Lage das freie menschliche Subjekt, das Theologie und Philosophie über Jahrtausende der Natur abgetrotzt haben, nicht aufgegeben oder zumindest relativiert werden? Stellt das Dogma der menschlichen Freiheit nicht eine grobe kulturalistische Verkürzung einer viel umfassenderen Lebendigkeit und Natürlichkeit dar?

Natürlich gibt es keinen Denk- und Handlungsraum jenseits der Kultur. «Natur» und «Leben» gehören in die Sprachspiele von Kulturen. Ein «Ausserhalb» der Zivilisation existiert nur in den Köpfen zivilisatorischer Subjekte, wie jedes System seine eigene Umwelt überhaupt hervorbringt. Hinter diesem Zirkel steckt die uralte Frage, wie sich die Gegenstände von Erkenntnis zu den erkennenden Subjekten verhalten. Zur Diskussion stand die grundsätzliche Alternative zwischen einer exzentrischen Konstellation in Metaphysik und Religion und einer ego-konzentrischen Perspektive in der neuzeitlichen Subjektphilosophie. Im Kern stehen sich dabei das/die Subjekt/e einer als Kreation vorgestellten Welt und die Subjekte einerals Konstruktion konzeptionalisierten Welt gegenüber. Nun sind die Zeiten vorbei, in der – aus irdischer Sicht – weitgehend folgenlos zwischen den Alternativen gewählt werden konnte. Denn was heute «in sehr unklaren Fronten aufeinanderprallt, ist das extrem diverse, bis auf Weiteres verfassungslose Ensemble von Aktanten, die gemeinsam mit den menschlichen ‹Gesellschaften› das Ereignis- und Schlachtfeld Erde bevölkern – das CO2, die Höhe des Meeresspiegels, die Algen, die Computer, die Mikroben, die Thunfische, die Meteoriten, die Antibiotika, die Algorithmen, das Methangas, die Menschenrechte, die Windturbinen, der genmanipulierte Mais, die transplantierte Niere. Der ironisch erneuerte ‹Naturzustand› ist weder mit dem Schöpfungschaos identisch, noch vermag er das zu bieten, was bisher mit dem modernen Zustandsbegriff verbunden war, eine Konstitution.» Nicht zufällig grenzt Peter Sloterdijk die aktuellen Zustände einerseits vom hobbesschen Naturzustand und biblischen Schöpfungschaos und andererseits von einer politisch legitimierten staatlichen Ordnung ab. Im Blick auf eine Problemlösung teilt er weder den staatspolitischen Optimismus von Thomas Hobbes, noch vertraut er einem göttlichen Schöpfungsplan und dem traditionellen Rechtverständnis. Stattdessen plädiert der Philosoph für ein «Geflecht» von Ordnungsprozessen, in denen «nicht nur die Verfassungsorgane und die Rechte-Träger im Rahmen eines neu zu gründenden politischen Verhältnisses namens ‹Erdenbürgertum› definiert werden, auch die Einberufung des erdenbürgerlichen Kollektivs als solchem ist in diversen Formaten neu zu vollziehen, diesseits und jenseits der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte». Die Idee ist so faszinierend wie riskant und anspruchsvoll. Die Rechte, «die zur Zerstörung der Natur geführt haben», sollen nicht abgeschafft, «sondern durch die Anerkennung der Rechte der Natur eingeschränkt» werden. Eine besondere Zumutung ergibt sich für liberale Gesellschaften, deren Freiheitsverständnis auf dem Prinzip beruht, dass nicht Freiheiten, sondern Freiheitsbeschränkungen begründungspflichtig sind.

Ökologische Subjekte und Nicht-humane Rechtspersonen

Ecuador war der erste Staat weltweit, der 2008 verfassungsmässige Rechte für die Natur erlassen hat. Die Verfassung erklärt die Natur neben Menschen und Körperschaften als eigenständigen Rechtsträger (Art. 10): «Die Natur ist Rechtssubjekt für diejenigen Rechte, die die Verfassung ihr zuerkennt.» Die Natur verfügt über die Rechte auf Existenz und Regeneration (Art. 71), die unabhängig von menschlichen Rechten gelten (Art. 72) und von allen Menschen weltweit eingeklagt werden können (Art. 73). Dem Beispiel folgte ein Jahr später Bolivien. Seither wurden in der internationalen Rechtsprechung Tieren eine Rechtspersönlichkeit und Klagerechte zuerkannt (USA und Kolumbien) und Flüssen Personenrechte zugesprochen (Neuseeland, Indien und Kolumbien). Auffällig ist, dass «bei der Personifizierung der Natur […] gerade solche Rechts- und Gesellschaftsordnungen voran[gehen], die anders als in europäischen Kontexten üblich von einem Tier- und Naturverständnis geprägt sind, das das gegenseitige Aufeinanderverwiesensein von Mensch, Tier und Natur und damit verbunden die jeweils eigenständige (und nicht lediglich human mediatisierte) Schutzbedürftigkeit von Natur und Tieren betont».

Die Rechte der Natur gehen einen entscheidenden Schritt weiter als Nachhaltigkeitsrechte oder Rechte zukünftiger Personen/Generationen. Während letztere Rechte einen anthropozentrischen Standpunkt einnehmen, indem Naturerhaltung und Naturschutz funktional auf die berechtigten Ansprüche zukünftiger Menschen bezogen werden, sind die Rechte der Natur streng anti-anthropozentristisch konzipiert. Im Kern nehmen sie die Kantische Selbstzweckformel, jede Person «jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel» zu brauchen, – entgegen der ausdrücklichen Beschränkung ihres Autors auf die vernunftbegabte «Menschheit» – auch für die Natur in Anspruch. Die Übertragung kollidiert – wie oben skizziert – besonders mit den Traditionen, die Rechte konstitutiv an menschliche Autonomie sowie rationale Urteils- und Entscheidungsfähigkeit binden. Freilich entsprachen diese Positionen niemals der politischen Wirklichkeit (die Rechte nach anderen Kriterien selektiv verteilte), noch ist sie aus rechtsdogmatischen Überlegungen zwingend (rechtliche Schutzwürdigkeit hängt nicht ab von den tatsächlichen Fähigkeiten der schutzbedürftigen Person).

Die Schwierigkeiten, ausserhumanen Rechtssubjekten Rechte einzuräumen, beruhen nicht zuletzt auf einem Missverständnis über das Rechtssubjekt der «natürlichen Person». «Natürlich» dient zur internen Unterscheidung von der Rechtspersönlichkeit der «juristischen Person», verweist aber nicht auf reale Personen, die ihre Rechte in Anspruch nehmen. Rechtspersonen funktionieren wie die Figuren in einem Spiel, deren Rollen vollständig durch die Spielregeln definiert werden. Wer die Frau resp. der Mann hinter der Torhüterin oder dem Mittelstürmer ist, spielt keine Rolle, weil es beim Spiel nur darum geht, dass im ersten Fall möglichst keine, im zweiten Fall möglichst viele Tore fallen. Das deckt sich mit der ursprünglichen Bedeutung von «Person» als Maske des Schauspielers (lat. personare = hindurchtönen). Der Rechtsphilosoph und Strafrechtler Gustav Radbruch bringt den Zusammenhang auf den Punkt: «Niemand ist Person von Natur oder von Geburt […]. Person zu sein, ist das Ergebnis eines Personifikationsakts der Rechtsordnung. Alle Personen, die physischen wie die juristischen, sind Geschöpfe der Rechtsordnung. Auch die physischen Personen sind im strengsten Sinne ‹juristische Personen›. Über die ‹fiktive› und das heisst künstliche Natur aller, der physischen wie der juristischen Personen ist also ein Streit nicht möglich.»

Auch wenn die Zutrittsbedingungen unterschiedlich geregelt werden, lautet die entscheidende Frage beim Spiel und beim Recht: Wer darf mitspielen? Die rechtlichen Antworten weisen eine historische Dynamik auf. (1.) Die Vorstellung vom Rechtssubjekt als moralischer Status bietet eine enge vernunftbasierte Antwort; (2.) eine funktionale Perspektive weitet den speziesistischen Fokus, indem Rechtssubjektivität als Verhältnis zwischen humanen und ausserhumanen Rechtspersonen begriffen und in der Rechtsordnung abgebildet wird, und (3.) ein konstruktivistisches Verständnis, das die rechtliche Anerkennung ausserhumaner Rechtspersonen in legale Rechtspositionen und Verfahrensregeln transformiert. Allerdings sagt eine Antwort auf die Frage, wer mitspielen darf, noch nichts darüber aus, ob die Angesprochenen auch tatsächlich in der Lage sind, mitspielen zu können. «Es ist sinnlos, Gleichheit vor dem Gesetz für den zu verlangen, für den es kein Gesetz gibt.» Aber genauso gilt: «Having rights but no resources and no services available is a cruel joke.» Die Inkommensurabilität zwischen der «künstlichen Natur» der Rechtsperson und der «natürlichen» Natur realer Personen charakterisiert die Subjekte auf beiden Seiten und wirft die anspruchsvolle Frage auf, wie ausserhumane Lebewesen und natürliche Entitäten (Flüsse, Landschaften und Ökosysteme) im realen Leben als Rechtssubjekte wahrgenommen werden und auftreten können. Denn die ausserhumane Rechtspersönlichkeit auf dem Spielfeld des Rechts zeigt sich in der Wirklichkeit als Trägerin «subjektloser Rechte». Gerät aber damit das Recht bei seinem Eintritt in die Wirklichkeit nicht in die gleichen Schwierigkeiten, wie die Ethik, die moralische Subjektivität simulieren («Leben, das leben will») oder durch unsichere advokatorische Beziehungen und Stellvertretungsverhältnisse substituieren muss? Denn Streitigkeiten vor Gericht werden von realen Akteur:innen ausgetragen und nicht von «fiktiven» Naturen.

Rechte der Natur auch aus theologischer Sicht

Die Schwierigkeit besteht weniger in der juridischen Konstruktion von Rechten der Natur als in ihrer lebensweltlichen Implementierung, besonders in der Frage, wer und was zu diesen Rechtsverhältnissen gehört und wie sie begründet werden können. Was wird aus Radbruchs «Geschöpfe[n] der Rechtsordnung» im wirklichen Leben? Und wer gehört zu Sloterdijks «Erdenbürgertum […] diesseits und jenseits der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte»? Aus guten Gründen würden wir nicht allen Lebewesen eine, zumindest keine direkte, Schutzwürdigkeit attestieren (Viren, Krankheitserreger, Borkenkäfer, Naturkatastrophen). Gleichzeitig gilt es, die anthropozentrisch-konsequentialistischen Reflexe (Nutzen) zu vermeiden, mit denen eine antispeziesistische Ausweitung der Rechte sofort wieder kassiert würde. Schliesslich darf die Überwindung eines willkürlichen Anthropozentrismus im Recht nicht in das andere Extrem eines desinteressierten Fatalismus umkippen. Die Herausforderung ist klar: Es ist und bleibt eine ambitionierte menschliche Idee, einen Anthropozentrismus der Interessen im Recht zu überwinden. Aber welche Position kann bezogen werden, wenn die historisch imaginierte Alternative von anthropozentrischem und theozentrischen Standpunkt nicht mehr zur Verfügung steht?

Wir wissen längst, dass das geschichtsphilosophische Fortschrittsnarrativ zu keiner Zeit das einlösen konnte, was es versprochen hat. Auch der theologische Kampf gegen alle möglichen Lückenbüssergötter (Dietrich Bonhoeffer) hat die Lücken nicht abgeschafft. Das bestätigt das wachsende Interesse an existenziellen Formen von Ambiguität, Ambivalenz oder Liminalität. Die Lücken der Nichteindeutigkeit reformulieren aus der Erlebnisperspektive die alte epistemologische Frage, ob und wie objektive Erkenntnis möglich ist. Wie eng die Frage mit dem Thema der Rechte der Natur verbunden ist, zeigt bereits der Titel des berühmten Aufsatzes von Thomas Nagel «What is it like to be a bat?». Gibt es eine objektive Natur subjektiven Erlebens, die es Dritten möglich macht, die Erlebnisperspektive anderer zu übernehmen? Wie können wir wissen, wie es sich anfühlt, eine Fledermaus zu sein? Wir können es nicht wissen, weil wir nicht über die qualitativen Begriffe (Qualia) verfügen, die die Fledermaus bei der Beschreibung ihres Erlebens verwenden würde. Diese Einsicht scheint das Anliegen von Rechten der Natur hart auszubremsen. Aber der Eindruck täuscht, denn das Problem stellt sich grundsätzlich für jede Form der Stellvertretung. Das Recht umgeht die Herausforderung mit einem Taschenspielertrick, indem es ein einheitliches, vernünftiges und mit freiem Willen ausgestattetes Subjekt unterstellt, sodass stellvertretendes Handeln mit der Behauptung gerechtfertigt werden kann, dass jede vernünftige und mit freiem Willen ausgestattete Person in dieser Situation genauso urteilen und entscheiden würde. Diese Logik bildet das normative Gerüst für jede Form von Paternalismus.

Ein Blick in die moderne Rechtsgeschichte legt die Vermutung nahe, dass wir mit dem spätliberalem «Privatismus der Rechte», der die persönlichen Interessen und subjektive Artikulationsfähigkeit enorm aufbläht, die Funktion des Rechts von den Füssen auf den Kopf gestellt haben. Verkannt wird einerseits, dass die jüngere Rechtsentwicklung gerade auf eine Statusverbesserung der Personen und Gruppen zielt, die nicht in der Lage sind, ihre Rechtsansprüche selbst geltend zu machen (Kinderrechte, Rechte für Menschen mit Beeinträchtigungen). Andererseits wird übersehen, dass die Geschichte der modernen Menschenrechte mit zwei fundamentalen Abwehrrechten (Sklaverei- und Folterverbot) einsetzt, bei denen es zynisch wäre, von der rechtlichen Interessendurchsetzung von versklavten und gefolterten Personen zu sprechen. Die Artikulation von Interessen und Rechtsansprüchen bildet keine notwendige Bedingung für einen robusten Rechtsschutz. Praktisch gibt es darüber, was Tieren, Flüssen oder Regenwäldern auf keinen Fall angetan werden darf, keine ernsthaften Zweifel oder gehaltvollen Kontroversen. Allein die Selbstverständlichkeit, mit der wir über Umweltzerstörung sprechen, zeigt, dass wir genügend klare Vorstellungen davon haben, von welchem Soll-Zustand der ruinöse Ist-Zustand abweicht.

Bereits 1990 hatte eine Gruppe von Berner Theologen und Juristen einen Resolutionsentwurf «Rechte künftiger Generationen – Rechte der Natur. Ein Vorschlag zur Erweiterung der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte» zu Händen des damaligen Reformierten Weltbundes (heute WGRK) erarbeitet. Der damalige Mitautor Christian Link kommentiert rückblickend: «Die unbestrittene moralische Verpflichtung soll ‹Motor einer Rechtsentwicklung› werden, die die Natur nicht länger von Wohlwollen oder Interesse einzelner Menschen oder Organisationen abhängig macht. Sie soll nicht Objekt, sondern Subjekt, also Träger eigener Rechte sein, so wie es in unserer Rechtsordnung möglich ist, ‹selbst einen Haufen Geld, eine Stiftung, mit Rechten auszustatten, oder andere sogenannte juristische Personen zu schaffen, wie Aktiengesellschaften, Vereine etc., die als Rechts-Subjekte eigene Rechte haben›. Zu diesen Rechten zählt der Entwurf das ‹Recht [der Natur] auf Existenz›, das Recht ‹auf Schutz ihrer Ökosysteme›, auf ‹Erhaltung und Entfaltung ihres genetischen Erbes› sowie auf ‹ein artgerechtes Leben [von Pflanze und Tier], einschliesslich Fortpflanzung, in den ihnen angemessenen Ökosystemen› (436). Dass die Wahrung dieser Rechte einer Vertretung bedarf (wie im Falle ‹juristischer› Personen), versteht sich von selbst. Deshalb die Forderung: ‹Eingriffe in die Natur bedürfen der Rechtfertigung.› (436).»

Die theologische Begründung ersetzt die subjekttheoretische Rechtsauffassung durch eine relationale Bundesperspektive «Ich aber, ich richte meinen Bund auf mit euch und mit euren Nachkommen.» Genesis 9,9. Der Bund begründet nicht nur ein soziales Verhältnis oder eine wie immer geartete Verbundenheit, sondern konstituiert einen Status derjenigen, die auf diese Weise verbunden sind, und den das Alte Testament als Gerechtigkeit thematisiert. Der Bundesstatus sagt nichts darüber aus, wer oder was die Bundesgenoss:innen sind, sondern welche nichtreziproken (weil nichtvertraglichen) Ansprüche aus diesem Verhältnis erwachsen. «Das Wort ‹gerecht› bezeichnet hier den Status, den einer hat oder verliert. Dieser Status ist das Primäre, die Grundfigur sozusagen, an der sich das alttestamentliche Rechtsdenken ausgebildet und orientiert hat. Die Bedingungen, ihn zu erhalten bzw. zurückzugewinnen, so wichtig sie im Einzelfall sein mögen, ist demgegenüber etwas Abgeleitetes, Sekundäres. Erst rückwirkend kommen sie als faktisch geltende Normen, als Rechte, mit denen Gott die Vorgaben unserer Lebenswelt ausgestattet hat und schützt, in Betracht. Rechtssätze – das also ist hier entscheidend – stehen nicht am Anfang. Damit sie formuliert werden können, muss uns zuvor der Lebensbereich erschlossen werden, den sie normieren bzw. schützen sollen. Die Forderung der Rechtsnorm und deren Anerkennung ist daher nur sinnvoll, wenn uns zuvor dieser Bereich gegeben ist und sich uns als ein einleuchtendes Angebot präsentiert.

Das Ableitungsverhältnis von Gerechtigkeit und Recht gilt unabhängig davon, ob der religiöse Entfaltungskontext geteilt wird oder nicht. Wenn das Recht den Status im Bundesverhältnis schützt, kann vom Recht nicht erwartet werden, dass es selbst den Status verleiht oder setzt, durch den jemand oder etwas zum Mitglied des Bundes resp. der Rechtsgemeinschaft wird. Das Recht erklärt zwar die Rechtsperson und verhält sich dieser gegenüber adäquat, aber es entscheidet nicht darüber, wer oder was diesen Status erhalten soll und wer oder was nicht. Deshalb befinden sich alle Positionen auf dem Holzweg, die einen Rechtsstatus mit dem Argument verweigern, dass dieser mit dem Recht inkompatibel sei. Die juridische Rechtspersönlichkeit zeigt sich entspannt indifferent gegenüber den Merkmalen, Kennzeichen und Charaktereigenschaften, aus denen wir unsere sozialen Hierarchien basteln. Der Status ist biblisch – und modern menschenrechtlich – gesprochen radikal bildlos (Bilderverbot).

Allerdings übersehen die theologischen Überlegungen zu Rechten der Natur die wesentliche, im Vorschlag selbst angelegte Pointe: Wenn die Natur als Rechtspersönlichkeit behauptet wird, folgt daraus – wie für jedes andere Rechtssubjekt –, dass sie ihre Rechte grundsätzlich selbst wahrnimmt. Andernfalls wäre die Statuierung von Rechten der Natur nur der neue Wein in den alten Schläuchen von menschlichem good will und technologisch-paternalistischer Stellvertretung. Der Status der Natur als Rechtssubjekt in der Rechtsgemeinschaft hat eine Konsequenz, die dem hektischen Betriebsmodus der Technologiegesellschaften und einer aufgescheuchten Moral komplett entgeht: Die Natur besorgt es sich schon selbst, wenn wir sie nur lassen würden. Die Natur ist Natur, wenn wir unsere wie immer gearteten und gemeinten Eingriffe sein lassen. Die Konstruktion des Rechts hat in dieser Hinsicht mehr begriffen als seine Konstrukteur:innen. Auch wenn es ernüchternd und enttäuschend klingt, führt kein Weg an der grammatisch inkorrekten Einsicht vorbei, dass das Recht aus sich selbst heraus keine exklusiven Ambitionen für die Menschen hegt.


Text im Original mit Fussnoten und Quellenangaben:


Dieser Text enthält Gedanken aus dem Resolutionsentwurf der Gruppe Berner Theologen und Juristen von 1990 zuhanden des Reformierten Weltbundes (heute Weltbund der Reformierten Kirchen, WGRK)

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Autor:in

Frank Mathwig

Frank Mathwig

Prof. Dr. theol. Beauftragter für Theologie und Ethik

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