×
Kirche
Über uns
Konferenzen
Kommissionen
Fonds und Stiftungen
Weltweite Kirche
Themen
×
Referat von Dr. Elis Eichener, anlässlich der Tagung «Grenzen des Heiligen – Spiritueller Missbrauch und die Verantwortung religiöser Autorität» am 8. September 2025 in Zürich.
Der Glaube kann vielen Menschen eine wichtige Stütze darstellen, er kann aber auch toxische Wirkung entfalten. Bereits in den 1970er Jahren spricht Tilman Moser pointiert von einer „Gottesvergiftung“[1], also von spirituellem Missbrauch[2] und den durch ihn zugefügten Wunden. Seine biographischen Erfahrungen verarbeitet Moser, der im pietistischen Milieu aufgewachsen ist, in einem Monolog an Gott: „Du hast überlebt in meiner seelischen Struktur: ganze Gewölbe, Verehrungsthrone, innere Zimmer- und Kappellenfluchten wurden für dich angelegt. Du haustest in mir wie ein Gift, von dem sich der Körper nie befreien konnte. Du wohntest in mir als mein Selbsthaß. Du bist in mich eingezogen wie eine schwer heilbare Krankheit, als mein Körper und meine Seele klein waren. Beide wurden, entgegen einer freieren Bestimmung, zu deiner Wohnung gemacht, und ich war so stolz, daß du auch in mir kleinem Jungen Wohnung nehmen würdest.“[3] Dieses Zitat beschreibt nicht nur die seelischen Narben, die Verletzung der spirituellen Integrität. Darüber hinaus verrät es auch etwas über die Wirkweisen, die sich hinter spirituellem Missbrauch verbergen. Das Einwohnen Gottes in der Seele, das sich hier in eine belastende Schwere wandelt, ist demnach nicht einfach das Resultat äußeren Drucks. Vielmehr beschreibt Moser, wie er selbst diesen freiheitsberaubenden Prozess begrüßt, ja, wie er sogar stolz darauf ist, dass Gott ihn sein Innerstes einzieht – ein abgründiges Phänomen.
Meine diesem Beitrag zugrundeliegende These folgt dieser Beobachtung: Spiritueller Missbrauch und die damit eingehergehenden Verletzungen lassen sich nicht einfach durch Zwang, Nötigung und Gewalt erklären. Vielmehr beruht spiritueller Missbrauch auf einem Machtmechanismus, der äußere Wahrheiten tief in die subjektiven Gefühle und Gedanken einschreibt und darum wie einen authentischen Ausdruck des eigenen Wollens erscheinen lässt. Um dieser These nachzugehen, werde ich zunächst in das foucaultsche Konzept der Pastoralmacht einführen, durch das dieser Machtmechanismus besser verstanden werden kann. Danach möchte ich den spirituellen Missbrauch in der Seelsorge thematisieren, indem ich einen Fall aus der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers analysiere. Abschließend formuliere ich skizzenhafte Überlegungen dazu, wie in der Seelsorge trotz aller Gefahren die spirituelle Integrität von Seelsorgesuchenden gewahrt, vielleicht sogar gefördert werden könnte.
Zwar verstehen viele Menschen die Seelsorge weiterhin als eine empathische und zugewandte Begleitung, allerdings kann sie zweifelsohne zu einem distanzlosen, grenzüberschreitenden, letztlich verletzenden Übergriff mutieren. Unter gewissen Umständen „wird Seelsorge […] zum Tatort, an dem die Integrität einer Person verletzt und ihre spirituelle (und nicht selten auch sexuelle) Autonomie entwertet wird, so dass die begleitete Person alles – sich selbst, ihr Vertrauen in andere Menschen und ihren Glauben an Gott – verliert.“[4] Diese Beobachtung wirft die Frage auf, wie genau dieser Machtmechanismus funktioniert. Auf welche Weise kann sich spiritueller Missbrauch auch jenseits direkter Druckmittel in der Seele vergegenwärtigen? Und warum sind so viele Betroffene trotz allem bereit, sich dieser machtförmigen, vielleicht sogar gewaltvollen Dynamik auszusetzen? Ich möchte diesen Fragen nachgehen, indem ich in das von Michel Foucault entwickelte Konzept der Pastoralmacht einführe, das den Zusammenhang von Macht und Sorge besser zu verstehen hilft.
Das Herzstück der Pastoralmacht[5] ist in der Hirtenmetapher zu sehen, in der sich eine aus der Sorge entstehende Abhängigkeitsbeziehung ausdrückt. Denn die Herde ist auf Gedeih und Verderb angewiesen auf ihren Hirten, sie „existiert durch die unmittelbare Gegenwart und das direkte Handeln des Hirten.“[6] Der Hirte führt die Schafe, kennt ihre Bedürfnisse und kümmert sich um ihre Belange. Dabei wird unterstellt, dass er sein ganzes Handeln diesem einen Zweck unterordnet: „Was auch immer der Hirte tut, er tut es zum Wohl seiner Herde. Das ist seine beständige Sorge. Wenn sie schlafen, wacht er.“[7] Im Christentum entsteht aus der Hirtenmetapher eine Handlungsweise mit eigener Physiognomie. Foucault spricht in diesem Sinne von „einer regelrechten Kunst des Führens, Lenkens, Leitens, Anleitens, des In-die-Hand-Nehmens, des Menschen-Manipulierens, zu einer Kunst des Ihnen-Schritt-für-Schritt-Folgens und des Sie-Schritt-für-Schritt-Antreibens, einer Kunst, die diese Funktion hat, sich der Menschen ihr ganzes Leben lang und bei jedem Schritt ihrer Existenz kollektiv und individuell anzunehmen.“[8] Es handelt sich bei der Pastoralmacht demnach um eine Sorge, die sich immer daran orientieren soll, was nicht nur die Herde, sondern jedes einzelne Schaf benötigt. Sie zielt darauf, die Individuen über ihre ganze Biographie hinweg intensiv, lückenlos und detailversessen zu leiten und zu steuern – und das nur zu ihrem vermeintlich eigenen Besten.
Diese Grundüberlegung spiegelt sich in einer komplexen Methodik, der Foucault folgende vier Charakteristika zuschreibt: Zunächst setzt sich die Pastoralmacht äußerst hohe, nämlich metaphysische Ziele, weil sie sich um das Seelenheil ihres Gegenübers sorgt; davon abgeleitet kann allerdings auch eine Steigerung des irdischen Wohls intendiert werden. Sodann bringt die Pastoralmacht ein bemerkenswertes Anforderungsprofil an den Hirten mit sich, der seiner Aufgabe selbstlos sein Leben zu widmen und sich im Zweifelsfall für die Herde aufzuopfern hat. Darüber hinaus reicht es der Pastoralmacht nicht, die Herde als Ganzes im Blick zu haben, vielmehr verlangt sie nach einer passgenauen Begleitung jedes einzelnen Schafs. Zuletzt fragt die Pastoralmacht nach den geheimsten Wünschen und Bedürfnissen jedes Individuums, sie isoliert es von der Herde und sucht das tiefgründige Gespräch mit ihm. Denn nur, wenn man umfassende Kenntnisse um sein Innerstes hat, um das, was ihn wirklich umtreibt, kann man einen Menschen profund anleiten.[9] Die Pastoralmacht steht dabei in der ständigen Gefahr der Grenzüberschreitung, etwa, wenn sie zu tief in eine Person eindringt, sie wie in einem Verhör aushorcht und zu einer Selbstoffenbarung überredet: „[D]er Hirte muss auch in Erfahrung bringen, und sei es ihnen zum Trotz, was sie verbergen oder sich selbst verbergen. […] Die Erpressung von willentlich oder unwillentlich verborgenen Wahrheiten gehört zu den Beziehungen des Hirten zu seinen Schäflein.“[10] Auf diese Weise wird ein Mensch vulnerabel gegenüber seinem Hirten, weil er ihm geheime Dinge verrät, die ihm große Macht über ihn verleihen. Selbst wenn der Hirte mit äußerster Umsicht vorgehen sollte, entwickelt das Verhältnis zum Gegenüber ein asymmetrisches Gefälle.
Die Pastoralmacht zielt aber nicht nur darauf, die Gedanken und Gefühle eines Menschen ans Licht zu zerren, sondern möchte Einfluss darauf ausüben. Ein Schaf wird auf Linie gebracht, indem der Hirte das ihm gegenüber Offenbarte deutet, einordnet und bewertet; dadurch wird das Gegenüber manipuliert, begrenzt und geformt.[11] Auf diese Weise werden dem Schaf fremde, ihm anfangs vielleicht sogar unbehagliche Vorstellungen und Verhaltensregeln implementiert: „Alle diese christlichen Techniken der Prüfung, des Bekenntnisses, der Gewissensleitung und des Gehorsams haben ein Ziel: die Individuen dazu zu bringen, ihre eigene ‚Kasteiung‘ in dieser Welt zu bewerkstelligen.“[12] In ihrer Sorge um den Menschen erzeugt die Pastoralmacht erst das Subjekt, das sie zu ihrer Existenz braucht. Sie erschafft sich den Menschen, der ihre Sorge benötigt, ihre Wahrheit akzeptiert und sein Leben an ihr orientiert.[13] Irgendwann kommt das Individuum in eine Situation, in der es sich nicht mehr sicher sein kann, ob es wirklich will, was es zu wollen meint. Foucault schreibt: „Es gibt jemanden, der meinen Willen lenkt, der will, dass mein Wille dieses oder jenes will. Und ich trete meinen eigenen Willen nicht ab, ich will weiterhin, ich will weiter bis zum Schluss, doch will ich Punkt für Punkt und in jedem Moment das, was der andere will, dass ich es will.“[14] Der Wille des Menschen wird in die zarten, aber doch unnachgiebigen Ketten der Sorge gelegt. Dadurch werden ihm eigentlich nicht entsprechende Anschauungen zu seiner eigenen Identität, zu einer nicht mehr zu hinterfragenden Selbstverständlichkeit. In diesem Fall wurde ein Mensch vollkommen machtförmig gemacht; er kann sich nicht mehr von der Macht abgrenzen.
Seelsorge lässt sich angesichts dessen nicht trennscharf in die Dichotomie von Begleitung und Übergriff aufteilen, sondern beide Phänomene stellen einen Ausdruck der Pastoralmacht dar. Dies bedeutet auch, dass es sich bei spirituellem Missbrauch nicht um einen Ausrutscher, eine ungewöhnliche Entgleisung oder ein exotisches Sonderphänomen handelt, sondern dass er die Seelsorge von Anfang an wie ein Schatten mitbegleitet. Der spirituelle Missbrauch lässt sich – pointiert gesagt – als die andere, weit weniger glänzende Seite einer oft als positiv empfundenen, bestenfalls lebensförderlichen und freiheitssteigernden Handlungsweise beschreiben. Wenn Seelsorge sensibel, umsichtig und grenzwahrend erfolgt, kann sie den Menschen zu einem sicheren Ort werden. Wenn sie aber genutzt wird, um Menschen ihre innere Freiheit zu nehmen, wandelt sie sich zu einem Ort des Schreckens.
Dass Seelsorge Menschen gefährden kann, lässt sich anhand der Geschehnisse in der früher noch „Kleine Brüder vom Kreuz“ genannten geistlichen Gemeinschaft im niedersächsischen Hermannsburg aufzeigen.[15] Diese Bruderschaft wurde 1977 von dem Pfarrer Klaus Vollmer gegründet, der volksmissionarische Absichten verfolgte und zu diesem Zweck junge Menschen rekrutierte. Sie wurde von dem außergewöhnlichen Charisma ihres Gründers getragen und entwickelte sich bald zu einer straff organisierten Einheit. Vollmer blieb über viele Jahrzehnte die entscheidende Leitungsfigur, gerade in spiritueller und theologischer Hinsicht prägte er die Gemeinschaft. Zugleich veränderte sich die Gemeinschaft im Laufe der Zeit, entscheidend war nicht nur der Austritt vieler Gründungsmitglieder, sondern auch die Ermöglichung des Beitritts von Frauen. Um dieser Entwicklung gerecht zu werden, wurde die Gemeinschaft 2011 – im Todesjahr Vollmers – in „Evangelische Geschwisterschaft“ umbenannt. 2017 wurde allgemein bekannt, dass Vollmer nicht nur spirituellen Missbrauch ausgeübt hat, sondern auch in sexueller Hinsicht übergriffig gegenüber männlichen Jugendlichen und jungen Männern geworden ist.
Seitdem ist es zu einer intensivierten Beschäftigung vor allem mit der Frühzeit der Gemeinschaft gekommen, die die von Vollmer ausgehende unsachgemäße Machtausübung, den spirituellen Missbrauch und die sexualisierte Gewalt genauer in den Blick nimmt.[16] Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers beauftragte 2022 eine unabhängige Kommission damit, die mit Vollmer verbundenen Geschehnisse umfassend aufzuarbeiten. Die im Juni dieses Jahres veröffentlichte Studie beruht vor allem auf Interviews mit Betroffenen und weiteren Personen aus dem Umkreis Vollmers; dabei wird besonderes Augenmerk auf den Zusammenhang von spirituellem Missbrauch und sexualisierter Gewalt gelegt.[17] Ich möchte diese Untersuchung zum Ausgangspunkt nehmen, um das grenzüberschreitende Verhalten Vollmers mit der Analyseperspektive der Pastoralmacht nachzuzeichnen und insbesondere die Rolle der Seelsorge zwischen Begleitung und Übergriff zu beleuchten.[18] Dazu beginne ich mit einer Darstellung der Vergemeinschaftungslogiken. Danach wende ich mich dem spirituellen Missbrauch im Kontext von Seelsorgegesprächen zu. Zuletzt werde ich die von den Befragten beschriebenen Auswirkungen auf ihre Gedankenwelt und ihre Handlungsoptionen besprechen.
In der Studie wird Vollmer oft als ein charismatischer Pfarrer, mitreißender Prediger und engagierter Seelsorger benannt, der auffiel, als ungewöhnlich eingeschätzt wurde und durchaus begeisternd auftreten konnte.[19] Ein ehemaliger Vorgesetzter schildert ihn mit den folgenden Worten: „Er ist ideenreich, er ist zupackend, er ist selbstbewusst, er ist humorvoll, freundlich zugewandt und hat eben diesen gewissen Hang zur Selbstüberschätzung.“[20] Es überrascht daher kaum, dass Vollmer in der Lage war, eine große Faszinationskraft auf junge Menschen auszuüben. Viele dieser Personen stammten aus einem evangelikalen Milieu; für sie bot der theologisch zwar ebenfalls konservative[21], aber in mancher Hinsicht auch freiheitlich gesinnte[22] Vollmer nicht nur die Möglichkeit der Identifikation, sondern auch der persönlichen Weiterentwicklung.[23] Ein Interviewpartner beschreibt Vollmer als jemanden, „der uns allen ein bisschen großzügiges Leben vorgelebt hat, also was, ja, was Restaurantbesuche anging oder das Reisen, also irgendwie aus einer kleinen, engen Welt einen größeren Horizont zu finden.“[24] Vollmer wird damit als eine Person gezeichnet, die sowohl über persönliches Charisma als auch theologische Haltung verfügte. Beides zusammen sorgte dafür, dass er schnell viele Menschen ansprechen und um sich versammeln konnte.
Die in der Studie auftauchenden Formulierungen lassen indes ein ambivalentes Bild entstehen, ist doch sowohl von „Ersatzvater“[25], „geistlicher Vater“[26] oder „bunter Vogel“[27] als auch von „Alleinimpresario“[28], „Meister“[29] oder „Guru“[30] die Rede. Vollmer trat in der Gemeinschaft, aber auch in ihrem weiteren Umfeld, mit dem Habitus eines spirituell exzeptionell begabten Menschen auf,[31] der aus eigenem, nach außen intransparenten Ratschluss heraus Zuneigung und Abneigung austeilte.[32] Ein Interviewpartner spricht von ihm als einem Menschen, „der erwählte oder eben auch nicht erwählte. Und das war schon greifbar in der Gemeinschaft, wer Gehör fand und wer eben kein Gehör fand.“[33] Auf diese Weise bildete sich ein System heraus, in dem Vollmer die Spitzenposition einnahm und die systematisch diskriminierten Frauen[34] am unteren Ende positioniert waren. Dazwischen befanden sich die jungen Männer, von denen Ausgewählte mittels Zuwendung – solche Beziehungen werden als „freundschaftlich-väterliches Verhältnis“[35] beschrieben – privilegiert wurden. Ein Gemeindemitglied konstatiert: „Klaus Vollmer hat unter dem Deckmantel einer geistlichen Gemeinschaft zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse eine sektenähnliche Gruppierung gegründet (später ‚Kleine Brüder vom Kreuz‘), in der viele ihm kritik- und widerstandslos ergeben waren, ja in der es einen fortwährenden Wettbewerb um den höchsten Platz in der Gunst des bedingungslos verehrten Meisters gab. Daran hat sich die innerbruderschaftliche Hierarchie ausgerichtet.“[36] Die Stellung im Kollektiv hing von der Nähe zu seinem Zentrum ab, also von der Nähe zu Vollmer. Das führte dazu, dass alle ihm gefallen wollten und sich niemand ihm entgegenstellte – auch dann nicht, wenn es zu Grenzüberschreitungen gekommen ist.
In diesem Sinne nahm Vollmer die Rolle eines Hirten ein, der die ihm anvertrauten Menschen wie eine Herde führte. Nicht klare Regeln und transparente Entscheidungen bestimmten das Zusammenleben, sondern seine nach undurchsichtigen Mechanismen erfolgende Hinwendung zu einzelnen Personen strukturierte die Gemeinschaft. Das resultierte darin, dass die Schafe die Nähe des Hirten suchten, es ihm recht machen und sich freiwillig von ihm leiten lassen wollten. Die Schafe wurden vulnerabel ihm gegenüber, weil sie immer nach dem Wohlwollen ihres Hirten fragten und deshalb von seinem Gutdünken abhängig waren. Vollmers Leitungshandeln lässt sich damit als Pastoralmacht interpretieren, die die Schafe allein schon durch deren Integration in die Herde zu einer Unterordnung unter den sorgenden Hirten bringt.
Die Studie zeigt, dass Seelsorgegespräche zu den zentralen Charakteristika des Handelns Vollmers gehörten; sie waren in der Gemeinschaft und an weiteren Wirkungsorten des Pfarrers verbreitet.[37] Dabei ist nicht nur die Regelmäßigkeit dieser Seelsorgegespräche nennenswert,[38] sondern auch ihre Intensität, ihre existenzielle, denkraumerweiternde und lebensverändernde Dimension. So berichtet ein Gemeinschaftsmitglied: „Meine Erschütterung lag darin, dass er mich einer luziden und für mich überzeugenden Existenzanalyse unterzogen hat. Ich konnte mich erkennen. Und grundlegende Fragen zu dem, was ‚Religion‘ bedeuten kann, stellen und bearbeiten. Das war ein ganz neues und tiefes Erleben“.[39] Der daraus resultierende Einfluss auf die seelische Befindlichkeit und die biographischen Entscheidungen war gravierend. Ein Mann beobachtet, dass Vollmer auf diese Weise die Lebensplanung gerade junger Menschen steuern konnte: „Ich glaube einfach, dass die Auseinandersetzung mit ihm, das ihm Zuhören, bei einigen jungen Leuten tatsächlich dazu geführt hat, Lebensentwürfe komplett zu überdenken oder anders zu gestalten oder sich wirklich zu fragen, gehe ich diese Beziehung ein oder gehe ich überhaupt diesen Beruf ein?“[40] Dabei wird die subtile Art betont, mit der die Seelsorgesuchenden gelenkt wurden. Vollmer gelang es mit seiner Gesprächsführung, die Seelsorgesuchenden glauben zu lassen, sich selbst besser zu verstehen, „immer auf so’ner Geheimnisspur“[41] unterwegs zu sein und ihrem „eigenen Lebensgeheimnis“[42] auf die Schliche zu kommen. In Wirklichkeit jedoch wurden sie geschickt manipuliert, indem Vollmer seine Ziele und Interessen als die ureigensten Bedürfnisse seiner Seelsorgesuchenden ausgab.[43]
Die Seelsorge erfüllte aber nicht nur die Funktion, die Seelsorgesuchenden im Sinne Vollmers zu beeinflussen. Zudem ermöglichte sie ihm eine Herauslösung von Individuen aus der Gruppe, die zu einer erhöhten Vulnerabilität dieser Personen führte. Weil es üblich war, in intensiven, oft auch langen Einzelgesprächen zusammenzukommen,[44] fiel es nicht weiter auf, wenn Vollmer mit einem Menschen für einen bedeutenden Zeitraum allein war. Damit lässt sich erklären, dass Vollmer sich selbst mit Minderjährigen isolieren und sie sexuell missbrauchen konnte,[45] ohne Verdacht zu erregen. Die Studie paraphrasiert einen Betroffenen dahingehend, dass „es offenbar niemand hinterfragt [habe], wenn Klaus Vollmer oft für 1-2 Stunden mit einem Jugendlichen in seinem Arbeitszimmer verschwand.“[46] Eine Interviewpartnerin berichtet, dass sie zwar bemerkt hatte, dass sich Vollmer mit Gemeinschaftsmitgliedern zurückzog. Sie konnte dies aber nicht als übergriffige Situation deuten, weil es Usus in der sie umgebenden seelsorglichen Kultur war: „Wir waren der Meinung, die führen geistliche Gespräche oder ein seelsorgerliches Gespräch“.[47] Der sorgende Impetus half Vollmer, sein missbräuchliches Handeln zu verstecken und zu verschleiern. Dazu gehörte auch, dass die Menschen ihm nur beste Absichten unterstellten, sein Vorgehen also als Ausdruck einer kümmernden Haltung sahen.
Vollmer nutzte Seelsorgegespräche als ein Machtmittel, indem er sie als eine allgegenwärtige, regelmäßig erfolgende Handlungsform etablierte. Auf diese Weise konnte er Individuen ohne jeden Widerspruch von der schützenden Herde trennen und sich Gelegenheiten für Übergriffe schaffen. Dazu kam, dass er die Menschen im Austausch existenziell verunsicherte, sie dazu brachte, ihre innersten Geheimnisse zu erkunden und diese von ihm ausdeuten zu lassen. Den Seelsorgesuchenden erschien es dabei so, als wären sie auf dem Weg zur Selbsterkenntnis. Stattdessen drängte ihr Hirte ihnen seine eigenen Ideen, Werte und Vorstellungen auf, veränderte ihre Denkprozesse und manipulierte ihre Lebensentscheidungen. Dieses Handeln Vollmers lässt sich als Ausdruck der Pastoralmacht verstehen, die nicht nur individualisiert, sondern ein Schaf mittels Seelenprüfung, Selbstoffenbarung, Fremddeutung und Heteronomie auf Linie bringt.
Es kann der Studie entnommen werden, dass die Macht Vollmers auch darauf beruhte, dass die Individuen sich ganz und gar in eine engmaschige, eigenlogische und abgeschlossene Welt einfügen mussten.[48] Ein Praktikant schildert in diesem Sinne, dass er der Gemeinschaft „mit Haut und Haaren verschrieben“[49] gewesen ist. Ein anderer Interviewpartner berichtet, wie die Ideale Vollmers die ganze Gemeinschaft durchdrungen haben und zu ihrem Lebensinhalt wurden: „Wir hatten die Idee, ganz klug, ganz fromm, ganz weltoffen. Das waren unsere drei Stichworte.“[50] Gerade die jungen Männer waren von Vollmer beeindruckt, sie veränderten sich unter seinem Einfluss und verfolgten neue Zielsetzungen. Eine Frau bringt dieses Phänomen auf den Punkt, wenn sie erzählt: „[F]ür mich war es schon auch manipulativ in dieser Zeit, dass die jungen Männer dann Prioritäten gesetzt haben, die vorher nicht so galten. Es gab so’n unbedingten Vorrang von Klaus Vollmer.“[51] Vollmer bahnte sich seinen Weg in die Seelen der ihm anvertrauten Menschen. Er implementierte seine Werte in der Gemeinschaft, seine Anliegen wurden zu den Interessen vor allem der jungen Männer. Auf diese Weise wurden die betroffenen Personen gefügig gemacht, sie entwickelten einen machtförmigen Charakter und sind in ihrer Autonomie beschnitten worden.[52]
In der Rückschau sehen sich die Befragten gezwungen, ihr damaliges Weltbild und Verhalten kritisch zu reflektieren. Manche halten trotz allem an Vollmer fest und betonen die positiven Seiten seines Wirkens,[53] bei vielen kommt es aber zu einer deutlichen Ernüchterung. Eine Person benennt, wie sich die ihr früher so wichtigen, ihr völlig selbstverständlich geworden Ideale entzaubert haben: „Und dann war’s letztendlich, das war so die bittere Erkenntnis, die ich hatte, nur ’ne Ideologie.“[54] In der Vergangenheit jedoch war eine solche Distanzierung nur in seltenen Fällen möglich. Die Beeinflussung ging so weit, dass selbst sexualisierte Übergriffe nicht als solche interpretiert werden konnten.[55] Eine Interviewpartnerin beschreibt beispielsweise, wie ein Kuss „als Zeichen von Bruderschaftlichkeit, von besonderer Zuneigung [gedeutet wurde], aber ich glaube, wir haben es nicht in einen sexuellen Zusammenhang stellen können, weil das außerhalb dessen war, was wir uns zu Klaus Vollmer vorstellen konnten.“[56] Einem Befragten, der sexualisierter Gewalt ausgesetzt war, scheint bis heute schwerzufallen, sich von Vollmer abzugrenzen. So stellt er trotz der ihm zugefügten seelischen Verletzungen fest: „Das Gefühl der Dankbarkeit und der freundschaftlichen Verbundenheit, das ich Klaus Vollmer gegenüber gern empfinden würde, ist vergiftet von unbeschreiblicher Scham.“[57] Diese Äußerung impliziert ein anhaltendes Verpflichtungsgefühl und den Wunsch nach einem Vertrauensverhältnis zu Vollmer, was sich durchaus als Spätfolge der Manipulation durch den Täter interpretieren lässt.
Die Macht Vollmers blieb auch deswegen so lange unhinterfragt, weil er seine Glaubens- und Lebensvorstellungen zu den Idealen der ihn umgebenden Menschen machen konnte. Die von ihm umsorgten Menschen internalisierten die Wahrheiten, die ihr Hirte vertrat und ihnen nahelegte. Weil ihr Kategorien- und Wertesystem verschoben wurde, waren sie nicht in der Lage, die Übergriffe des Hirten auf seine Herdenmitglieder zu erkennen oder korrekt einzuordnen. Auch im Nachhinein fällt es manchen Personen schwer, sich von Vollmer zu lösen; selbst manche, denen Leid angetan wurden, scheinen eine Art von Zuneigung ihm gegenüber zu empfinden. Daran zeigt sich, wie geschickt Vollmer die Pastoralmacht gebrauchen konnte; er hatte ein Talent dafür, den Willen seiner Herde nach seinem Willen zu formen. Ein zentrales Mittel dazu stellte die Seelsorge dar; ein von sexualisierter Gewalt Betroffener spricht von einem „eklatanten Missbrauch des seelsorgerischen Vertrauens- und Machtverhältnisses“[58], dessen Folgen ihn bis in die Gegenwart belasten.
Natürlich sollten Pfarrer*innen wie Klaus Vollmer schnellstmöglich ausgemacht und aus dem Verkehr gezogen werden. Allerdings dürfen Fälle wie dieser nicht dazu führen, nur auf die „schwarzen Schafe“ zu schauen und die dem spirituellen Missbrauch zugrundeliegenden Machtdynamiken – insbesondere die Logiken der Pastoralmacht – zu übersehen. Für den spirituellen Missbrauch gilt demnach, was Michael Meyer-Blanck mit Blick auf sexualisierte Gewalt festgestellt hat: „Für die realitätsnahe Beschreibung der Kirche in der Gegenwart ist es […] notwendig, Missbrauch nicht nur als individuelle Verfehlung zu betrachten, sondern dazu systemische Überlegungen anzustellen“.[59] Auch die Seelsorge, die einen zentralen Stellenwert in der evangelischen Kirche einnimmt, muss kritisch diskutiert werden. Im Folgenden werde ich in diesem Sinne darüber nachdenken, wie eine die spirituelle Integrität von Seelsorgesuchenden wahrende Seelsorge aussehen könnte. Dazu greife ich auf die poimenischen Überlegungen von Friedrich Schleiermacher[60] zurück, der schon im vorletzten Jahrhundert konstatiert: „Es giebt Grenzen die im evangelischen Geist unserer Kirche liegen […], und daß wir diese nicht überschreiten muß uns vor allen Dingen am Herzen liegen.“[61]
Zunächst legt Schleiermacher Wert darauf, dass Seelsorge einer zeitlichen Begrenzung unterliegt. Sorgebeziehungen dürfen nicht auf unbestimmte Dauer angelegt sein, sondern müssen rechtzeitig abgeschlossen werden: „[D]a diese nur vorübergehende Verhältnisse sind, so müssen sie ihr bestimmtes Ende finden; das Verfahren ist kein stetig fortgehendes.“[62] Eine Seelsorgerin ist aufgefordert, die mit einem Seelsorgesuchenden eingegangene Sorgebeziehung konsequent zu evaluieren. Dabei muss sie insbesondere reflektieren, ob die Seelsorge dem Gegenüber weiterhin zu größerer „geistige[r] Freiheit“[63] verhilft. Wenn dies nicht der Fall ist oder eine problematische Abhängigkeit entsteht, muss sie die Sorgebeziehung umgehend beenden. Schleiermacher schreibt, dass ein Seelsorger zwar zum Helfen verpflichtet ist, „aber dieser Wille […] doch dadurch beschränkt [ist] daß das Verhältnis ein freies bleibt; hört das freiwillige auf: so kann er das Geschäft nicht fortsezen.“[64] Je länger eine Sorgebeziehung gepflegt wird, desto stärker steht sie in der Gefahr, dass sich in ihr asymmetrische, unzuträgliche oder schädliche Dynamiken verfestigen. Deshalb darf Seelsorge sich nicht verewigen, sondern muss notfalls auch gegen den Wunsch eines Seelsorgesuchenden abgebrochen werden.
Zudem ist eine kontrollierte Nähe in der Seelsorge für Schleiermacher von Relevanz, wobei vor allem Übergriffe in den persönlichen Lebensbereich zu vermeiden sind. Ein Seelsorger hat „kein Recht […] sich in die Angelegenheiten anderer zu mischen, wenn sie es ihm nicht zugestehen.“[65] Daraus folgt, dass Seelsorge keinen Pflichtcharakter annehmen darf. Ob und inwieweit sich ein Mensch auf seine Seelsorgerin einlässt, bleibt ihm selbst überlassen. Ein entsprechendes Angebot ihrerseits muss offen sein, „weil es nur ein Anerbieten des näheren Verhältnisses ist, das jedem frei stehen muß anzunehmen oder nicht.“[66] Falls es zur Seelsorge kommt, muss eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dem Anderen gepflegt werden. Es gibt Räume in der Seele, in die die Seelsorge nicht vorzudringen hat. Schleiermacher fordert vielmehr Respekt vor dem „Geheime[n] im Leben“[67], das nicht ans Licht gezerrt werden darf. Sobald Seelsorge die Geheimnisse aufspürt, die ein Individuum in sich verschlossen hält, macht sie ihr Gegenüber von sich abhängig. Darum sollte sie eine zu große Nähe vermeiden, ihre Neugierde einschränken und den Seelsorgesuchenden ihre Intransparenz lassen.
Zuletzt betont Schleiermacher die Bedeutung einer inhaltlichen Ambiguitätstoleranz in der Seelsorge. Ein Seelsorger darf nicht an seinen subjektiven Ansichten hängen, sondern muss den Perspektiven seines Gegenübers möglichst Vorrang geben; er sollte „die gehörige Achtung haben […] vor der Verschiedenheit der Meinungen und Handlungsweisen in der evangelischen Kirche, daß er den Kreis dessen, was für alle recht und wahr ist, nicht zu sehr ins einzelne ausdehnen darf.“[68] Eine Seelsorgerin sollte immer darauf achten, ihre persönlichen Vorstellungen zurückzunehmen und ihre religiösen Anschauungen nicht zu verallgemeinern. Dazu kann es gehören, entgegen der eigenen Position die Perspektiven des Anderen zu stärken: „Unsere persönliche Eigenthümlichkeit darf aber nie entscheiden; entweder muß das Gemeinsame allein walten, oder die Persönlichkeit des andern muß frei gemacht und gesteigert werden.“[69] Wird hier nicht mit der nötigen Sensibilität vorgegangen, macht sich eine Seelsorgesuchende unter Umständen unreflektiert Meinungen zu eigen, die nicht die ihren sind und die sie nicht aktiv annehmen wollte. Um eine solche Übernahme fremder Wahrheiten zu verhindern, braucht es in der Seelsorge Selbstdistanz und Fingerspitzengefühl.
Die Aufarbeitungsstudie hat gezeigt, dass Vollmer solche Grenzen bewusst überschritten, die spirituelle Integrität beeinträchtigt und die sexuelle Selbstbestimmung verletzt hat. Fälle wie dieser mögen wie eine Ausnahme erscheinen, geben jedoch Aufschluss über die grundlegenden Problemzonen der Seelsorge.[70] Seelsorgende verfügen über eine Pastoralmacht, die ohne eine nüchterne, ehrliche und kritische Selbstreflexion in spirituellen Missbrauch umschlagen kann. Weil sie diese Schattenseite der Seelsorge nicht einfach abstreifen können wie einen zerschlissenen Mantel, müssen Seelsorgende klug, sensibel und bewusst mit ihr umgehen.[71] Dabei kann es eine erste Orientierung sein, sich die Seelsorge als ein nach innen gewandtes Grenzregime vorzustellen, das sich selbst kontrolliert und frühzeitig einschreitet. Dieses Grenzregime achtet feinfühlig und im Sinne einer pfarrberuflichen Professionalität[72] auf Zeit, Nähe und Inhalt, also auf die Grenzen, die sich in Anschluss an Schleiermacher ausmachen lassen. Auf diese Weise kann Seelsorge die Gefahr reduzieren, von einer lebensförderlichen Begleitung in einen freiheitsgefährdenden Übergriff abzurutschen. Vielleicht kann Seelsorge dann sogar dazu beitragen, die von missbrauchenden Hirten verursachten „Gottesvergiftungen“ zu heilen.
[1] Tilmann Moser, Gottesvergiftung, 18. Aufl. Frankfurt a. M. 2022.
[2] Instruktive Überlegungen zum Phänomen des spirituellen Missbrauchs bieten die Publikationen der britischen Psychologin Lisa Oakley, die diesen folgendermaßen definiert: „Spiritual abuse is a form of emotional and psychological abuse. It is characterised by a systematic pattern of coercive and controlling behaviour in a religious context. Spiritual abuse can have a deeply damaging impact on those who experience it.“ Dies geschieht durch „manipulation and exploitation, enforced accountability, censorship of decision-making, the requirement of secrecy and silence, coercion to conform, control through the use of sacred texts or teaching, the requirement of obedience to the abuser, the suggestion that the abuser has a ‚divine‘ position, isolation as a means of punishment, and superiority and elitism.“ Dies., Understanding spiritual abuse, in: Church Times, 16.02.2018. Abrufbar unter: https://www.churchtimes.co.uk/articles/2018/16-february/comment/opinion/understanding-spiritual-abuse (Abrufdatum: 07.09.2025). Vgl. darüber hinaus auch dies./Justin Humphreys, Escaping the Maze of Spiritual Abuse. Creating healthy Christian cultures, London 2019, 18-39.
[3] Moser, Gottesvergiftung, 9f.
[4] Ute Leimgruber, Tatort Seelsorge. Die Rolle von Seelsorge und seelsorglich Handelnden im Umfeld von spirituellem Missbrauch, in: Dies./Barbara Haslbeck (Hrsg.), Spirituellen Missbrauch verstehen. Wissenschaftliche Essays zu Selbstverlust und Gottentfremdung, Ostfildern 2024, 51-73, 51.
[5] Zu den folgenden Ausführungen zur Pastoralmacht vgl. ähnlich schon Elis Eichener, Die dunkle Seite der Seelsorge. Zur Pastoralmacht in der öffentlichen Kommunikation der EKD, in: Katrin Burja/Traugott Roser (Hrsg.), Queer im Pfarrhaus. Gender und Diversität in der Evangelischen Kirche (Queer Studies 39), Bielefeld 2024, 35-48; ders./Isolde Karle, Pastoralmacht als Begünstigung sexualisierter Gewalt. Professionsethische Überlegungen, in: Anika Albert u. a. (Hrsg.), Sexualisierte Gewalt. Konstellationen – Problemanzeigen – Perspektiven (Jahrbuch Sozialer Protestantismus 16), Leipzig 2025, 179-192.
[6] Michel Foucault, „Omnes et singulatim“: zu einer Kritik der politischen Vernunft (1981), in: Ders., Analytik der Macht, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, 9. Aufl. Frankfurt a. M. 2021, 188-219, 192.
[7] A. a. O., 193. Herv. i. O.
[8] Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, 8. Aufl. Frankfurt a. M. 2022, 241. Vgl. auch Ulrich Bröckling, Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste, 3. Aufl. Berlin 2019, 20.
[9] Vgl. Foucault, Omnes et singulatim, 199-203; ders., Subjekt und Macht (1982), in: Ders., Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange 7. Aufl. Frankfurt a. M. 2022, 81-104, 88f.
[10] Michel Foucault, Die Geständnisse des Fleisches (Sexualität und Wahrheit 4), hrsg. von Frédéric Gros, 2. Aufl. Berlin 2019, 522f. Laut Foucault kann die Pastoralmacht nur dann adäquat ausgeübt werden, „wenn man weiß, was in den Köpfen der Menschen vor sich geht, wenn man ihre Seele erforscht, wenn man sie zwingt, ihre intimsten Geheimnisse preiszugeben.“ Ders., Subjekt und Macht, 89.
[11] Anhand des frühchristlichen Mönchtums illustriert Foucault, wie dieses Wechselspiel entsteht, also eine Lebensführung, die „die Führung von Einzelpersonen, das Lenken ihrer Seele, die Steuerung ihres schrittweisen Vorankommens, die mit ihnen zusammen vorgenommene Erforschung der geheimen Regungen ihres Herzens“ miteinander kombiniert. Ders., Die Geständnisse des Fleisches, 162. Dass ein Mönch auf einen Anleiter angewiesen ist, der seine Selbstprüfung begleitet, kontrolliert, evaluiert und steuert, kann Foucault mit Blick auf Johannes Cassian zeigen. Vgl. a. a. O., 186-201.
[12] Foucault, Omnes et singulatim, 203.
[13] In seinem Spätwerk hat sich Foucault intensiv mit den Subjektivierungsprozessen beschäftigt, durch die eine äußere Wahrheit zur eigenen Identität wird. Dahinter steht die Frage, wie man das untersuchen kann, „was als ‚das Subjekt‘ bezeichnet wird; es sollte untersucht werden, welches die Formen und die Modalitäten des Verhältnisses zu sich sind, durch die sich das Individuum als Subjekt konstituiert und erkennt.“ Ders., Der Gebrauch der Lüste, in: Ders., Die Hauptwerke. Mit einem Nachwort von Axel Honneth und Martin Saar, 3. Aufl. Frankfurt a. M. 2013, 1153-1370, 1159.
[14] Michel Foucault, Die Regierung der Lebenden. Vorlesung am Collège de France 1979-1980, Frankfurt a. M. 2020, 307. Vgl. auch Bröckling, Gute Hirten führen sanft, 22.
[15] Zu den folgenden Ausführungen zur Gemeinschaft vgl. deren Internetauftritt unter http://geschwisterschaft.de/ueber_uns/page28/page28.html (Abrufdatum: 07.09.2025).
[16] Hier ist insbes. die von der Gemeinschaft in Auftrag gegebene, 2022 veröffentlichte Studie zu nennen, Vgl. Christian Braune u. a., Bericht der „Aufarbeitungskommission der Evangelischen Geschwisterschaft e. V.“, 2022, abrufbar unter: http://geschwisterschaft.de/ueber_uns/page28/downloads-5/files/Bericht_der_Aufarbeitungskommission_2022-02-17.pdf (Abrufdatum: 07.09.2025).
[17] Vgl. Georg Gebhardt u. a., Wissenschaftliche Aufarbeitung zu sexualisierter Gewalt und geistlichem Missbrauch durch Pastor Klaus Vollmer. Bericht der unabhängigen Aufarbeitungskommission im Auftrag der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, 2025, abrufbar unter: https://assets-michael.max-e.info/damfiles/default/praevention-lkh/Aufarbeitung/eVersion-Wissenschaftliche-Aufarbeitung-zu-sexualisierter-Gewalt-und-geistlichem-Missbrauch-durch-Pastor-Klaus-Vollmer-1.pdf-941c3ec95e369ca3ceffc129589c2964.pdf (Abrufdatum: 07.09.2025).
[18] Dabei greife ich vor allem auf das Auswertungskapitel und die dort zitierten Äußerungen zurück. Vgl. a. a. O., 58-101.
[19] Vgl. dazu insbes. a. a. O., 128-131. 137f. 147-150.
[20] A. a. O., 100.
[21] Vgl. dazu a. a. O., 51-57.
[22] Vgl. dazu a. a. O., 152f.
[23] Vgl. insbes. a. a. O., 64-81.
[24] A. a. O., 66. Es ist auch die Rede davon, dass die ihm anvertrauten Personen sich vor dem Hintergrund ihrer Sozialisation im evangelikalen Milieu „endlich in der Weite des Lebens und, ja, auch der Lebenslust“ empfunden hätten. Ebd.
[25] A. a. O., 59.
[26] A. a. O., 68.
[27] A. a. O., 80.
[28] A. a. O., 69.
[29] A. a. O., 70.
[30] A. a. O., 91.
[31] Die Studie kommentiert dazu nüchtern: „Insgesamt ist es aus theologischer Hinsicht zu hinterfragen, inwieweit ein Selbstverständnis als ‚geistlicher Vater‘ mit einem evangelischen Amtsverständnis zu vereinbaren ist. Jedenfalls steht es im Widerspruch zum gängigen evangelischen Verständnis, das den Pfarrberuf von der Aufgabe der öffentlichen Wortverkündigung her bestimmt und keine geistliche Unterscheidung im Sinne eines character indelebilis gegenüber der Gemeinde vorsieht.“ A. a. O., 149.
[32] Vgl. dazu a. a. O., 128ff.
[33] A. a. O., 69.
[34] Vgl. dazu a. a. O., 75. 82-89.
[35] A. a. O., 68.
[36] A. a. O., 79. Es ist zentral, dass die Beziehungen zu Vollmer auch durch Seelsorge organisiert wurden. Die Studie notiert zur Gemeinschaft: „Viele ihrer Mitglieder standen zu ihm in einem Seelsorgeverhältnis.“ A. a. O., 115.
[37] Dies zeigt sich etwa daran, dass Vollmer selbst auf externen Veranstaltungen im Ausland Seelsorgegespräche anbot, was durchaus standardisierte Züge trug. So erzählt ein Befragter: „Also während den Tagungen und wenn er dann bei so einer Evangelisation war, gab es immer eine Ansage: ‚Klaus Vollmer ist zum Gespräch bereit und würde von dann und dann bis dann und dann an diesem oder jenem Ort sein oder mit ihm eine Verabredung machen.‘ Ich weiß von einigen, die sehr intensiv darauf eingegangen sind.“ A. a. O., 66.
[38] Die Studie kommentiert: „Regelmäßig stattfindende seelsorgliche Gespräche schafften vertrauliche Nähe.“ A. a. O., 129.
[39] A. a. O., 67. Vgl. zu diesem sowie den drei folgenden Zitaten auch a. a. O., 137f.
[40] A. a. O., 95.
[41] Ebd.
[42] Ebd.
[43] Es wird von dem Befragten berichtet, „dass da schon viel von ihm [Vollmer] auch geschubst wird“, aber „so mehr mit diesem subtilen: Frag dich das mal. Frag dich das mal. Frag dich das mal.“ Das habe dazu geführt, dass ein Seelsorgesuchender zum Schluss kam: „[O]kay, so wie ich es bisher gemacht hab‘, ist falsch. Dann muss ich alles ganz anders machen.“ In der Rückschau konstatiert der Interviewpartner, dass Vollmer „brillant und faszinierend [war], aber es hat eben auch diese manipulative Note.“ Ebd.
[44] Ein Interviewpartner erinnert, dass es „immer wieder auch intensive seelsorgerliche Gespräche mit Klaus Vollmer [gab], die für meine Lebensorientierung sehr wichtig waren.“ A. a. O., 68.
[45] Die Studie stellt fest: „Die sexuellen Kontakte ereigneten sich fast immer im Rahmen einer von Vollmer dominierten Seelsorgebeziehung. Zwischen ihm und den betroffenen Personen bestand dabei häufig ein Meister-Schüler-Verhältnis. Die genannten Räumlichkeiten in Hof Beutzen waren oft der Ort für die angeblichen Seelsorgegespräche, bei denen auch der Einzelbeichte eine große Bedeutung zukam.“ A. a. O., 114.
[46] A. a. O., 62.
[47] A. a. O., 86.
[48] Die Studie kommentiert in diesem Sinne: „Der Blick nach außen muss sich für diejenigen, die in enger Gefolgschaft lebten, deutlich eingeschränkt haben. Das innerhalb der Gruppe etablierte soziale Netzwerk bot ihnen einen attraktiven, aus ihrer Sicht vollständigen Sinn- und Lebenszusammenhang. Somit konnte die Bruderschaft schrittweise zur zentralen Lebensstruktur mit erheblichem Einfluss auf Wahrnehmung, Denken und Handeln der Betroffenen werden. Je mehr die Bruderschaft zum Lebensmittelpunkt wurde, desto mehr musste ein möglicher Verlust dieser Struktur als verunsichernd und existenziell bedrohlich erlebt werden. Dies erklärt, warum die Loyalität zur Gemeinschaft zum wesentlichen Gebot derjenigen wurde, die dazugehören wollten.“ A. a. O., 135.
[49] A. a. O., 91.
[50] A. a. O., 78.
[51] A. a. O., 83.
[52] Dies betrifft nicht zuletzt zentrale biographische Entscheidungen, die der Macht unterzogen und damit der Freiheit der Betroffenen entzogen wurden. Eine Person berichtet von Fällen, wo der Eingriff in die Lebensplanung dermaßen nachhaltig war, „dass man nicht noch hat wieder eine Weiche umlegen können und es wieder in die Richtung hat bringen können, von der man denkt, dass man sie vielleicht von Anfang an hätte haben wollen.“ A. a. O., 75.
[53] Vgl. a. a. O., 66f; 76.
[54] A. a. O., 78.
[55] Die Studie fasst die Aussagen mehrerer Interviewpartner zusammen, wenn sie feststellt: „Im Nachhinein erscheine ihnen ihre eigene Wahrnehmung und Reaktion als naiv, verstünden sie sich selbst nicht mehr in ihrer Toleranz gegenüber dem Verhalten Vollmers.“ A. a. O., 77.
[56] A. a. O., 85.
[57] A. a. O., 61.
[58] Ebd.
[59] Michael Meyer-Blanck, Kirche (Theologische Bibliothek 7), Göttingen 2022, 251.
[60] Zu den folgenden Ausführungen zu Schleiermacher vgl. ähnlich schon Eichener/Karle, Pastoralmacht als Begünstigung sexualisierter Gewalt, 188f.
[61] Friedrich Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (Sämmtliche Werke I/13), hrsg. von Jacob Frerichs, Berlin 1850 (Nachdruck Berlin/New York 1983), 429. Zu einer Interpretation Schleiermachers, die vor allem die Wahrung der individuellen Freiheit betont, vgl. Isolde Karle, Poimenik, in: Christian Grethlein/Helmut Schwier (Hrsg.), Praktische Theologie. Eine Theorie- und Problemgeschichte, Leipzig 2007, 575-606, 576-583; dies., Praktische Theologie (Lehrwerk Evangelische Theologie 7), 2. Aufl. Leipzig 2021, 360-366.
[62] Schleiermacher, Die praktische Theologie, 442. I. O. teilweise herv.
[63] A. a. O., 431. I. O. herv.
[64] A. a. O., 443.
[65] A. a. O., 428.
[66] A. a. O., 435.
[67] A. a. O., 452.
[68] A. a. O., 437.
[69] A. a. O., 453. I. O. herv,
[70] Bei geistlichen Gemeinschaft wie der Organisation „Kleine Brüder vom Kreuz“ handelt es sich um geschlossene Systeme, die zweifelsohne eigene, nicht verallgemeinerbare Charakteristika aufweisen. Die Pastoralmacht stellt aber kein Spezifikum solcher Systeme dar, sondern lässt sich auch in der alltäglichen Seelsorge auffinden. Für einen Überblick über Machtdynamiken in der Seelsorge vgl. Annemie Dillen (Hrsg.), Soft Shepherd or Almighty Pastor? Power and Pastoral Care, Cambridge 2015 (2014).
[71] Vgl. ähnlich schon Eichener, Die dunkle Seite der Seelsorge, 46ff.
[72] Isolde Karle schreibt zur Professionalität von Pfarrpersonen: „Sie [die Pfarrpersonen] unterscheiden individuelle und berufliche, psychische und soziale Perspektiven und können deshalb sich selbst, ihre individuellen Überzeugungen und privaten Interessen im Dienst an der Gemeinde bei Bedarf souverän zurückstellen.“ Dies., Der Pfarrberuf als Profession. Eine Berufstheorie im Kontext der modernen Gesellschaft (Praktische Theologie und Kultur 3), 3. Aufl. Freiburg im Brsg. 2011, 328.


0 Kommentare