Bioethik ist ein zentraler Bereich gesellschaftlicher Debatten, in dem Theologie und Kirche einen relevanten Beitrag leisten können. Themen wie Sterbehilfe, Reproduktionsmedizin oder Geschlechtsidentität eröffnen Möglichkeiten, moralische Überzeugungen öffentlich zu diskutieren. Dabei bewegt sich die kirchliche Ethik oft von anfänglich ablehnenden Haltungen zu offenen und pluralen Positionen. Dieses Spannungsfeld spiegelt sich in der Entwicklung der Bioethik wider: von theologischen Grundlagen wie den “middle axioms” bis hin zu modernen ethischen Konzepten, die sich zunehmend von religiös geprägten Begriffen wie Würde entfernen und auf Prinzipien wie Autonomie und Gerechtigkeit setzen. Kirche und Theologie sind herausgefordert, ihre Rolle zwischen moralischem Zeugnis und institutioneller Verantwortung in einer pluralistischen Gesellschaft neu zu definieren. Frank Mathwig plädiert dabei für eine Perspektive, die das Erleben von Personen in den Mittelpunkt stellt.
«Welche Enge des seelischen Lebens […]!
Daher: Welche Unmöglichkeit, ein anderes Leben zu begreifen»
Ludwig Wittgenstein
1. Bioethik in Theologie und Kirche
Die Bioethik gehört zu den bedeutenden Arenen spätliberaler Gesellschaften, in denen über moralische Überzeugungen und Haltungen gestritten werden kann. Die ethischen Kontroversen haben (1.) eine Kompensationsfunktion in einer Welt, in der Systemrationalitäten und Funktionslogiken die Relevanz moralischer Urteile zurückgedrängt haben, (2.) eine Symbolfunktion beim Ausloten paradigmatischer Selbst-, Menschen- und Gesellschaftsbilder und (3.) eine Erprobungsfunktion für moralische Überzeugungen, bei der wenig oder nichts riskiert wird, weil es um Themen geht, die häufig nur eine kleine gesellschaftliche Minderheit betreffen. Bioethische Debatten bilden für Kirchen einen der letzten Resonanzräume ihrer Botschaft in der säkular-pluralistischen Gesellschaft. Sie folgen evangelischerseits weitgehend einer Standarddramaturgie: Ob Schwangerschaftsabbruch, Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik, Sterbe-, Suizidhilfe oder gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung, in allen Fällen bewegen sich die evangelisch-kirchlichen Beiträge von einer anfangs kritischen oder ablehnenden Haltung hin zu sich öffnenden oder zustimmenden Positionen. Der Wandel ist in der Regel mit einer innerkirchlichen Ausdifferenzierung und Pluralisierung des Überzeugungs- und Deutungsspektrums verbunden. Konflikte werden weniger durch konsensuale, einheitliche Positionen gelöst, als in ein sich sukzessive pluralisierendes Meinungsspektrum integriert. Damit verschwinden die Konflikte nicht, aber verlieren einerseits ihre störenden und trennenden Wirkungen und werden andererseits im pragmatischen Sinn operationalisierbar.
1.1 Besondere Kompetenz
Diese Dynamik hat eine konzeptionelle Vorgeschichte. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs, der Weltwirtschaftskrise und der heraufziehenden nationalsozialistischen Diktatur wirft die Ökumenische Bewegung bereits in den 1920er und 1930er Jahren die Frage nach einer internationalen Bündelung der ethischen Kräfte und einer engeren Zusammenarbeit zwischen Kirchen, Zivilgesellschaft und Politik auf. Der schottische Theologe Joseph Houldsworth Oldham prägte dafür das Konzept der mittleren oder impliziten Axiome (middle axioms) und verband damit zwei Absichten: 1. Mittlere Axiome sind zeitgebundene Normen, die darüber Auskunft geben, wie «zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Verhältnissen das christliche Liebesgebot den angemessensten Ausdruck findet». Mittlere Axiome wollen die Richtung bestimmen, «in der der christliche Glaube sich in einer besonderen Gesamtlage auswirken muss. Sie binden nicht für alle Zeiten, sondern sind vorläufige Umschreibungen der Art von Lebensführung, wie sie in einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Umständen von Christen gefordert wird.» 2. Mittlere Axiome erlauben die Integration unterschiedlich begründeter ethischer Forderungen. Es sind «‹Richtlinien› oder verdichtete ethische Erfahrungen, die auf «Problemerkenntnisse und Verfahrensweisen für ethisches Handeln in öffentlichen Angelegenheiten» gerichtet sind und «von Christen und Nichtchristen gleichermassen akzeptiert werden können» müssen.
«Die Präsenz von Theologie und Kirche in bioethischen Debatten in Westeuropa und der angelsächsischen Welt galt lange als Ausdruck für die religiöse Grundierung der Bioethik und für die besonderen kirchlichen und theologischen Kompetenzen.»
Die Präsenz von Theologie und Kirche in bioethischen Debatten in Westeuropa und der angelsächsischen Welt galt lange als Ausdruck für die religiöse Grundierung der Bioethik und für die besonderen kirchlichen und theologischen Kompetenzen. Die anfängliche theologische Dominanz verdankt sich einerseits der religiösen Prägungen besonders der US-amerikanischen Gesellschaft und andererseits dem akademischen Vorsprung der theologischen gegenüber der philosophischen Ethik. Deshalb waren theologische Ethiker:innen in den seit den 1970er Jahren entstehenden medizin- und bioethischen Instituten, Kommissionen und Beratungsgremien überproportional vertreten und prägten nachhaltig das Selbstverständnis, Aufgabenprofil, Auftreten der Bioethik und ihre Stellungnahmen. Unter dem zunehmenden Einfluss von philosophischer Ethik und Jurisprudenz veränderte sich das bioethische Profil. Aus theologisch-ethischer Sicht sind zwei Entwicklungen hervorzuheben: Das erstmals 1979, 2013 in siebenter überarbeiteter Auflage erschienene internationale Standardwerk «Principles of Biomedical Ethics» von Tom L. Beauchamp und James F. Childress verzichtet auf den für die moderne theologische Ethik zentralen Würdebegriff und setzt stattdessen auf die vier gleich gewichteten Axiome Autonomie (autonomy), Nichtschaden (nonmaleficence), Wohltun (beneficence) und Gerechtigkeit (justice). Für den endgültigen Siegeszug des Autonomieprinzips steht beispielhaft Ruth Macklins Editorial im «British Medical Journal» von 2003: «Dignity as a useless concept», in dem die Bioethikerin dafür plädiert, auf den religiös aufgeladenen, partikularen und nicht operationalisierbaren Würdebegriff zugunsten des Autonomieprinzips zu verzichten. Der Würdebegriff verschwindet nicht, sondern wird anstatt einer übergeordneten, essentialistisch-fundierenden Kategorie zum Bezugspunkt und Attribut von Autonomie und dieser funktional zugeordnet. Die Würde realisiert sich im Respekt gegenüber der Selbstbestimmung der Person und nicht in einem allgemeinen, von der Person abgelösten Guten, auf das alles Handeln gerichtet ist.
1.2 Aufspaltung der Diskurse
Die wegweisende Entwicklung richtet sich einerseits gegen einen, der kontingenten Moral vorausliegenden Naturalismus bzw. Essentialismus und andererseits gegen die kirchlich-theologische Verwendung des Würdebegriffs als Chiffre für spezifische Gottes-, Menschen- und Weltbilder. Damit kommt die Konkurrenz zwischen einem relationalen und einem essentialistischen Verständnis des Guten in die ethische Welt, die seither die bioethischen Debatten als latenter Konflikt begleitet. Zu kurz greift die Unterscheidung zwischen einem Liberalismus des Rechten und einem Kommunitarismus des Guten, einerseits weil das Recht selbst eine reziproke und sanktionsbewehrte Spielart des Guten darstellt und im liberalen Rechtsstaat die moralischen Vorstellungen der Rechtsunterworfenen (Bürger:innen als Gesetzgeber:innen) zum Ausdruck bringt. Andererseits setzt der Liberalismus die individuelle Freiheit nicht an die Stelle des gemeinschaftlichen Guten, sondern als dessen Bedingung. Die moralischen Ordnungen der Gemeinschaft unterliegen einem Recht, dem alle Subjekte – unabhängig von ihrer gemeinschaftlichen Zugehörigkeit – in gleicher Weise unterworfen sind.
Die zunehmende Verrechtlichung, die der liberalen Unterscheidung zwischen öffentlicher Rechtsperson und privatem moralischem Subjekt geschuldet ist, führt zu einer Technisierung und Formalisierung ethischer Urteils- und Entscheidungsprozesse. Daraus resultiert eine Aufspaltung der Bioethik in zwei Diskurse: (1.) auf der materialethischen oder Sachebene die Frage, welche Entscheidungs- und Handlungsoptionen Personen rechtlich erlaubt und verboten werden sollen, und (2.) auf der strukturellen Ebene die Frage, ob und welche Rolle moralische Überzeugungen bei der rechtlichen Regelung von Medizin und Biotechnologien spielen dürfen bzw. sollen. Die ethische Beurteilung einer medizinischen Massnahme oder biotechnologischen Handlungsoption und die Entscheidung über deren rechtliche Legalisierung oder Pönalisierung sind zwar aufeinander bezogen, zielen aber nicht auf das Gleiche. Aus einer moralischen Ablehnung folgt nicht zwingend ein rechtliches Verbot und eine rechtliche Erlaubnis bedeutet nicht automatisch die ethische Legitimität. Die Vermischung beider Ebenen in bioethischen Diskussionen ist ein entscheidender Faktor für die Heftigkeit, mit der sie häufig geführt werden.
«Ethik reflektiert moralische Lebensweisen und ihre Legitimationserzählungen.»
Es macht einen Unterschied, ob Personen und zivilgesellschaftliche Interessenvertretungen ihre moralischen Überzeugungen und Gruppenanliegen in die Diskussion einbringen, oder Institutionen, die über eine politisch privilegierte Position und eine hierarchische Diskursmacht verfügen. Institutionen sind keine moralischen Subjekte und können nur sehr eingeschränkt und symbolisch die Rolle von Interessenvertretungen einnehmen. Das stellt insbesondere die Kirchen vor eine grosse Herausforderung, weil sie einerseits aufgrund ihrer institutionellen Macht zu grosser moralischer Zurückhaltung verpflichtet sind und andererseits in ihrer Selbst- und Aussenwahrnehmung als gesellschaftliche Moralressourcen angesehen und angesprochen werden. Die Spannung wirkt gleichermassen nach innen (in die Kirchen) und aussen (in die Gesellschaft) und lässt sich nicht auflösen, weil existenzielle und häufig tragische Urteils- und Entscheidungszusammenhänge nur um den Preis der Aufgabe der Menschlichkeit generellen Normen unterworfen werden können.
Moralische Eindeutigkeit wird durch Narrative erzeugt, die geteilt, aber grundsätzlich auch verworfen werden können (auch wenn das Loswerden von Erzählungen dem Wegschleudern eines Bumerangs gleicht, der immer wieder zurückkommt). Entscheidend ist, dass Erzählungen nur durch andere Erzählungen verändert und möglicherweise ersetzt werden können. Erzählungen sind hintergehbar, der Erzählmodus von sozialer Normierung nicht. Ethik beansprucht dagegen, auf die Identifikationsleistung von Narrativen zu verzichten und die «Moral von der Geschicht’» durch diskursive, möglichst allgemein nachvollziehbare und geteilte Begründungen zu ersetzen. Ethik reflektiert moralische Lebensweisen und ihre Legitimationserzählungen.
2. Geschlechtsidentität aus theologisch ethischer Sicht
Traditionell gehört das Thema «Geschlecht» zur Sexualethik, um die es in den letzten Jahrzehnten merklich still geworden ist. Zumindest in zeitlicher Hinsicht haben die feministischen und Gendertheorien die klassische Sexualethik abgelöst oder in eine stärke anwendungs- oder problemorientierte Richtung gelenkt. Die thematischen, theoretischen und methodischen Ausdifferenzierungen haben auch in der Theologie zur Ausbildung von Subdisziplinen geführt, die es einerseits erlauben, alternative Ansätze zu etablieren, und andererseits die etablierten Theorien über einen gewissen Zeitraum relativ stabil zu halten. Während feministische Ansätze vor allem die überkommenen gesellschaftlichen und sozialen Geschlechtsrollen (binäre Geschlechtsordnung) angreifen und die späteren Diskussionen über Gleichgeschlechtlichkeit und gleichgeschlechtliche Ehe gegen das dominante heteronormative Verständnis von sexueller Orientierung gerichtet sind, zielen die aktuelle Gendertheorien auf «den freien Umgang mit dem eigenen Körpergeschlecht». Die theoretischen Verschiebungen laufen zusammengefasst darauf hinaus, Geschlecht nicht biologisch, sondern (auch) sozial, nicht binär, sondern divers und nicht natürlich-essentialistisch, sondern kontingent und identitätstheoretisch zu verstehen und zu konzeptionalisieren.
2.1 Die Normierung von Geschlecht
Das theologisch-ethische Interesse am Geschlecht versteht sich nicht von selbst. Denn entgegen den aktuellen Debatten spielt das Thema in den für das Christentum zentralen normativen Texten des Dekalogs, der Seligpreisungen und des Doppelgebots der Liebe keine Rolle. «Das Ewig-Kurzgefasste, das Bündig-Bindende, Gottes gedrängtes Sittengesetz» schenkt dem Geschlecht keine Aufmerksamkeit. Wer aus den in der Bibel geschilderten kulturellen und sozialen Geschlechtspraktiken eine normative Autorität ableitet, begeht einen Kategorienfehler. Es handelt sich – mit Paul Tillich – um einen Fundamentalismus, der «vor dem Kontakt mit der Gegenwart [versagt], und zwar nicht deshalb, weil er der zeitlosen Wahrheit, sondern weil er der gestrigen Wahrheit verhaftet ist. Er macht etwas Zeit bedingtes und Vorübergehendes zu etwas Zeitlosem und ewig Gültigem. Er hat in dieser Hinsicht dämonische Züge. Denn er verletzt die Ehrlichkeit des Suchens nach der Wahrheit, ruft bei seinen denkenden Bekennern eine Bewusstseins- und Gewissensspaltung hervor und macht sie zu Fanatikern, weil sie dauernd Elemente der Wahrheit unterdrücken müssen, deren sie sich dunkel bewusst sind.» Die Beschreibung trifft auch auf die Debatten über Geschlechtergleichheit, Gleichgeschlechtlichkeit und Geschlechts(in)kongruenz zu. Dabei hatte der Gott des Dekalogs – aus der Sicht von Thomas Mann – mit dem universalen Charakter seiner Gebote bereits die Egalität der Angesprochenen (seiner Bundesgenoss:innen) festgestellt: «Mache überhaupt nicht einen so dummdreisten Unterschied zwischen dir und den anderen, dass du denkst, du allein bist wirklich und auf dich kommt’s an, der andere aber ist nur ein Schein. Ihr habt das Leben gemeinsam, und es ist nur ein Zufall, dass du nicht er bist.» Der Gott des Schriftstellers insistiert nicht auf ein gemeinsames Menschsein und damit die Vergleichbarkeit bezüglich ihres Status als gleiche Menschen, sondern auf das gemeinsame Leben, das im Blick auf die persönliche Lebenslage jederzeit die Fronten wechseln kann. Das Gemeinsame besteht nicht in einer tatsächlichen Gleichheit, sondern in dem gleichen Rechtsanspruch jeder Person auf Anerkennung ihrer unvergleichbaren Einzigartigkeit, die den sozialen und gesellschaftlichen Normalitätsstandards ganz, mehr, weniger oder gar nicht entsprechen kann.
Folgen biblischer Diversität von Personen für das Thema Geschlecht
Die jüngeren bibelwissenschaftlichen Korrekturen und Relativierungen der Eintragungen traditionsmoralischer Geschlechtsverständnisse in die biblischen Texte werden von weiten Teilen der theologischen Ethik adaptiert. Aber was folgt aus dem Blick auf die Diversität von Personen, die in den biblischen Überlieferungen begegnen, für das Thema Geschlecht: (1.) dass die in der christlichen Tradition entstandenen und in die Texte hineingelesen Geschlechtsnormen den biblischen Zeiten selbst fremd waren, oder (2.) dass sich die biblischen Personen – aus welchen Gründen auch immer – über damalige Normalitätsstandards hinweggesetzt haben, oder (3.) dass in den Begegnungen mit «outlaws» ein Spezifikum jüdisch-christlicher Menschenbilder zum Ausdruck kommt, oder (4.) dass die biblischen Überlieferungen mit den geltenden Normalitätsstandards übereinstimmen, indem sie davon abweichende Personen besonders oder als Ausnahmen hervorheben, oder (5.) dass die kulturellen und sozialen Stereotype weder geteilt noch bestritten, vielmehr durch das Nächstenliebeethos dispensiert oder unterlaufen werden (auch um die weltliche Normen übersteigende Barmherzigkeit noch stärker zu akzentuieren)? Allerdings werfen auch die moralkritischen und inklusiven Deutungen Rückfragen auf:
(1.) Die wissenschaftliche Dekonstruktion der Übertragung traditioneller oder eigener Moralvorstellungen auf die biblischen Texte problematisiert deren ethische Orientierungsfunktion. Aus einer durchgehend negativen Darstellung einer Personengruppe in biblischen Texten dürfe – wenn es sie gäbe – keine Zurückweisung ihres Kampfes um Anerkennung in der Gegenwart folgen. Genauso kann im umgekehrten Fall das Verhalten von Abraham und Sara gegenüber Hagar weder die Leihmutterschaft noch die Instrumentalisierung von Frauen als Ersatzmütter rechtfertigen. Aus dem Verhalten und den Einstellungen von biblischen Personen lassen sich weder positive noch negative Schlüsse für moralische Normierungen ableiten. Die bibelwissenschaftliche Dekonstruktion zielt also nicht auf die Verifikation oder Falsifikation biblischer Moralvorstellungen, sondern auf die Kritik an der Verwendung biblischer Texte als moralische Legitimationsressourcen an sich. Biblische Texte liefern weder ethische Bestätigungen noch Bestreitungen von moralischen Überzeugungen. Zwar bilden die damaligen kulturellen, politischen und sozialen Lebenswelten die Bühne der Geschichte des jüdisch-christlichen Gottes mit seinem Volk und seiner Schöpfung, aber sie sind nicht ihre Botschaft, aus der die Kirche moralische Standards für ihren Auftrag ableiten könnte.
«Liebe verwandelt nicht Normabweichung in Normkonformität, weil sie schlicht davon absieht.»
(2.) Eine analoges Missverständnis betrifft das Nächstenliebeethos, dessen Pointe darin besteht, bestimmte Aspekte der sozialen und gesellschaftlichen Wirklichkeit – um der Barmherzigkeit willen – auszublenden. Das Feindesliebegebot fordert, einem Feind nicht selbst als Feind zu begegnen, ohne damit die Rolle, Funktion oder den Status, die eine Person als Feind kennzeichnen, zu ändern oder aufzuheben. Entsprechend zielt das Nächstenliebegebot darauf, jeder Person unter Absehung ihrer rechtlichen, gesellschaftlichen und sozialen Missbilligung zu begegnen, ohne damit den problematischen oder prekären sozialen, gesellschaftlichen, politischen oder rechtlichen Status der Person zu korrigieren oder zu beseitigen. Liebe verwandelt nicht Normabweichung in Normkonformität, weil sie schlicht davon absieht. Die Stärke christlicher Nächstenliebe steckt in ihrer Begrenztheit: Sie übt Normierungsverzicht ohne damit rechtliche, gesellschaftliche und soziale Normierungen in Frage zu stellen. Sie bietet kein Instrument und keinen Massstab für die Korrektur und Beseitigung ungerechter und diskriminierender politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Nächstenliebe bildet zwar ein starkes Motiv für den Kampf für gerechtere Verhältnisse, trägt aber selbst nichts dazu bei. Deshalb verfehlen Nächstenliebe-Appelle das Ziel, gesellschaftliche und rechtliche Diskriminierung zu beseitigen.
2.2 Das Nicht-Beobachtbare beobachten
Queerness, Geschlechtsinkongruenz, Genderdysphorie und geschlechtsangleichende Massnahmen betreffen das körperliche Selbsterleben der Person. Der Körper, in und mit dem sich die Person als Selbst (ipse) erfährt und erlebt, ist auch der Körper, durch den die Person für andere wahrnehmbar wird und existiert. Es ist der Körper, dessen physiologische Geschlechtsmerkmale mit dem geschlechtlichen Selbstempfinden der Person kollidieren und der zum Gegenstand öffentlicher Kontroversen und normativer Zugriffe werden kann. Die aktuell diskutierten Fragen nach dem biologischen Geschlecht und ihrem Verhältnis zur persönlichen Geschlechtsidentität und zu sozialen Geschlechtszuschreibungen erfolgen aus der Beobachtungsperspektive und betreffen Phänomene, die nicht beobachtet werden können. In der Folge wird der Körper zum hybriden, einerseits höchst persönlichen und andererseits öffentlich verhandel- und normierbaren Objekt. Er ist Gegenstand in einem Disput, bei dem die körperliche Integrität der Person als Gegenstand eines öffentlichen Interesses thematisiert wird.
Biologische Beobachtung und soziale Zuschreibung
Die individuelle Geschlechtskongruenz und soziale Geschlechtskohärenz bei der überwiegenden Mehrheit der Personen verdecken den fundamentalen Sachverhalt: Die biologische Beobachtung und soziale Zuschreibung in der 3. Person-Perspektive (X beobachtet Y) ist für die Selbstwahrnehmung (X beobachtet X) unmöglich (niemand kann sich und den eigenen Körper ausserhalb des eigenen Körpers beobachten). Ebenso unzugänglich ist die Selbstwahrnehmung in der 1. Person-Perspektive (X nimmt sich als X wahr) für Dritte (Y nimmt sich als X wahr) (niemand kann sich wie/als eine andere Person wahrnehmen/erfahren/erleben). Der Graben zwischen der Selbst- und der Fremdwahrnehmung (zwischen der 1. Person- und 3. Person-Perspektive) konstituiert die Individualität der Person, bleibt aber in der Regel unsichtbar, weil sich die Wahrnehmungen der meisten Personen aus beiden Perspektiven (X nimmt sich als X = Y nimmt X als X wahr) decken bzw. den sozialen Konditionierungen entsprechen.
«Theologisch teilen Personen die Bezogenheit oder Abhängigkeit ihrer Leben auf den bzw. gegenüber dem, dem sie ihre Existenz verdanken. Die Gleichheit der Person besteht aus biblisch-theologischer Sicht in der fundamental gleichen Bedingung ihres In-der-Welt-Seins (Geschöpflichkeit) und nicht in irgendeiner Gleichheit ihres individuellen Daseins (dieses Geschöpf).»
Die Unmöglichkeit eines Perspektivenübergangs wird durch theoretische Einteilungen und Kategorisierungen überspielt, die eine Position behaupten, aus der beurteilt werden kann, was nicht sichtbar ist. So behaupten schöpfungstheologische Aussagen über «den Menschen» einen normativen Einheitsfokus, der die Relationalität von Geschöpflichkeit biologisch oder naturalistisch-essentialistisch deutet. Dadurch wird die naheliegende Konsequenz, dass die Person in ihrer Einzigartigkeit durch ihre Beziehung zum Schöpfer mit jeder anderen Person in ihrer Einzigartigkeit verbunden ist, verworfen zugunsten ontologischer Typisierungen, die durch die biblischen Zeugnisse nicht gedeckt sind. Theologisch teilen Personen die Bezogenheit oder Abhängigkeit ihrer Leben auf den bzw. gegenüber dem, dem sie ihre Existenz verdanken. Die Gleichheit der Person besteht aus biblisch-theologischer Sicht in der fundamental gleichen Bedingung ihres In-der-Welt-Seins (Geschöpflichkeit) und nicht in irgendeiner Gleichheit ihres individuellen Daseins (dieses Geschöpf).
Unsichtbare Identität
Gegen essentialistische Fehlschlüsse steht die fundamentale Glaubensüberzeugung, dass Gott in Christus individuelle und einzigartige Person wurde, «den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt» (Phil 2,7). Die Gleichheit des Gottessohnes wird festgemacht an seinen beobachtbaren Eigenschaften: von einer Frau geboren, seine soziale und kommunikative Lebensweise, seine Fähigkeiten zu glauben, zu Affekten, Empathie, zur Angst, zum Leiden und zur Hingabe. Die in der Bibel genannten Merkmale sind die, die eine menschliche Person für andere menschliche Personen als eine menschliche Person identifizierbar machen. Dagegen ist seine Identität als Gottessohn nicht sichtbar. Ihr entspricht nichts Äusserliches, sodass sie nur im Glauben an das Wunder der Auferstehung erkannt werden kann (Thomas hat in den Wundmalen nicht den Gottessohn gesehen, sondern die Person identifiziert, deren Kreuzigung er miterlebt hatte und die er zuvor als Gottessohn erkannt hatte; vgl. Joh 20,24–29). Genauso wenig, wie die Göttlichkeit der Person Jesus auf seine natürlichen, essenziellen oder biologischen Eigenschaften referiert, lässt sich die Geschöpflichkeit (im Sinn der in ihrer Individualität von Gott gewollten Person) jeder anderen Person daran festgemachen. Die reformierten Traditionen haben deshalb anstelle schöpfungstheologischer Bestimmungen auf die bundestheologischen Relationalität gesetzt, die nicht zuletzt durch die missverständliche Formel der Schöpfungsbewahrung in den Hintergrund gedrängt und einem paternalistischen Naturalismus angegriffen wird, der nicht vor der Person haltmacht.
2.3 Geschlecht zwischen Identität und Konvention
Kaum haben sich Kirche und Theologie von dem Streit über die gleichgeschlechtliche Ehe erholt, werden sie erneut mit dem Geschlechterthema konfrontiert. Manche Beiträge zum aktuellen Thema erscheinen wie eine Inversion der aus dem interpersonalen in den intrapersonalen Raum verlegten Debatten über die gleichgeschlechtliche Ehe. Hier wie dort steht die Definitionshoheit über das Geschlecht auf dem Spiel, wird mit Hinweisen auf wissenschaftlich festgestellte Gefährdungen des Kindeswohls ein status quo behauptet und eine essentialistische (biologischer Geschlechterdual) und funktionalistische Perspektive (Fortpflanzung) auf Geschlecht oder sexuelle Orientierung verteidigt. Gewechselt haben nur die Streitparteien von Personen mit verschiedengeschlechtlicher vs. gleichgeschlechtlicher sexueller Orientierung zu Personen mit einer kongruenten (cis) vs. inkongruenten Geschlechtsidentität (Genderdysphorie). Dass Geschlechtskongruenz und -inkongruenz grundsätzlich unabhängig von der sexuellen Orientierung bestehen bzw. auftreten, wird in den politischen Debatten häufig übersehen.
Kategorien
Geschlecht ist eine Frage der Perspektive. Ausdrücke wie «Geschlechtsmerkmale», «Geschlechtsorgane», «Geschlechtsdeterminanten», «Geschlechtsidentität», «Geschlechterdual», «biologisches und soziales Geschlecht», «geschlechtliche Selbstbestimmung», «Geschlechterordnung», «Genealogie», oder «grammatisches Geschlecht» sind unterschiedliche, sich vielfältig überlappende Kategorien, mit denen Geschlecht aus theoretischer und praktischer wissenschaftlicher Perspektive, inter- und intrapersonal lebensweltlicher Sicht wahrgenommen, beobachtet, manipuliert und mit denen über Geschlecht reflektiert, kommuniziert und geurteilt wird. Die Fortpflanzung bildet traditionell das schlagkräftigste Argument für die Zwei-Geschlechtlichkeit. Biologisch beruht der Geschlechterdual allerdings auf einer einzigen, allgemeinen und konstanten Unterscheidung auf der Keimzellebene zwischen Ei- und Samenzelle: Ein Individuum ist weiblich, wenn es ausschliesslich Eizellen, männlich, wenn es ausschliesslich Samenzellen, und hermaphroditisch, wenn es sowohl Ei- als auch Samenzellen produziert. Alle anderen geschlechtlichen Unterscheidungsmerkmale und Zuschreibungen (Chromosomen, Hormone, primäre, sekundäre und tertiäre Geschlechtsmerkmale) sind variabel und uneinheitlich.
Geschlecht sehen
Obwohl Menschen (als Objekte) entwicklungsgeschichtlich schon sehr lange gleich oder ähnlich aussehen wie heute, sehen sich menschliche Personen (als Beobachtende) stets relativ zu den Sehgewohnheiten (Menschenbildern) ihrer Zeit. Sehen ist eine hochnormative Angelegenheit, die geprägt ist durch begriffliche Vorstellungen, die die Wahrnehmung, Deutung und Kommunikation darüber steuern. Wie die Ausdrücke «Mensch, «Frau», «Mann», «Geschlecht» etc. verwendet und verstanden werden, hängt davon ab, worauf mit ihnen verwiesen wird und welche Vorstellungen und Bedeutungen damit verbunden werden. Das gilt für wissenschaftliche Weltbilder grundsätzlich genauso wie für mythische Weltzugänge. Auch wissenschaftliche Tatsachen gibt es nur in der dreistelligen Relation von Erkenntnissubjekt, Erkenntnisgegenstand und «Denkkollektiv», das den «Denkstil» (Paradigma) bestimmt (Ludwik Fleck). Neu in der Moderne ist lediglich das Nebeneinander konkurrierender (queerer) Denkstile/-kollektive, deren Geltung nicht mehr durch eine Autorität gesetzt, sondern durch ökonomische und politische Macht durchgesetzt, nivelliert oder diskriminiert wird. Gleichgeblieben ist, dass emanzipatorische Gegendenkstile/-kollektive mühsam erkämpft werden müssen.
Einzigartige Person
Theologische Beiträge unterscheiden sich darin, ob ein Thema als allgemeine gesellschaftliche (auch die Kirchen betreffende) Herausforderung oder als Anfrage an eine christliche Lebenswirklichkeit verstanden und bearbeitet wird. Die Perspektivendifferenz fokussiert darauf, ob und wie ein bioethisches Thema – etwa Geschlecht – als Merkmal von Geschöpflichkeit artikuliert und im Blick auf die christliche Freiheit zur verantwortlichen Gestaltung geschlechtlicher Identität und geschlechtlichen Lebens reflektiert wird. Kritisch-konservative kirchlich-theologische Beiträge erwecken den Anschein, die Probleme «der Anderen» zu reflektieren, die der Wirklichkeit christlicher Existenz äusserlich bleiben. Sie leisten einer Sakralisierung der Biologie Vorschub, die gegen die Perspektive des christlichen Glaubens von der einen Wirklichkeit der je einzigartigen Person als Geschöpf und Bundesgenossin Gottes gerichtet ist. Daraus resultiert eine pathologisierende Konstruktion, nach der «der Mensch» als Gottes Geschöpf und Bundespartner anerkannt wird, die Person in ihrer einzigartigen Identität aber – je nach (In-)Kompatibilität mit dem vorausgesetzten Menschenbild – zurückgewiesen werden kann. Das ist umso befremdlicher, als der christliche Glaube ausdrücklich die selbstoffenbarende Begegnung Gottes mit und in der Person ins Zentrum rückt.
3. Die Diskussion über Geschlechts(in)kongruenz
3.1 Die Dekonstruktion von Geschlecht
Die Queer-Theory geht aus von (1.) der sozialen Konstruktion von Sexualität (sex) und Geschlecht (gender) und (2.) deren konstitutive Bedeutung für die Identität der Person. Queer-Konzepte dekonstruieren Vorstellungen von Sex und Geschlecht als vorgegebene und unveränderliche biologische Eigenschaften, denen fixe soziale Zuschreibungen entsprechen. Stattdessen argumentieren sie für eine Vielfalt diverser Geschlechtsidentitäten und -identifikationen. Zurückgewiesen wird die Auffassung einer biologisch determinierten Zweigeschlechtlichkeit (Binarität), der bestimmte feststehende Eigenschaften von Weiblichkeit und Männlichkeit (Geschlechtsrollen) entsprechen. Die doppelte Dekonstruktion problematisiert die gesellschaftlich etablierten normativen Dispositive, indem sie die Frage nach den Subjekten aufwirft, die über die Definitionsmacht verfügen. Die Frage «Wer spricht?» ist gegen eine universalistische «People like us»-Perspektive («der» Mensch) gerichtet: Die egalitaristisch motivierte Ausblendung von Differenz und Diversität führt zu einem Exklusivismus dominierender Gemeinsamkeitsmerkmale.
Queer
«Queer» steht weniger für eine Identität als für eine Positionierung: «Queer ist per Definition alles, was im Widerspruch zum Normalen, zum Legitimierten, zum Dominanten steht. Es gibt nichts Bestimmtes, worauf es sich zwangsläufig bezieht. Es ist eine Identität ohne Essenz.» Die zentralen Anliegen von Queer sind nach Chris Greenough: 1. «Queer widersetzt sich der Idee von Kategorisierungen»; 2. «stellt den Essentialismus infrage»; 3. «hinterfragt das Konzept des ‹Normalen›»; 4. «löst binäres Denken und Annahmen auf»; und 5. «entlarvt Machtverhältnisse oder Hierarchien und unterläuft sie». Kennzeichnend ist die konstitutive Verbindung von Theorie und Praxis, die theoretische Überlegungen und konkrete Lebenswirklichkeiten in ein dynamisches nichthierarchisches Verhältnis rücken.
3.2 Geschlechtsinkongruenz
Geschlechtsinkongruenz bezeichnet die Diskrepanz zwischen dem Selbsterleben des eigenen Geschlechts und dem aufgrund der äusseren Merkmale bei der Geburt eingetragenen Geschlecht. Die 11. Revision der «International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems» (ICD-11) definiert Geschlechtsinkongruenz als einen «Gesundheitszustand […], der einer ausgeprägten und anhaltenden Inkongruenz zwischen dem erlebten Geschlecht einer Person und dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht entspricht». Das Geburtsgeschlecht wird anhand der äusseren biologischen Merkmale von Dritten definiert und typischerweise durch die soziale und gesellschaftliche Adressierung bestätigt: Männliche Personen werden als Jungen oder Männer, weibliche Personen als Mädchen oder Frauen angesprochen. Die Geschlechtsidentität ergibt sich dagegen aus der Selbstwahrnehmung und dem Selbsterleben der Person. Geschlechtsidentität darf nicht mit sexueller Orientierung gleichgesetzt oder verwechselt werden, weil beide grundsätzlich unabhängig voneinander bestehen.
Geschlechtsdissonanz
Bei der überwiegenden Mehrzahl der Personen stimmen das Selbsterleben, die soziale Wahrnehmung und das Geburtsgeschlecht überein (cisgender), sodass die Frage nach der Geschlechtsidentität gar nicht aufkommt. Zur ernsthaften Herausforderung, häufig verbunden mit einem erheblichen Leidensdruck, wird die Frage für Personen, bei denen eine solche Übereinstimmung nicht besteht: Sie leiden nicht nur darunter, im falschen Geschlechtskörper geboren zu sein und von der Umwelt auf die diesem korrespondierenden Geschlechtsrollen festgelegt zu werden, sondern auch darunter, dass ihre Geschlechtsdissonanz von der Mehrheitsgesellschaft nicht verstanden, ignoriert oder zurückgewiesen wird und dass ihrem Erleben (im Gegensatz zu Formen der Intergeschlechtlichkeit) keine einfachen biologisch und medizinisch beobachtbaren und nachweisbaren «Tatsachen» entsprechen. Geschlechtsinkongruenz lässt sich nicht objektiv feststellen, weil sie auf subjektiven Empfindungen und persönlichem Erleben der eigenen Geschlechtsidentität beruhen.
Geschlechtsinkongruenz
Geschlechtsinkongruenz ist keine Krankheit, aber kann einerseits mit gesundheitsbeeinträchtigenden Wirkungen und Folgen und andererseits mit dem Wunsch geschlechtsangleichender Massnahmen verbunden sein. Ihre Ursachen und die Häufigkeit des Auftretens in der Bevölkerung sind bisher wenig untersucht. Gemäss einer repräsentativen Befragung der Schweizer Bevölkerung aus dem Jahr 2021 gaben 5% der befragten Personen an, sich eher zum anderen Geschlecht gehörig zu fühlen und 0.4 % der befragten Personen betrachten sich als nonbinär. In internationalen Studien variieren die Zahlen zwischen 0.5% und 2%. Von diesen Personen nimmt wiederum nur ein kleinerer, aber in jüngster Zeit zunehmender Teil medizinische Behandlungen zur Geschlechtsangleichung (gender affirming care) in Anspruch. Medizinische Eingriffe bei jugendlichen und erwachsenen Personen finden auf drei Ebenen statt: (1.) Unterbrechung der pubertären Entwicklung mit Hilfe von Pubertätsblockern (GnRH-Analoga), die durch Absenkung des Testosteron- und Östrogen-Spiegels im Blut die körpereigene Produktion von Geschlechtshormonen verhindern, die durch die Absetzung der Medikamente aufgehoben wird; (2.) geschlechtsangleichende Hormontherapien (GAHT) zur Senkung der endogenen und Erhöhung der der Geschlechtsidentität entsprechenden Geschlechtshormone, um die Symptome der Geschlechtsinkongruenz zu reduzieren, deren Folgen teilweise irreversibel sind, und (3.) geschlechtsanpassende chirurgische Eingriffe, etwa die Formung der primären Geschlechtsorgane (Vagino- und Phalloplastik), Entfernung der Gebärmutter(Hysterektomie), Hoden (Orchiektomie) und Brüste (Mastektomie) und andere, die äusserlichen Merkmale betreffenden Anpassungen, die irreversibel sind und häufig eine bleibende Unfruchtbarkeit zur Folge haben.
Umstrittene medizinische Behandlung
Eine besondere Herausforderung besteht darin, dass die geschlechtliche Entwicklung wesentlich in der Pubertät stattfindet, eine Lebensphase, in der Jugendliche noch nicht über volle Entscheidungsvollmachten verfügen und ihre Urteilsfähigkeit häufig noch eingeschränkt ist. Aus medizinischer Sicht sind deshalb besondere Sorgfalt und eine generelle Zurückhaltung gegenüber irreversiblen Massnahmen geboten. Medizinische Behandlungen von Genderdysphorie erfolgen auf der Grundlage internationaler interdisziplinärer Guidelines, die das Kindeswohl ins Zentrum rücken und anstelle generalisierter Verfahren eine gewissenhafte Diagnose, Begleitung und Behandlung im Einzelfall einfordern. Gleichwohl ist aktuell kein anderer Medizinbereich derart umstritten und politischen und zivilgesellschaftlichen Verdächtigungen ausgesetzt.
«Nirgendwo sonst greifen moralische Weltbilder und hegemoniale Politik so unmittelbar in die Medizin ein.»
Nirgendwo sonst greifen moralische Weltbilder und hegemoniale Politik so unmittelbar in die Medizin ein. Der Skandal um die britische Travistock-Klinik, die jugendliche Patient:innen mit einer Genderdysphorie offenbar ohne sorgfältige Abklärungen, umfassende Information und Beratung (informed consent) sowie intensive psychologische Begleitung mit Hormontherapien behandelten, schlug international Wellen. Der Abschlussbericht der staatlich eingesetzten Untersuchungskommission (Cass-Review) führte zu einem zwischenzeitlichen Verbot der geschlechtshormonellen Behandlung von betroffenen Jugendlichen, das inzwischen wieder aufgehoben wurde. Darüber hinaus ist der «Cass-Review» aktuell selbst Gegenstand einer Untersuchung der «British Medical Association». Ein ähnlich kontroverses Bild zeigt das Verfahren um die Zulassung der deutschen Behandlungsrichtlinie der «Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften» (AWMF) «Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter», die bereits in der Konsultationsphase heftig kritisiert wurde. Die polarisierte und politisierte Diskussion führt dazu, dass sich die medizinischen Fachpersonen sowohl aus dem Diskurs als auch aus der Behandlungspraxis zunehmend zurückziehen.
4. Eine theologisch-ethische Debatte
Das Thema Queer, Transsexualität und Gender hat in der evangelischen Zeitschrift «zeitzeichen» eine intensivere Diskussion ausgelöst. Aufschlussreich ist der kritische Beitrag der Praktischen Theologin und ehemaligen Heidelberger Student:innenpfarrerin und Genderbeauftragten der EKD, Janine Nierop, weil darin stereotype und verbreitete kirchlich-theologische Abwehrreflexe auf neue bioethische Themen begegnen. Der Text steht auch für eine inzwischen verbreitete Perspektive, die bei negativen persönlichen Erfahrungen mit der Queer-Community ansetzt.
4.1 Theologische Genderkritik
Aus einer persönlichen Konfliktsituation und einer intensiven thematischen Auseinandersetzung gelangt die Autorin zum Urteil, dass die Gendertheorie «in grundlegenden Punkten keine wissenschaftliche Grundlage» habe. Es gäbe keine Geschlechtsidentität jenseits der «biologische[n] Gegebenheit» und das Konzept der Non-Binarität sei «eher rückschrittlich», weil es die «Stereotypen von Männlichkeit und Weiblichkeit noch einmal bestätigt». Die als Beleg für die Thesen angeführte Literatur ist einseitig, nicht repräsentativ für die differenzierte Diskussionlage und wird verkürzend oder falsch dargestellt. Nierop kritisiert eine kirchliche Wokeness aus einem Schuldgefühl gegenüber der Diskriminierungsgeschichte von Personen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung, die selbst zu den Queer-Kritiker:innen gehörten. Ein «hoher Prozentsatz der transidentifizierten Kinder [sei] tatsächlich homosexuell», ausserdem träten «Geschlechtsdysphorie und eine Autismus-Spektrums-Störung […] nicht selten gemeinsam auf». Nierop warnt vor den «Gefahren für Kinder […], wenn sie mit dem Gedanken aufwachen, dass sie ihr Geschlecht ändern können», den sozialen Risiken und den gesundheitlichen Folgen von Pubertätsblockern und Hormontherapien. Ihre Kritik mündet in die Empfehlung:
«Meines Erachtens sollte die Kirche der Transbewegung gegenüber viel kritischer sein – und dies gerade aus seelsorgerlicher Sicht. Es hilft niemandem, Menschen auf einen Weg zu schicken, von dem wissenschaftlich nicht erwiesen ist, dass er sie glücklicher macht, im Gegenteil. […] Gerade die Kirche könnte hier Eigenes einbringen, das den Menschen hilft: Du bist als Mann oder Frau geschaffen, aber das sagt nichts über deine Persönlichkeit aus. Wir müssen wieder lernen, dass manche Dinge einfach so sind, wie sie sind.»
Janine Nierop
4.2 Gender, Identität und Persönlichkeitsrechte
Nierop bemängelt die durch zweifelhafte Initiativen wie die «Yogyakarta-Principles» vorangetriebene Überhöhung der Geschlechtsidentität als Quasi-Menschenrecht. Das entspricht nicht dem Text der Principles. In der Präambel wird «geschlechtliche Identität» definiert als «das tief empfundene innere und persönliche Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht (gender), das mit dem Geschlecht (sex), das de[m] betroffene[n] Mensch[en] bei seiner Geburt zugewiesen wurde, übereinstimmt oder nicht übereinstimmt; dies schliesst die Wahrnehmung des eigenen Körpers […] sowie andere Ausdrucksformen des Geschlechts (gender)» mit ein. Die Prinzipien bestätigen die klare Tendenz in den Völkerrechtsdiskursen seit Mitte der 1990er Jahre, «bei der Auslegung des allgemeinen [menschenrechtlichen] Diskriminierungsverbots die Merkmale sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität ausdrücklich mit zu berücksichtigen», eine Entwicklung die die schweizerische Gesetzgebung mit der Aufnahme der sexuellen Orientierung in Art. 261bis StGB nachvollzogen hat. Daraus folgt:
(1.) Geschlechtsidentität gibt es nicht unabhängig vom bzw. ohne Körper. (2.) Geschlechtsidentität ist nicht «im Menschen angelegt», sondern entsteht und verändert sich im leiblichen Selbsterleben und in den sozialen Interaktionen der Person. (3.) Das Geschlecht ist ein vorgegebener biologischer Aspekt der Person, der weder ihren Personenstatus begründet noch ihre Personalität ausmacht oder determiniert. (4.) Alle nötigen «Anhaltspunkte» für Geschlechtsidentität stecken in der Leiblichkeit der Person, die ihren Körper in der nur ihr zugänglichen Weise als ihren Körper erlebt. (5.) Die Menschenrechte und die Yogyakarta-Principles schützen keine als allgemein anerkannten menschlichen Aspekte oder Merkmale (über deren Anerkennungswürdigkeit gestritten werden könnte), sondern die Person als Person in ihrer körperlich-geistig-seelisch-sozialen (leiblichen) Einheit. Zielten die Menschenrechte nicht auf die Person selbst, sondern lediglich auf relevante Aspekte ihres Menschseins, könnte beispielsweise bei einer Person ohne Schmerzempfinden darüber diskutiert werden, ob ihre Folterung als eine Menschenrechtsverletzung eingestuft werden kann.
4.3 Geschlechtsangleichende medizinische Massnahmen
Kinder und Jugendliche, die unter einer Geschlechtsinkongruenz leiden, stellen die Medizin vor schwierige und anspruchsvolle Herausforderungen. Ein Blick in die internationalen Fachdiskussionen zeigt eine grosse Heterogenität und Unsicherheit, auch in Folge der von Nierop erwähnten fahrlässigen medizinischen Praktiken. Aber selbst die – von ihr ausschliesslich genannten – kritischen Publikationen argumentieren nicht für ein Verbot. «The Cass Review» verweist auf eine ungenügende oder fehlende Evidenz im Blick auf Behandlungsbedürftigkeit und (langfristigen) Behandlungserfolg bei Kindern und Jugendlichen. Die mangelhafte Datenlage wirke sich negativ auf die Qualität der Studien aus. Darüber hinaus gäbe es keine verlässliche medizinische Entscheidungsgrundlage dafür, welche Kinder und Jugendlichen eine dauerhafte Transidentität entwickeln werden. Das Dokument empfiehlt eine Zurückhaltung bei medizinischen Eingriffen, die psychologische Begleitung bei medizinischen Behandlungen und ein sorgfältiges Monitoring, angemessene Kontrollen und klare Regulierungen. Das von Nierop erwähnte kritische Gutachten zu der noch nicht veröffentlichten deutschen Behandlungsrichtlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) «Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter», bemängelt mit Hinweis auf den «Cass-Review», «dass der aktuelle Entwurf der Leitlinie zu einem mitunter regelhaften Einsatz von Massnahmen in der klinischen Praxis führen könnte, die erhebliche, dauerhafte oder gar irreversible negative Folgen haben, obwohl ihre Wirksamkeit und Nachhaltigkeit noch nicht ausreichend wissenschaftlich belegt sind» und «dass diese Massnahmen trotzdem mit einem hohen Empfehlungsgrad versehen werden, obwohl die wissenschaftliche Evidenz dafür nicht ausreicht».
Kirchlich-theologische Diskursverweigerung
Die gegenwärtige Forschungslage lässt folgende Aussagen zu: (1.) Die Ursachen und die Genese von Geschlechtsinkongruenz bei Kindern und Jugendlichen ist unbekannt. Auszugehen ist von einem komplexen Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren, deren Gewichtungen individuell völlig unterschiedlich ausfallen. Unbestritten ist der erhebliche Leidensdruck der betroffenen Kinder und Jugendlichen, im Blick auf ihre körperliche und psychische Gesundheit und Entwicklung, ihre Selbstbilder und Selbstverständnisse sowie ihre familiären, sozialen und gesellschaftlichen Kontexte. (2.) Wissenschaftliche Zugänge schaffen die Ambivalenzen und Ambiguitäten des Lebens nicht ab und schaffen keine Eindeutigkeit. Sie können zu einem besseren Verständnis von Problemen und zu ihrer punktuellen Entschärfung oder Lösung beitragen.
Deshalb ist der Vorwurf von Nierop, die Medizin würde «Menschen auf einen Weg zu schicken» ebenso falsch (denn den müssen Patient:innen, weil es um sie geht, grundsätzlich selbst antreten), wie die Unterstellung, der Medizin ginge es um einen therapeutischen Weg, «von dem wissenschaftlich […] erwiesen ist, dass er [die Menschen] glücklicher macht». Glück ist eine stets riskante Lebensmöglichkeit und kein evidenzbasiertes Wissenschaftsprogramm. Und die Mahnung Nierops, dass die Kirche die sich abzeichnende wissenschaftliche Trendwende (welche Wende von welchem Trend?) nicht verschlafen und «den einmal eingeschlagenen Weg [einer vorsichtigen Öffnung] nicht weitergehen» dürfe, trägt nichts zur begründeten ethischen Urteilsfindung bei und plädiert stattdessen für eine kirchlich-theologische Diskursverweigerung.
4.4 Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung
Unterschiedliche Konfliktsituationen
Sex und Geschlecht sind nicht nur wissenschaftliche Termini und Ausdrücke intimer Kommunikation, sondern auch soziale und politische Begriffe, die unterschiedliche Diskurse konstituieren, für die gilt: (1.) Die sexuelle Orientierung betrifft die sexuellen Ausdrucksformen personaler Identität, die grundsätzlich nicht von der Kongruenz oder Inkongruenz personaler Geschlechtsidentität abhängen. (2.) Die Frage der Geschlechtsidentität stellt sich umgekehrt grundsätzlich unabhängig von der sexuellen Orientierung und Aktivität (Performance). Seit einiger Zeit tobt eine heftige politische Auseinandersetzung um das Verhältnis von Gender und sexuelle Orientierung. Die Kontroverse dreht sich im Kern um die Deutungshoheit vor dem Hintergrund der drei Etappen der gesellschaftlichen Geschlechterdiskussion (sex + gender): (1.) der feministische Geschlechterkampf gegen Patriarchat und Zwangsheterosexualität, (2.) der schwul-lesbische Anerkennungskampf für selbstbestimmte sexuelle Präferenzwahl und (3.) der queere Ermächtigungskampf für den freien Umgang mit dem eigenen Körpergeschlecht wird. Die drei Bewegungen stimmen in ihrer antidiskriminierenden Stossrichtung überein, spiegeln aber unterschiedliche rechtlich-politische, soziale und kulturelle Konfliktkonstellationen wider.
Feministische Kritik und gendertheoretische Perspektive
Die feministische Kritik beharrt darauf, dass «die lebensgeschichtliche Wucht der trennenden, der vorausgegangenen Erfahrung» von Frauen in einer patriarchalen, binären Geschlechterordnung auf die Situation von queeren und Personen mit gleichgeschlechtlicher sexueller Orientierung nicht zuträfe. Denn das Wort «Frau» benenne «ähnlich wie die Worte ‹Unterschicht›, ‹lesbisch› oder ‹coloured›, eine Sozialisationsgeschichte mit[…], die sich signifikant von der eines Mannes wie auch der einer Transfrau unterscheidet». Gemäss dem Selbstverständnis der genannten Personengruppen passt die «Transfrau» nicht in das Schema, weil sie – im Gegensatz zum «Mann» – in der dualistischen Unterdrückungs-Befreiungsgeschichte der «Frau» nicht vorkommt. Daraus folgt wiederum nicht – wie Nierop behauptet –, dass in «dem Moment, in dem ein Mann einfach sagen kann, dass er eine Frau ist – weil er sich ‹so fühlt› –, […] die Rechte der Frauen bedeutungslos» werden. Denn damit würde einerseits der von der gleichen Gruppe bekämpfte Geschlechtsessentialismus rehabilitiert, weil die Transfrau auf den festgelegt wird, als der sie bei ihrer Geburt kategorisiert wurde. Andererseits würde unterschlagen, dass eine Transfrau weder ein Mann noch eine Frau ist, sondern eben eine Transfrau, die sich nicht in dem Geschlechterdual unterbringen lässt. Die Essentialismuskritik richtet sich zugleich gegen einen fragwürdigen Effekt im Umgang mit Geschlechtsinkongruenz. Petra Gehring kritisiert: «Sex überschreibt Gender!» und «Body-Shaping oder auch Enhancement ‹topt› Performanz und verkehrt (sicher ungewollt) das Befreiende des ‹relationalen› Konzeptes der Geschlechterdifferenz in eine Selbstanpassung an den[…] nicht nur binären und fixsternhaften, sondern vor allem von Herrschaftsmustern geprägten ‹Sex›».
Weiter führt eine gendertheoretische Perspektive, die Queer nicht als Umordnung von cis-normativen Körperkonstellationen begreift, sondern als diese destabilisierende Unordnung. Es geht dann nicht um eine alternative Festschreibung, sondern um eine Geschlechtsgeschichte. Narrativität bedeutet hier eine Dynamisierung von Geschlechtspropositionen aus der Perspektive dynamischer und transformativer Lebensformen.
4.5 Zur Grammatik theologischer Fragen
«Welche Anhaltspunkte gibt es für eine in jedem Menschen angelegte Geschlechtsidentität, die unabhängig vom Körper das Geschlecht bestimmen soll? Sind die Geschlechter Mann und Frau nicht eine biologische Gegebenheit?» Ob die Fragen vertraut oder befremdlich klingen, hängt von der Grammatik der verwendeten Begriffe ab. Was ist mit der «in jedem Menschen angelegte[n] Geschlechtsidentität […] unabhängig vom Körper» gemeint, was ist eine «biologische Gegebenheit», was heisst «das Geschlecht bestimmen» und warum sind welche «Anhaltspunkte» nötig? Grammatisch kann in diesem Fall zwischen rhetorischen und echten Fragen unterschieden werden. Rhetorisch sind die Fragen vor dem Hintergrund traditioneller kirchlich-theologischer Positionen, bei denen fraglos gilt, was in den Fragen zur Disposition gestellt wird. Wenn biologisches Geschlecht und Geschlechtsidentität als objektive Manifestationen eines Schöpferwillens in den Geschöpfen aufgefasst werden, können die aufgeworfenen Fragen nicht mehr sinnvoll diskutiert werden, weil die darin verwendeten Begriffe keine Bedeutung haben. Aus dieser Perspektive gibt es weder eine Geschlechtsidentität noch eine Geschlechtskongruenz oder -inkongruenz, sondern nur das von Gott zugewiesene Geschlecht, wobei dessen Wahlmöglichkeiten traditionell theologisch auf eine Alternative beschränkt werden. Aus Nierops Fragen werden echte erst dann, wenn anstelle einer deterministisch gedachten Schöpfung, Natur oder Biologie eine Frageperspektive eingenommen wird, aus der mit dem Gefragten auf Möglichkeiten der Wirklichkeit Bezug genommen wird und die verwendeten Begriffe bedeutungsvoll werden.
Bedingungen und Voraussetzungen von Fragen
Wesentlicher als die Antworten auf die Fragen, werden damit die Bedingungen und Voraussetzungen, unter denen gefragt wird. Einer Person, der eine Frage fremd ist, weil sie sich für sie selbst nicht stellt, steht an einem anderen Ort als eine Person, der sich die Frage aufdrängt. Wie fremd sich diese Orte sind, hängt davon ab, ob sich beide über die Fraglichkeit der Situation für die eine Person und über die Fraglosigkeit der Situation für die andere Person verständigen können. Unabhängig davon, ob ihnen das gelingt oder nicht, geht es bei der Verständigung nicht darum, ob es den Sachverhalt oder Gegenstand der Frage gibt oder nicht (denn das steht längst fest: der Sachverhalt besteht für die eine Person und nicht für die andere Person), sondern darum, was die Frage mit der Person macht, die das Erleben hat, und mit der Person, die das Erleben nicht hat. Ob das Erleben auf etwas bezogen ist, das es in einem moralischen Sinn geben oder nicht geben soll, ist eine sinnlose Frage. Eine Person, die weder Geschlechtskongruenz noch Geschlechtsinkongruenz erlebt, kann nichts darüber sagen, weil sie keine entsprechenden Erlebnisse hat. Und eine Person, die das eine oder andere erlebt, kann darüber nur in Form ihres eigenen Erlebens sprechen und nicht in genereller Form.
«Eine Person, die weder Geschlechtskongruenz noch Geschlechtsinkongruenz erlebt, kann nichts darüber sagen, weil sie keine entsprechenden Erlebnisse hat. Und eine Person, die das eine oder andere erlebt, kann darüber nur in Form ihres eigenen Erlebens sprechen und nicht in genereller Form.»
Es gibt viele Gegenstände im Denken und in der Sprache, die konstitutiv an das persönliche Erleben gebunden sind, und bei denen die Bedeutung der verwendeten Begriffe davon abhängen, ob und wie sie auf ein Erleben referieren. Die Gegenstände sind nicht mehr die Gleichen oder verschwinden, sobald versucht wird, sie aus einer objektiven, beschreibenden oder normativen Perspektive zu thematisieren. Überspielt wird die Ambiguität einerseits durch die Imprägnierung des Denkens und Sprechens mit tief in der europäischen Kultur verankerten essentialistischen und naturalistischen Denkstilen und ihren Ordnungen. Sie suggerieren die Möglichkeit, ein subjektives Erleben substanzialisieren, vom erlebenden Subjekt abkoppeln und als objektiven Gegenstand betrachten und beurteilen zu können. Andererseits wird Objektivität hergestellt durch ihre Kopplung an empirisch beobachtbare Gegenstände oder Sachverhalte, wie das naturwissenschaftlich definierte Geschlecht, die Prozesse biologischer Reproduktion oder statistisch erfassbare Verhaltensweisen, die darin übereinstimmen, dass ihre Gegenstände, Behauptungen und Erkenntnisse ausschliesslich das von einer Person äusserlich Zugängliche betreffen. Darauf zielen auch die Fragen Nierops und sind deshalb unerheblich und irreführend im Blick darauf, worum es geht: das Erleben von Personen.
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