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Wenn Natur zur Katastrophe wird

Wenn Natur zur Katastrophe wird, stellt sich eine uralte Frage neu: Warum? Warum sie – warum dort – warum überhaupt? Wer an Sinn glaubt, wird mit dem Leid konfrontiert, das sich nicht erklären lässt. Der Glaube gerät in Spannung – mit der Welt, mit sich selbst, mit Gott. Die Theodizeefrage ist nicht gelöst. Aber vielleicht kann man lernen, mit ihr zu leben: ohne Zynismus, ohne Selbstanklage – mit Demut, Pragmatismus und einem Glauben, der nicht alles muss, aber vieles kann. 

Am 28. Mai 2025 ging oberhalb von Blatten, einem kleinen Dorf im Walliser Lötschental, ein gewaltiger Berg nieder. Rund neun Millionen Tonnen Gestein lösten sich vom Kleinen Nesthorn, stürzten auf den Birchgletscher und lösten eine Schutt- und Eislawine aus, die grosse Teile des Tals unter sich begrub. Dank moderner Überwachung und rechtzeitiger Warnung konnten fast alle Menschen evakuiert werden – fast alle. Ein Mensch gilt als vermisst. Zurück bleibt ein zerstörter Ort und eine vertraute Unsicherheit.

Warum passiert das – und warum hier?

Noch während sich das Bild der verschütteten Häuser und der gespaltenen Hänge über die Nachrichten verbreitete, tauchte eine alte Frage wieder auf: Warum? Nicht im geologischen Sinn – der ist relativ klar: schmelzender Permafrost, instabile Gletscher, Klimawandel. Sondern im existenziellen. Warum passiert das – und warum hier? Warum ihnen? Warum trifft es manche – und andere nicht? Und: Wenn es einen Gott gibt, warum lässt er das zu?

Warum Gott?

Die Theodizeefrage – die Frage nach Gottes Gerechtigkeit angesichts des Übels in der Welt – ist kein Reflex, der sich automatisch einstellt. Sie stellt sich nur, wenn man mehr erwartet als blinden Zufall. Wenn man davon ausgeht, dass das Leben Bedeutung hat, dass die Welt nicht einfach ist, sondern Sinn trägt. Wer so denkt oder glaubt, gerät unweigerlich in Spannung mit den Ereignissen. Und je stärker die Erschütterung, desto schärfer die Frage: Wie kann man an einen Gott glauben, der allmächtig und gut ist – und gleichzeitig so etwas geschehen lässt?

Menschen haben dies am zweiten Weihnachtstag 2004, als ein Tsunami über die Küsten Südostasiens hinwegfegte, gefragt. Über 230.000 Menschen starben, viele von ihnen mitten im Alltag, im Urlaub, im Gebet. Oder als 2020 ein Virus die Welt in den Stillstand zwang, Krankenhäuser überforderte und soziale Ungleichheiten schonungslos freilegte. Sie fragen es, wenn sie oder nahe Angehörige eine schreckliche Diagnose erhalten.

Ob Naturkatastrophe, Pandemie oder Krankheit – oft kehren alte Muster zurück: Schuld wird verteilt, manchmal auf „die Menschheit“, manchmal auf Einzelne. Und es bleibt die Verunsicherung: Sind solche Ereignisse Zeichen? Strafen? Folgen? Oder einfach – geschehen? In diesen Situationen ist die Theodizeefrage nicht einfach ein Thema für das theologische Proseminar. Sie betrifft das Zentrum des Glaubens an einen Gott, der sich verantwortlich zeigt für diese Welt.

Gericht oder Katastrophe? Religiöse Deutungen im Wandel 

Katastrophen waren über Jahrhunderte nicht nur physische Erschütterungen, sondern theologische Ereignisse. Wenn die Erde bebte, sah man darin selten nur tektonische Bewegungen. Sie galten als Reaktion auf menschliches Verhalten – als Zeichen, als Gericht, als Mahnung. Die biblischen Überlieferungen liefern die Matrix: die Sintflut als Antwort auf menschliche Verderbtheit, das Feuer über Sodom, die Plagen in Ägypten. Gott handelt – und meint es ernst.

Auch in der europäischen Geschichte wurde das Desaster selten als blosser Zufall verstanden. Als 1348 die Pest grosse Teile der Bevölkerung Europas dahinraffte, suchte man nicht nur medizinische oder hygienische Erklärungen. Es war eine Strafe – so lautete die dominante Lesart –, eine göttliche Reaktion auf mangelnde Frömmigkeit, auf moralischen Verfall, auf das Versagen ganzer Städte und Herrscherhäuser. Deutungen, die Trost versprachen, weil sie Ordnung boten. Denn wer weiss, warum etwas geschieht, kann es einordnen – und sich vielleicht bessern.

Im Jahr 1755 wurde diese Ordnung grundlegend in Frage gestellt.

Am Morgen des 1. November, dem Feiertag Allerheiligen, bebte in Lissabon die Erde. Die Erdstösse zerstörten weite Teile der Stadt, ein anschliessender Tsunami spülte Tausende ins Meer, und in den Trümmern brachen Feuer aus, die tagelang wüteten. Zwischen 30.000 und 100.000 Menschen kamen ums Leben. Kirchen stürzten ein – gerade während der Messe –, während in manchen Bordellen und auf offener Strasse Menschen überlebten. Die Katastrophe war nicht nur gewaltig, sie war auch theologisch unhandlich.

Eine ideengeschichtliche Zäsur 

Die traditionellen Deutungsmuster griffen nicht mehr. Der französische Philosoph Voltaire reagierte empört: In seinem Gedicht Poème sur le désastre de Lisbonne und später in Candide spottete er über die Vorstellung, dass dies alles „zum Besten“ geschehe. Die These vom strafenden Gott erschien ihm zynisch, gerade weil sie das Leiden legitimierte. Und auch Immanuel Kant, noch in jungen Jahren, widmete dem Erdbeben mehrere Texte – nicht als Theologe, sondern als Naturbeobachter, der die Ursache des Bebens in tektonischen Vorgängen suchte. Er wollte verstehen – nicht deuten. 

Die Deutungshoheit der Religion geriet ins Wanken.

Das Erdbeben von Lissabon markiert eine Zäsur: Die Deutungshoheit der Religion geriet ins Wanken. Die Aufklärung, so könnte man sagen, wurde in den Trümmern von Lissabon mitbeerdigt – und gleichzeitig geboren. Zum ersten Mal wurde öffentlich, laut und wirkmächtig gefragt, ob man die Katastrophe vielleicht nicht mehr als göttliches Signal lesen sollte. Ob das Böse in der Welt nicht einfach ist – und nicht immer erklärbar. 

Dennoch: Die Vorstellung vom Gericht lebt fort. In Teilen der religiösen Welt wird sie bis heute gepflegt. Als 2004 der Tsunami Südostasien traf, deuteten manche ihn als Strafe für „sittenlosen Lebensstil“ in Tourismusregionen. Und auch während der COVID-19-Pandemie fanden sich Stimmen, die das Virus als Antwort Gottes auf menschliches Fehlverhalten verstanden – auf Abkehr, Hybris, Sünde. Solche Deutungen schaffen Ordnung. Sie benennen Ursachen, ordnen Schuld zu, geben der Katastrophe einen Platz im Sinngefüge. Sie entlasten die Welt von der Zumutung des Zufalls – und den Glauben von der Leerstelle des Schweigens. 

Moderne Tribunale

Nicht nur metaphysische Erklärungen und moralisch gezeichnete Gottesbilder haben überlebt. Auch die Kulpabilisierung des Menschen ist geblieben – wenn auch oft in säkularisierter Form. Was früher als Strafe Gottes gedeutet wurde, erscheint heute als logische Konsequenz menschlichen Handelns. Die Sprache hat sich verändert, das Muster nicht.

Der Mensch hat es verursacht – und muss nun die Folgen tragen.

Klimakatastrophen gelten als Ergebnis jahrzehntelanger Emissionen, Pandemieausbrüche werden mit globaler Mobilität, Massentierhaltung oder ökologischer Missachtung verknüpft. Auch hier: Der Mensch hat es verursacht – und muss nun die Folgen tragen. Es ist eine Kausalität, die sich rational gibt, wissenschaftlich fundiert ist und dennoch eine vertraute Struktur aufweist: Es geschieht etwas Schlimmes – jemand ist schuld.

Diese Schuld ist nicht mehr offen ausgesprochen wie in früheren religiösen Deutungen, sie wirkt eher unterschwellig – als moralischer Imperativ, als kollektives Unbehagen, das sich in Formeln wie „die Menschheit hat versagt“ oder „wir zahlen jetzt den Preis“ niederschlägt. Der Mensch ist verantwortlich – und damit auch erklärbar.

Wer Schuld trägt, muss auch Busse tun – oder wenigstens zahlen.

Die Struktur ist vertraut: Etwas Unerklärliches wird auf das Handeln des Menschen zurückgeführt. Es ist ein Deutungsmuster, das Erleichterung verschafft, weil es Ordnung verspricht. Und es ist eines, das nicht nur beschreibt, sondern verpflichtet: Wer Schuld trägt, muss auch Busse tun – oder wenigstens zahlen.

Doch damit stellen sich neue Fragen: Was bedeutet Verantwortung in einer Welt, in der nicht alles kontrollierbar ist? Wo endet Verantwortung – und wo beginnt Überforderung? Und: Gibt es eine Alternative zur Schuld – eine Haltung, die ernst macht mit der Krise, ohne sich in Selbstanklage zu verlieren?

Zwischen Ohnmacht und Verantwortlichkeit 

Die Deutung von Katastrophen als Folge menschlichen Fehlverhaltens verleiht zunächst Orientierung. Wer verantwortlich ist, kann auch etwas ändern. Doch die Grenze zur Schuld ist schmal. Wer die Welt immer aus sich selbst heraus erklären will, landet schnell bei einem unbarmherzigen Menschenbild: Wir sind schuld – am Klimawandel, an der Pandemie, an der Zerstörung der Natur. Es ist ein Denken, das moralisch motiviert ist, aber leicht in Selbstanklage kippt – oder in Anklage gegen andere.

Es lohnt sich, den Unterschied zwischen Verantwortung und Schuld genau zu betrachten. Verantwortung anerkennt Handlungsspielräume. Sie ist zukunftsgerichtet, offen für neue Wege. Schuld dagegen verweist auf das Vergangene, auf das, was nicht mehr rückgängig zu machen ist. Sie kann lähmen, insbesondere wenn sie diffus bleibt oder kollektivisiert wird: „die Menschheit“, „wir alle“, „der Westen“. In der religiösen Sprache galt die Schuld einst Gott gegenüber. Heute richtet sie sich oft gegen uns selbst – mit ähnlich unerbittlichem Ton.

Gegen diesen Gott erscheint der Klimawandel unerbittlich.

Gerade deshalb ist es hilfreich, sich an einen Kern protestantischer Theologie zu erinnern: Kein Mensch kann sich vor Gott selbst rechtfertigen. Nicht Leistung, nicht moralische Makellosigkeit, sondern allein die Gnade Gottes begründet unsere Annahme. Das ist kein Freifahrtschein. Aber dieser Gedanke – besonders der Glaube an diesen Gott, der uns einfach so in sein Herz geschlossen hat – öffnet den Menschen dafür, seine Fehler anerkennen zu können. Er steht nicht vor Gericht. Seine wirkliche Existenz steht nicht auf dem Spiel. Er ist aufgehoben. Darum kann er seine Fehler sehen und anerkennen. Gegen diesen Gott erscheint der Klimawandel unerbittlich.

Man kann den Klimawandel nicht ernsthaft leugnen – und ebenso wenig, dass er wesentlich vom Menschen verursacht ist. Die Forschung ist eindeutig, die Datenlage überwältigend. Wer das ignoriert, verschliesst sich nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Wirklichkeit.

Aber was folgt daraus? Was genau habe ich damit zu tun?

Was soll ich wissen und was kann ich tun? 

Es ist eine verständliche und ehrliche Frage. Denn oft bleibt die Rede von „unserer Verantwortung“ abstrakt – oder sie trifft uns mit der Wucht eines moralischen Vorschlaghammers: Wir alle sind schuld. Wir alle müssen verzichten. Wir alle haben zu lange weggeschaut. Aber das „Wir“ ist nicht gleichmächtig verteilt. Es gibt Unterschiede: zwischen dem globalen Norden und Süden, zwischen Arm und Reich, zwischen politischem Handlungsspielraum und privater Ohnmacht. Und auch im Kleinen: zwischen jenen, die auf das Auto angewiesen sind, und jenen, die bequem mit dem Velo zur Arbeit fahren. Zwischen Menschen mit Freizeitbudget und jenen, die zwischen Schicht und Betreuung nur irgendwie durch den Alltag kommen.

Die Frage nach der eigenen Verantwortung ist deshalb berechtigt – und darf nicht moralisch abgewehrt werden. Sie muss konkret sein dürfen: Was ist mein Anteil? Was kann ich wissen? Was kann ich tatsächlich ändern? Und: Wem bin ich überhaupt etwas schuldig?

Aus christlicher Perspektive wird diese Frage nicht zuerst juristisch beantwortet, sondern relational: Ich bin verantwortlich gegenüber meinen Mitmenschen – auch denen, die ich nicht kenne. Ich bin verantwortlich vor Gott und darum frei vor einem übermoralisierten Weltgewissen. Das unterscheidet die Verantwortung von der Schuld: Sie setzt nicht auf Perfektion, sondern auf Treue. Sie verlangt nicht, alles zu richten – sondern etwas beizutragen. Sie setzt auf Beziehung, nicht auf Wettbewerb. Ich engagiere mich, weil ich verbunden, gehalten, geliebt bin, nicht um gerecht, liebenswert oder ansehnlich zu werden.

Zwischen Demut und Pragmatismus

Deshalb braucht es Haltungen, die weder überfordern noch verharmlosen. Die Theologie kann hier etwas beisteuern, was in politischen und moralischen Diskursen oft fehlt: Demut. Und die Wissenschaft bringt etwas mit, was religiösen Stimmen manchmal schwerfällt: Pragmatismus.

Ich kann nicht alles. Aber ich bin nicht nichts.

Demut heisst nicht Rückzug. Sie ist keine Resignation, sondern die Anerkenntnis der eigenen Begrenztheit. Wer demütig ist, weiss: Ich kann nicht alles. Aber ich bin nicht nichts. Ich bin Teil eines grösseren Zusammenhangs – der Schöpfung, der Geschichte, der Gegenwart anderer. Ich muss nicht der Retter der Welt sein, um verantwortlich zu handeln.

Demut befreit von der Illusion totaler Kontrolle – einer Illusion, die der Moderne tief eingeschrieben ist und die auch in moralischen Imperativen fortlebt: Wenn du nur konsequent genug wärst, würde die Welt anders aussehen. Aber so einfach ist es nicht. Die Verhältnisse sind komplex, unsere Handlungsmöglichkeiten sind es auch.

Hier setzt der Pragmatismus an – nicht als Ausrede, sondern als Haltung, die fragt: Was ist jetzt konkret möglich? Was funktioniert? Was hilft? Wissenschaft kann hier eine hilfreiche Instanz sein: Sie analysiert, gewichtet, empfiehlt. Sie verlangt nicht Vollkommenheit, sondern Wirksamkeit.

Die Kombination beider Perspektiven – Demut und Pragmatismus – könnte ein realistischer Zugang sein: eine Ethik des Möglichen, getragen von einem Glauben, der nicht alles muss, aber vieles kann. Sie schützt davor, sich in Schuldzuweisung oder Aktivismus zu verlieren. Und sie bewahrt davor, vor lauter Komplexität einfach abzuwinken.

Ich bin nicht allmächtig – aber handlungsfähig.

Vielleicht ist es gerade das, was wir heute brauchen: keine grossen Heilspläne, sondern kleine, tragfähige Haltungen. Eine, die sich erinnert: Ich bin nicht Gott – aber ich bin gemeint. Und eine, die sagt: Ich bin nicht allmächtig – aber handlungsfähig.

Und die Theodizeefrage?

Was aber heisst all das für die Frage, mit der dieser Text begann? Wo ist Gott, wenn Gletscher stürzen, wenn Städte überflutet werden, wenn Menschen an unsichtbaren Viren sterben oder an Krankheiten, für die es keine Ursache und keine Gerechtigkeit gibt? 

Die klassische Theodizeefrage sucht nach Erklärungen. Sie will das Unverständliche ins System bringen: Warum lässt ein guter Gott das zu? Warum greift er nicht ein? Warum schweigt er? Schuldet Gott uns das nicht? 

Gott gibt es nicht als Erklärung.

Die Antwort auf diese Fragen kann keine Erklärung sein, keine Tat, kein Wunder. Man kann nicht vernünftig erklären, was uns den Verstand raubt, nicht wiedergutmachen, was Menschen, Tiere und die Natur erlitten haben. Und gegen jedes Wunder stehen tausende Gebete, auf die kein Wunder folgt. Auch wenn ab jetzt nie wieder Berge einstürzen, Menschen an schrecklichen Krankheiten sterben oder durch Naturkatastrophen ausgelöscht würden, bliebe die Theodizeefrage bestehen. Was war in Blatten, in Südostasien, bei meiner ehemaligen Nachbarin? 

Gott gibt es nicht als Erklärung. Nicht als Ursache, nicht als Prinzip. Wenn überhaupt, dann in der Beziehung. In der Klage, im Gebet, im Beieinanderstehen. In der Hoffnung, dass das, was uns entgleitet, nicht verloren ist. Dass all das, was geschieht – das Gute wie das Abgründige –, bei ihm aufgehoben sein könnte, auf eine Weise, die wir uns nicht ausdenken könnten und doch erahnen. 

Bis dahin können wir uns Sorge tragen, dass wir weder zu gefühlskalten Welterklärern noch zu defätistischen Zynikern werden. Nicht trotzig. Trotzdem. 

Hier finden Sie Möglichkeiten, wie Sie die Betroffenen im Wallis unterstützen können. 

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Autor:in

Stephan Jütte

Stephan Jütte

Dr. theol., Leiter Theologie und Ethik, Mitglied der Geschäftsleitung

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