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In Zeiten multipler Krisen, wachsender Unsicherheit und gesellschaftlicher Spannungen gewinnt eine scheinbar einfache Frage neue Bedeutung: Was brauchst du? Hinter ihr verbergen sich komplexe Überlegungen zu Bedürfnissen, Ansprüchen und Wünschen – aber auch zu Machtverhältnissen, ethischen Zumutungen und dem Mut zur Ambivalenz. Wer fragt, setzt Prioritäten. Wer gefragt wird, ist herausgefordert, sich selbst und die Welt zu verstehen. Dieser Beitrag lädt dazu ein, der Frage selbst auf den Grund zu gehen – und zeigt, warum ethische Orientierung heute mehr denn je voraussetzt, dass wir die Unsicherheit nicht verdrängen, sondern ihr standhalten.
«… die Antwort passt auf die Frage und
nicht umgekehrt die Frage auf die Antwort».
Bernhard Waldenfels[1]
Fragen haben etwas Verführerisches. Üblicherweise zielen sie auf Information, Wissen oder Erkenntnis. Eine Frage ist erfolgreich, wenn ihre Antworten die Welt der fragenden Person aufklären: Sie weiss mehr als davor, versteht etwas besser, ist ihre Unsicherheit los, sitzt nicht länger einem Irrtum oder Missverständnis auf etc. Weil Wissen mit Macht gleichgesetzt wird und Kompetenz mehr zählt als Unwissenheit und Inkompetenz, entsteht fast automatisch eine Hierarchie zwischen der fragenden Person unten und der antwortenden Person darüber. Obwohl diese Ordnung auf der sozialen Ebene häufig zutrifft, verhält es sich auf der kommunikativen Ebene genau umgekehrt. Fragen führen in dreifacher Hinsicht Regie: (1.) Sie steuern die Aufmerksamkeit für die Welt, indem sie ihren fragenden Finger in bestimmte Wunden legen. (2.) Sie bestimmen, worauf geantwortet werden muss. Und (3.) Sie spuren den Denkweg vor, auf dem die Antworten gesucht werden müssen.
Ein instruktives Beispiel für die Frage-Antwort-Hierarchie bietet das Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner (Lk 10,25–37) Auf die Ausgangsfrage des Gesetzeslehrers reagiert Jesus mit einer Gegenfrage. Das ist weder eine Antwort noch eine angemessene Reaktion auf die Frage des Gesetzeslehrers danach, wem er Hilfe schuldet. Jesus reagiert stattdessen mit der umgekehrten Frage, wer der hilfsbedürftigen Person eine nächste geworden ist. Er verweigert sich dem Diktat der Ausgangsfrage, weil sie einer Logik folgt, in der die Nächstenliebe nicht vorkommen könnte. Dass die jüdische Nächstenliebe (Dtn 6,5 und Lev 19,18) für das Christentum die zentrale Bedeutung bekommen konnte, verdankt sich also der Verweigerung Jesu gegenüber der Frage-Logik des Gesetzeslehrers. Hätte er dessen Frage beantwortet, gäbe es kein biblisch überliefertes Jesu-Wort von der christlichen Nächstenliebe.
Fragen sind also heikel, weil sie die Regeln des Spiels bestimmen, in dem die Antworten stattfinden. Wer die Fragen stellt, hat die Macht, wessen Antwort gefordert ist, hat die Mühsal. Das gilt auch für die Titelfrage «Was brauchst du?». Deshalb werde ich im ersten Teil des Vortrags die Frage selbst untersuchen, bevor ich mich im zweiten Teil den Grundlagen für mögliche Antworten zuwende.
Die Frage, was jemand braucht, erwartet auf den ersten Blick zwei Antworten: Entweder eine Auskunft darüber, was eine Person braucht, oder die Erklärung, dass sie nichts braucht. Im ersten Fall fehlt der Person etwas, im zweiten Fall nichts. Offen bleibt, worauf die Frage bezogen ist. Je nach Kontext, hat das Verb «brauchen» eine andere Bedeutung und zielt in der Frage auf etwas anderes. Deshalb eine kleine Typologie dessen, was Personen in unterschiedlichen Situationen und Zusammenhängen brauchen:
Wer ein Bild aufhängen will, braucht Hammer und Nagel, wer ein Gericht aus dem Kochbuch zubereiten will, braucht die passenden Zutaten und die nötigten Küchengeräte. Das gilt genauso für immaterielle Güter, Fähigkeiten und Kompetenzen: Im Streit braucht es Besonnenheit, im Verkehrsstau Gelassenheit, für die Gartenarbeit gutes Wetter, für den Urlaub entspannte Stimmung und in komplexen Entscheidungssituationen Aufmerksamkeit und Weitsicht. Was jeweils gebraucht wird, hängt davon ab, was gewollt, gesollt oder angestrebt wird. Gebraucht werden Mittel für vorgegebene Ziele und Zwecke. Wird das Ziel oder der Zweck aufgegeben, braucht es die Mittel nicht mehr. Wenn sich herausstellt, dass das Bild nicht an den vorgesehenen Platz passt oder wenn die Gäste ihren Besuch absagen, braucht es die Werkzeuge und die Essenszutaten nicht mehr.
Die Frage danach, was jemand braucht, kann auch allgemein verstanden werden, etwa in der Frage «Was braucht der Mensch zum Leben?» Die Frage unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von der Titelfrage: (1.) Sie ist an keine konkrete Person – ein «Du» – gerichtet, sondern an jedes «Du» der ganzen Menschheit. (2.) Weil eine Person nicht für alle sprechen kann, finden sich die Antworten auf die Frage an einem anderen Ort: im Völkerrecht, in Menschenrechtsdeklarationen, nationalen Verfassungen und Gesetzestexten. Die Antworten des Rechts weisen darauf hin, dass die Frage, was «der Mensch» zum Leben braucht, eine allgemeine Antwort verlangt, die in die Zuständigkeit der gesamten Menschheit bzw. aller Bürgerinnen und Bürger eines Landes fällt. Die Menschheit insgesamt ist die Adressatin der Frage danach, was «der Mensch» zum Leben braucht. (3.) Schliesslich unterscheidet sich die Frage, was «der Mensch» zum Leben braucht, von der Ausgangsfrage durch die Angabe, worauf sich das Brauchen bezieht. Es geht nicht um die Belange einer konkreten Person, sondern darum, was jede Person zum Leben nötig hat. «Leben» meint hier nicht das biographische Leben einer konkreten Person, sondern allgemein das menschliche Leben, das die Voraussetzung für die individuelle biographische Lebensführung bildet. Der Umstand, dass sich für die meisten Mitglieder in westlichen Gesellschaften keine Lebens- und Überlebensfragen stellen, verleitet dazu, die allgemeine Frage, was die Menschheit zum Leben braucht, auf die individuelle Frage zu verkürzen, was eine Person für ihr persönliches Leben braucht.
Die Frage «Was brauchst du?» provoziert die Gegenfrage «wofür?» und «wozu?». Für eine grobe Ordnung kann auf ein bewährtes Kategorienschema zurückzugegriffen werden: die Unterscheidung zwischen Ansprüchen (demands), Bedürfnissen (needs) und Wünschen (wants).[2]
Ansprüche betreffen alle objektiven, öffentlich anerkannten Lebensbedingungen, auf die jede Person ein Recht hat (etwa Rechte auf Persönlichkeitsschutz, Teilhabe und Bildung). Grundlegend dafür sind die 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, die beiden Menschenrechtspakte über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und über bürgerliche und politische Rechte von 1966 sowie eine Reihe weiterer Menschenrechtskonventionen. Sie bestimmen, welche Rechte und Güter jeder Person für ein würdevolles und selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Gemeinschaft zustehen. Genau genommen sind die rechtlichen Ansprüche, die die Menschen- und Grundrechte jeder Person garantieren, eine Antwort auf die Frage, was jede Person jeder anderen Person schuldet. Denn der Respekt und die Anerkennung der Rechte der Person müssen von jeder Person erbracht werden. Im Zusammenhang fundamentaler moralischer und rechtlicher Ansprüche muss die Titelfrage also umgedreht werden: «Was brauchst du von mir und jeder anderen Person?»
Bedürfnisse bezeichnen alle Erfordernisse und Güter, die alle Menschen in grundsätzlich gleicher Weise zum biologischen und sozialen Leben und Gedeihen brauchen (etwa Nahrung, Gesundheit und Sicherheit). Sie bilden den Bezugspunkt für die menschen- und grundrechtlichen Ansprüche und sind das Thema komplexer gerechtigkeitstheoretischer, politik- und sozialwissenschaftlicher Diskurse. Ein prominenter Vorschlag stammt von der US-amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum. Sie hat einen Katalog von menschlichen Grunderfahrungen und Grundbefähigungen formuliert, die jede Person für ein gutes Leben braucht, und worauf sie deshalb einen gleichen Anspruch haben soll: 1. Leben: die Fähigkeit, ein volles menschliches Leben zu führen und nicht vorzeitig durch Krankheit, Gewalt oder andere Ursachen zu sterben; 2. körperliche Gesundheit: die Fähigkeit, eine gute Gesundheit zu geniessen, Nahrung und Unterkunft zu haben; 3. körperliche Unversehrtheit: die Fähigkeit, sich frei zu bewegen, vor Gewalt geschützt zu sein und sexuell selbstbestimmt zu leben; 4. Sinne, Vorstellungskraft und Gedanken: die Fähigkeit, die Welt wahrzunehmen, zu denken und zu argumentieren, gefördert durch Bildung, Kunst und Meinungsfreiheit; 5. Gefühle: die Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und Menschen zu entwickeln und Gefühle wie Liebe, Trauer, Dankbarkeit oder Sehnsucht zu empfinden; 6. praktische Vernunft: die Fähigkeit, ein selbstbestimmtes Bild vom guten Leben zu entwickeln und dieses ethisch zu reflektieren; 7. Zugehörigkeit: a) die Fähigkeit, mit anderen zu leben, Mitgefühl zu entwickeln und über soziale Grundrechte (Redefreiheit, Beteiligung, Mittbestimmung etc.) zu verfügen; b) die Fähigkeit, als gleichwertig mit anderen gesehen und behandelt zu werden; 8. Bezug zu anderen Arten: die Fähigkeit, mit Tieren, Pflanzen und der Natur in Beziehung zu stehen und deren Bedeutung zu achten; 9. Spiel: die Fähigkeit, zu lachen, zu spielen und sich an Freizeitaktivitäten zu erfreuen; 10. Kontrolle über die eigene Umwelt: a) politisch: Teilhabe an politischen Entscheidungen, Meinungsfreiheit; b) materiell: Eigentum besitzen, Arbeitsmöglichkeiten haben.[3] Die Fähigkeiten bilden das Set von Bedürfnissen, deren kumulative Erfüllung die Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben bilden. Die Verwirklichung dieser Bedürfnisse ist das, was jede Person objektiv braucht.
Wünsche sind dagegen die nicht existenziellen, subjektiven Aspekte der persönlichen Lebensführung und -gestaltung (etwa Lebensstil, Sinnhaftigkeit und Erfolg). Sie haben nicht den Status objektiver Bedürfnisse, mit denen zwingenden Ansprüche verbunden sind. Gleichwohl können sie aus subjektiver Perspektive im Vordergrund stehen und die Frage «Was brauchst du?» dominieren.
Entscheidend ist die Unterscheidung zwischen Bedürfnis und Wunsch. Es wäre blanker Zynismus, zu behaupten, dass eine verdurstende Person den Wunsch nach Wasser, eine ertrinkende Person den Wunsch nach Rettung und eine verfolgte Person den Wunsch nach Schutz hat. In diesen Fällen geht es nicht um Wünsche, sondern darum, was eine Person objektiv braucht. Wir wissen nicht nur, was diese Personen brauchen, sondern wir wissen auch, dass sie es von uns brauchen. Die existenziellen Fragen des Lebens sind in der Regel viel einfacher als die komplexen Debatten darüber suggerieren. Mit den Worten des jüdischen Philosophen Hans Jonas geht es kurz und knapp darum: «Sieh hin und du weisst.»[4] Die existenzielle Not von Menschen erübrigt jede Frage. Sie ist im wahrsten Sinn des Wortes fraglos.
Eine neue Perspektive kommt ins Spiel, wenn das «Brauchen» in der Titelfrage als «Wünschen» verstanden wird, also im Sinn von: «Was willst Du?» Dann geht es nicht mehr um Mittel und Bedingungen, sondern um Ziele und Zwecke, die im Leben angestrebt und verfolgt werden. Einen dramatischen Zielkonflikt erlebt Paulus: «Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.» (Röm 7,19) Hinter der biographischen Erfahrung des Apostels steht das komplexe Thema von Freiheit und Unfreiheit des Willens und des Handelns. Wie komme ich zu der Erkenntnis oder Einsicht, was ich (im übertragenen Sinn) brauche, und grundsätzlicher, kann ich überhaupt erkennen und einsehen, was ich wirklich brauche?
Für den US-amerikanischen Philosophen Harry Frankfurt ist der Umgang mit den eigenen Wünschen Ausdruck der menschlichen Fähigkeit, ein reflektiertes Verhältnis zu sich selbst einzunehmen. Das ist dann der Fall, wenn eine Person zur normativen Instanz ihrer selbst wird. Personalität zeigt sich darin, dass eine Person nicht nur etwas wollen, sondern sich zu dem, was sie will, auch verhalten kann. Im Anschluss an die Kantische Idee vom autonomen Subjekt besteht Willensfreiheit für Frankfurt in einem praktischen Verhältnis der Person zu sich selbst. Das Dilemma des Paulus erläutert er am Beispiel zweier Drogensüchtiger.[5] Beide sind körperlich abhängig, so dass sie in regelmässigen Abständen ihrem «Verlangen nach der Droge erliegen». Der erste unfreiwillig Süchtige hat widersprüchliche Wünsche: «[E]r möchte die Droge nehmen, und er möchte sich doch zugleich davon zurückhalten, sie zu nehmen. […] Er möchte, dass der zweite Wunsch [desire] und nicht der erste sein Wille [will] sei.» Der Wunsch nach der Droge und der Wunsch, keine Drogen nehmen zu wollen, widersprechen sich, wenn sich gleichzeitig die Motive und das Handeln bestimmen. Der Widerspruch kann aber aufgelöst werden, wenn die beiden Wünsche hierarchisch geordnet werden: auf der ersten Stufe die Wünsche, die eine Person hat, und auf der zweiten Stufe, die Wünsche, die eine Person haben will. Auf der zweiten Stufe identifiziert sich der Süchtige wider Willen mit dem Wunsch, keine Drogen nehmen zu wollen und nicht mehr mit dem Wunsch-auf-der-ersten-Stufe, Drogen konsumieren zu wollen. Damit macht er «einen der Wünsche wirklich mehr zu seinem eigenen als den anderen.»
Dieser Person stellt Frankfurt einen zweiten Süchtigen gegenüber, der nicht überlegt, «ob er auch möchte, dass sich aus dem Verhältnis seiner Wünsche eben der Wille ergibt, den er hat». Er ist nicht fähig, «seinen Willen zu bedenken. […] Den triebhaften Süchtigen kann es nicht kümmern, welcher der widerstreitenden Wünsche sich durchsetzt, oder er kümmert sich eben einfach nicht darum.» Seine Unfähigkeit rührt «entweder aus einem Mangel an Reflexionsvermögen oder daher, dass er aus gedankenloser Gleichgültigkeit den Mut nicht findet, seine eigenen Wünsche und Motive einer wertenden Beurteilung zu unterziehen.»
Frankfurts unterscheidet zwischen Wünschen-auf-der-ersten-Stufe, die sich auf Dinge oder Handlungen beziehen, und Wünschen-auf-der-zweiten-Stufe, die die Wünsche selbst betreffen und den Willen der Person ausmachen. Während beide Süchtige über Handlungsfreiheit verfügen, weil sie aus eigenem Antrieb tun, was sie (auf der ersten Stufe) tun wollen, attestiert Frankfurt nur dem Süchtigen wider Willen auch Willensfreiheit, weil «er frei ist zu wollen, was er wollen möchte. Genauer heisst das, dass er frei ist, den Willen zu haben, den er haben möchte.»[6] Damit ist nichts darüber gesagt, ob eine Person ihr Handeln tatsächlich durch ihren Willen bestimmen lassen kann, also in ihrem Handeln durch ihren Willen bestimmt wird. Das ist offensichtlich häufig nicht der Fall, weder bei Paulus noch bei den Drogensüchtigen noch bei jeder anderen Person. Trotzdem ist die Unterscheidung zwischen den Wünschen und dem Willen der Person für die Idee menschlicher Freiheit unverzichtbar. Die Freiheit wiederum bildet die fundamentale Voraussetzung für die Vorstellung der Person als moralisches Subjekt, das Urteile fällen, Verantwortung übernehmen und dem sein Entscheiden und Handeln zugerechnet werden kann.
Wünsche betreffen die Zukunft, und werden mehr oder weniger stark verfolgt. Sie stehen in einer engen Beziehung zu den Werten und Überzeugungen, Interessen und Präferenzen, Zielen und Hoffnungen, die eine Person hat. Wünsche sind der Motor und das Damoklesschwert für die Persönlichkeitsentwicklung sowie die individuelle und gemeinschaftliche Lebensführung und -gestaltung. Auch wenn Wünsche als höchst individueller Ausdruck der Person gelten, haben sie eine wesentlich soziale Dimension. Ein Wunsch wird überflüssig, wenn er selbst realisiert werden kann. Die Person, die das, was sie will, selbst erreichen und herstellen kann, bleibt bei sich. Dagegen muss die Person, die ihre Wünsche nicht selbst realisieren kann, aus sich heraustreten. Sie wünscht für sich etwas von anderen. Auch im übertragenen Fall, wie in Frankfurts Unterscheidung zwischen Wünschen erster und zweiter Ordnung, tritt das wünschende Ich einem anderen Ich gegenüber, an das der Wunsch adressiert wird. Wünsche konstituieren ein Beziehungsverhältnis: Der Wunsch begründet eine Beziehung zwischen der wünschenden Person und der Person oder Instanz, an den der Wunsch adressiert wird. Echtes Wünschen verlangt, dass sich die wünschende Person einer anderen Person oder Instanz aussetzt. Sie kann mit ihren Wünschen nicht bei sich bleiben.
Deshalb sind Wünsche riskant. Sie appellieren an eine Gabe von anderen, die die wünschende Person nicht kontrollieren kann. Wer einen Wunsch äussert, muss mit allem rechnen können, etwa dass der Wunsch unerhört und unerfüllt bleibt, oder dass etwas völlig anderes als das Gewünschte dabei herauskommt. Der Volksmund weiss: «Einem geschenkten Gaul, schaut man nicht ins Maul.» Paradoxerweise ist der eigene Wunsch untrennbar mit dem anderen Wunsch verbunden, dass «nicht mein Wille, sondern der deine geschehe» (Lk 22,42). Der Doppelwunsch ist notwendig, weil der einfache Wunsch ansonsten nicht von einer Forderung, einem Auftrag oder einem Befehl unterschieden werden könnte. Gegenüber Forderungen sind Wünsche sozial machtlos und durchsetzungsschwach. Der Wunsch einer Person hängt ganz davon ab, dass er von einer anderen Person oder Instanz gehört, angenommen und verwirklicht wird.
Jesus fordert in der Bergpredigt: «Sorgt euch also nicht […]. Euer himmlischer Vater weiss nämlich, dass ihr das alles braucht.» (Mt 6,31f.) Im Abschnitt der Bergpredigt «Von falscher und echter Sorge» (Mt 6,25–34) reimt sich «brauchen» (griech. chrízo – wünschen, benötigen, verlangen) auf «sorgen» (griech. merimnáo – sich sorgen, ängstlich sein, beunruhigt sein), wobei Gottes Sorge für das Gebrauchte auf die menschlichen Sorgen reagiert. Zwischen Sorgen und Brauchen besteht ein enger Zusammenhang: Am dringendsten gebraucht wird in den meisten Fällen das, was die grössten Sorgen bereitet: Aus der Sorge vor Krieg folgt die Forderung nach Frieden, aus der Sorge um das Klima folgt die Forderung nach drastischen klimapolitischen Massnahmen, aus der Sorge vor zu vielen Flüchtlingen folgt die Forderung nach einer rigiden Aufnahmepolitik, aus der Sorge vor Ansteckung folgt die Forderung nach freiheitsbeschränkenden Massnahmen. Angesichts der kumulativen Unsicherheitsszenarien verlieren die gesellschaftlichen Gewissheiten und die vertrauten Sicherheitsversprechen an Glaubwürdigkeit und stellen ihre freiheitlichen und humanitären Grundlagen zunehmend in Frage. Sorgen fokussieren die Aufmerksamkeit und werden in Krisenzeiten häufig zum bestimmenden Massstab, dem alles andere untergeordnet wird. Sie können dann nicht nur die anderen Wünsche, die Personen haben, überlagern, sondern auch die Priorität der allgemeinen Ansprüche und Bedürfnisse angreifen.
Die jährlich von der ETH herausgegebene Befragungsstudie «Sicherheit» stellt für das Jahr 2024 fest, dass die schweizerische Bevölkerung sich im Allgemeinen etwas weniger sicher fühlt als in den Jahren davor, dass vor allem durch den Ausbruch des Ukraine-Kriegs der Zukunftsoptimismus leicht abgenommen hat und dass die weltpolitische Lage kritischer eingeschätzt wird als in der Vergangenheit.[7] Natürlich bewegen sich die Sorgen der befragten Stimmbürger:innen auf hohem Niveau in einem Land, das gemäss dem Global Peace Index 2023 weltweit an zehnter Stelle der Friedensrangliste steht.[8] Allerdings verbinden sich bei Sicherheits- und Unsicherheitswahrnehmungen und -empfindungen empirische Tatsachen mit normativen Bewertungen, die stark vom Vertrauen der Bevölkerung in ihre Institutionen abhängen. Wie die Risikoforschung zeigt, können empirische Risikorealität und normative Risikowahrnehmungen bis zur Irrationalität auseinanderfallen.[9] Hinzu kommt der paradoxe Effekt, dass die Unsicherheiten und Risiken durch die stärkere Fokussierung auf die Herstellung von Sicherheit und die Vermeidung von Risiken nicht ab-, sondern zunehmen. Je mehr in Sicherheit investiert wird, desto stärker wachsen Gefühle der Unsicherheit, weil durch die zunehmende Sensibilität immer neue Unsicherheiten identifiziert werden, die immer neue Sicherheitsbedürfnisse erzeugen. Sicherheit als normative Leitkategorie konfrontiert die Gesellschaft mit ständig neuen Unsicherheiten, eine Dynamik, der in den Security-Studies als securitization (Versicherheitlichung) beschrieben wird. Der Soziologe Niklas Luhmann hat den Effekt auf amüsante Weise erklärt: «Wenn es Regenschirme gibt, kann man nicht mehr risikofrei leben: Die Gefahr, dass man durch Regen nass wird, wird zum Risiko, das man eingeht, wenn man den Regenschirm nicht mitnimmt. Aber wenn man ihn mitnimmt, läuft man das Risiko, ihn irgendwo liegenzulassen.»[10]
Die Transformation von Gefahren in Risiken haben das Leben kalkulierbarer und sicherer gemacht, wie die Entwicklungen in der Medizin unmittelbar verdeutlichen. Aber die Umwandlung von Schicksal in Risiko hat die Sorgen nicht abgeschafft, sondern nur verschoben. An die Stelle der Sorgen angesichts eines übermächtigen Schicksals in der Vergangenheit, treten heute die Sorgen, ob und wie mit den Lebensrisiken verantwortungsvoll umgegangen werden kann. Die menschlichen Sorgen und Unsicherheiten verschieben sich, kommen in neuen Kleidern daher, aber bleiben selbst in privilegierten Gesellschaften ziemlich stabil. Lindenau und Stiehler resümieren: «Ungewissheit und Unsicherheit sind wohl die einzig verlässlichen Konstanten, die das menschliche Leben aufzuweisen hat. Und doch scheinen wir als moderne Menschen grosse Mühe zu haben, diesen Umstand zu akzeptieren. Zwar wissen wir grundsätzlich, dass das Leben stets unsicher war und auch bleiben wird. Ebenso wissen wir, dass absolute Gewissheit, ausser vielleicht in der Mathematik und der Logik, eine Chimäre ist. Denn subjektiv kann Gewissheit nicht über den Punkt des persönlichen Überzeugtseins von etwas hinausreichen, und auch objektiv bleibt Gewissheit an die Auffassung von der Verfügbarkeit einer sicheren Begründung gebunden.»[11]
Die Sicherheits- und Sorgenarrative befinden sich im Dauerclinch, der sich in immer neuen Debatten manifestiert: Sind die aktuellen Krisen herbeigeredet, weil wir im Tunnelblick auf die Gegenwart feststecken? Oder reden wir uns umgekehrt die Wirklichkeit schöner als sie ist, um sie besser ertragen zu können? Ist uns das Vertrauen abhandengekommen oder nur die vermeintliche Sicherheit, in der wir uns irrtümlich gewogen haben? Werden die Verunsicherten durch ihre Befürchtungen in die Irre geführt oder die Gelassenen durch ihre Unaufmerksamkeit und Ignoranz? Bei allen Fragen könnte und beides zutreffen – allerdings wissen wir das – wenn überhaupt – erst in der Zukunft.
Sorge und Unsicherheit sind stets auf die Zukunft gerichtet, denn das Augenblickliche ist bekannt. Verunsicherung und Sorge bereit nur der Gedanke, wie es in Zukunft weitergehen wird. Friedrich Nietzsche bringt es auf den Punkt: «Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiss nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. […] Der Mensch fragt wohl einmal das Tier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergass es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so dass der Mensch sich darob verwunderte. Es wunderte sich aber auch über sich selbst, das Vergessen nicht lernen zu können und immerfort am Vergangenen zu hängen: mag er noch so weit, noch so schnell laufen, die Kette läuft mit.»[12] Schöpfungstheologisch oder evolutionsgeschichtlich losgelassen vom «Pflock des Augenblicks» weiss homo sapiens um die Zeitlichkeit und zahlt für diese Erkenntnis mit seiner Sorge um die Zukunft und seinen unauslöschbaren Prägungen aus der Vergangenheit. Das Problem besteht darin, dass die Menschen zwar mehr wissen als die Herde, aber nicht weiter sehen können. Deshalb gelingt es ihnen nicht, das sorglose Glück am «Pflock des Augenblicks» in die Zeitlichkeit hinüberzuretten. Sie wissen zu viel, für das, was sie sehen können und sehen zu wenig, für das, was sie wissen. Denn «über den nächsten Augenblick hinweg kann nicht gesehen, nur gedacht werden».[13]
An die Stelle des Pflocks des Augenblicks sind kulturelle Ordnungen getreten, von denen einige beanspruchen, zumindest eine gewisse Überzeitlichkeit zu simulieren: das Naturrecht, Prinzipien und Wahrheiten der Vernunft, Schöpfungsordnungen, oder eine im Menschen selbst angelegte Humanität und Moralität. Aber diesen Versuchen einer bruchlosen, überzeitlichen, ordnenden Struktur kommt die Kontingenz menschlichen Erfahrungen in die Quere: «Die Erfahrungen, die wir haben, sprechen gegen die Erfahrungen, die wir machen, und die Erfahrungen, die wir machen, sprechen gegen die Erfahrungen, die wir haben. […] Wir erwarten, dass sich unsere alten Erfahrungen ständig wiederholen, und machen immer wieder neue Erfahrungen. Die gewohnten Erfahrungen kommen uns so vor wie der natürliche Lauf der Dinge, die unheimlichen Erfahrungen wie die einmaligen Ereignisse der Geschichte.»[14]
Versuche, die Menschen und die Welt auf einen Nenner zu bringen, hat es immer gegeben. Übergeordnete Massstäbe sind auch unverzichtbar, um Ordnung herstellen und Differenz feststellen zu können. Aber jeder Massstab ist grundsätzlich prekär, weil er für alles Geltung beansprucht, ohne alles erfassen zu können. Massstäbe sind immer kontextgebunden und selektiv, wie die postkolonialen und Diversitätsdiskurse, die Debatten über sexualisierte Gewalt, Geschlechterverhältnisse und Genderidentitäten und die Diskussionen über subjektlose und ausserhumane Rechte eindrücklich zeigen. Tatsächlich sind die politischen und gesellschaftlichen Debatten hoch ambivalent. Einerseits kämpfen engagierte zivilgesellschaftliche Bewegungen für kulturelle Diversität anstelle hegemonialer Homogenität. Zugleich gibt es starke Tendenzen zu einer «Vereindeutigung der Welt», die der Islamwissenschaftler Thomas Bauer in einem fulminanten Essay angegriffen hat.[15] Er diagnostiziert «so etwas wie eine moderne Disposition zur Vernichtung von Vielfalt»,[16] die er in ganz verschiedenen Zusammenhängen beobachtet: das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten, das rapide Verschwinden von Dialektsprachen, die Homogenisierung der Vielfalt innerhalb der Religionen, die kulturelle Verarmung durch digitale Monopolisierung oder die moralische Uniformierung politischer Debatten. Das diese Tendenzen nicht neu sind, bestätigen die Beobachtungen des Schriftstellers Stefan Zweig aus dem Jahr 1925:
«[E]in leises Grauen vor der Monotonisierung der Welt. Alles wird gleichförmiger in den äusseren Lebensformen, alles nivelliert sich auf ein einheitliches kulturelles Schema. Die individuellen Gebräuche der Völker schleifen sich ab, die Trachten werden uniform, die Sitten international. Immer mehr scheinen die Länder gleichsam ineinandergeschoben, die Menschen nach einem Schema tätig und lebendig, immer mehr die Städte einander äusserlich ähnlich. [… N]ie war dieser Niedersturz in die Gleichförmigkeit der äusseren Lebensformen so rasch, so launenhaft wie in den letzten Jahren. Seien wir uns klar darüber! Es ist wahrscheinlich das brennendste, das entscheidendste Phänomen unserer Zeit.»[17]
Wenn die Diagnosen zutreffen, gibt es eine gesellschaftliche Sehnsucht einerseits nach Beherrschung der Kontingenz von Unvorhersehbarkeit und Unverfügbarkeit und andererseits nach Reduzierung der Komplexität von Unübersichtlichkeit und Fremdheit. Die Moral spielt bei diesen Strategien eine zentrale Rolle, weil sie die soziale Operation von Zugehörigkeit und Ausschluss am besten beherrscht. Deshalb spitzt sich die Frage «Was brauchst du?». Es zeigt sich, dass die oben vorgestellten Dimensionen der Ansprüche, Bedürfnisse und Wünsche nicht in jedem Fall kumulativ zusammengehören, sondern konfrontativ und konkurrenzierend aufeinandertreffen können. Das, was eine Person braucht und sich wünscht, kann die allgemeine Anerkennung der Ansprüche und Bedürfnisse aller Menschen angreifen. Das geschieht beispielsweise, wenn sich die Anerkennung nur noch auf die eigene Gruppe oder Nation beschränkt und andere Gruppen und Nationen ausschliesst.
In diesen Fällen wird die Titelfrage nicht mehr an prinzipiell jedes «Du» gerichtet, sondern nur noch an die «Du» aus der eigenen Community, die sich als homogenes «Wir» verstehen. In gesellschaftlichen Unsicherheitslagen führen die wachsenden Sorgen in der Bevölkerung dazu, dass die Frage «Was brauchst du?» entweder nur noch exklusiv adressiert oder die Antworten nur noch selektiv gehört werden. Das «Du» ist nicht mehr ein beliebiges aus der gesamten Menschheit, sondern ein bestimmtes aus der eigenen Gemeinschaft. Die Folge ist – mit den Worten der Philosophin Hannah Arendt – der «Verlust der Relevanz und damit der Realität der Sprache» und «der Verlust aller menschlichen Beziehungen»[18] für die Personen, die nicht mehr gefragt und deren Antwort nicht mehr gehört wird.
Die Titelfrage «Was brauchst du?» klingt einfacher, als sie ist. Dabei bilden die vorangegangenen Bemerkungen zum Verständnis der Frage und zum Kontext möglicher Antworten nur die Spitze des Eisbergs. Abschliessend einige zusammenfassende Thesen:
Mit Fragen kann unterschiedlich umgegangen werden. Meine Bemerkungen konzentrierten sich auf das Verstehen der Frage «Was brauchst du?» anstatt auf mögliche Antworten. Mit diesem Vorgehen beherzige ich meine These am Schluss, dass es keinen exklusiven Status für ein «du» der Frage geben darf (auch nicht für Vortragende). Bei ethischen und anderen Fragen ist es von erheblicher Bedeutung, wer fragt, wer gefragt wird und wer antwortet. Das «Du» in der Frage ist prekär, weil die Art und Weise, wie das «Du» mit den Stimmen realer Personen zur Sprache kommt, davon abhängt, wer gefragt wird und wer nicht. Eine wichtige soziale Funktion des Fragens besteht darin, Gespräche zu eröffnen. Daneben gibt es Fragen, die Beziehungsräume öffnen. Eine prominente stammt aus einem Beatles-Song: «Will you still need me?» – Wirst du mich noch brauchen? Und daran kann – gewissermassen im Namen aller «Du» – die am meisten gebrauchte Frage anschliessen: «Wirst Du mich noch fragen?»
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