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Zwischen Einheit und Vielfalt – Die Ambivalenzen der ökumenischen Bewegung

Die Einheit der Kirche bleibt ein theologisches Ideal und zugleich eine komplexe Realität. In seinem Beitrag hinterfragt Frank Mathwig die ökumenische Bewegung kritisch: Besteht die Einheit in der Vielfalt oder in einer normativen Homogenität? Die Geschichte zeigt, dass konfessionelle Differenzen oft weniger aus theologischen Gründen als aus politischen und kulturellen Faktoren resultierten. Das Ringen um Einheit, so Mathwig, ist daher von Ambivalenzen geprägt – zwischen Versöhnung und Machtanspruch, zwischen gelebter Gemeinschaft und strukturellem Ausschluss. Er plädiert für eine Ökumene, die Differenz anerkennt, ohne sie zu nivellieren, und Gemeinschaft nicht als statischen Zustand, sondern als stetige Begegnung versteht.

Hier finden Sie den Text mit Fussnoten als PDF.

«Compared to this Christ who died for men’s sins upon the cross, Jesus, the good man who tells all men to be good, is more solidly historical. But he is the bearer of no more than a pale truism.»

Reinhold Niebuhr

«There is no precolonial Christianity.But is there a postcolonial Christianity?»

Cathrine Keller

1. Einheit der Kirche unter ungleichen Bedingungen

Das 20. Jahrhundert gilt als das ökumenische Jahrhundert der Kirchengeschichte mit Meilensteinen wie der ersten grossen Missionskonferenz in Edinburgh 1910, der Weltkirchenkonferenz für praktisches Christentum in Stockholm 1925, der Weltkirchenkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Lausanne 1927, der Gründungskonferenz des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam 1948, der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf 1966 und den vielen internationalen ökumenischen Konferenzen im globalen Süden, «die der Tatsache Rechnung tragen, dass das Christentum im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer wahrhaft weltweiten Religion geworden ist, und zwar […] mit einer eindeutigen Verschiebung des Schwerpunkts von Europa und Nordamerika in den globalen Süden». Die Ökumene ist die kirchliche Reaktion auf das Zusammenrücken der Welt und die Weltschrumpfung einerseits durch die wissenschaftlich-technologischen Entwicklungen, Industrialisierung und Welthandel und andererseits durch die vorher unbekannten politisch-militärischen Imperialismen des 20. Jahrhunderts. Am Anfang der ökumenischen Bewegung steht die Bedrohung des Weltfriedens durch Krieg und Gewalt.

«Am Anfang der ökumenischen Bewegung steht die Bedrohung des Weltfriedens durch Krieg und Gewalt.»

Ökumene bezieht sich empirisch die konfessionell-religiöse, historische, politische, ökonomische, kulturelle und ethnische Pluralität der weltweiten organisierten Kirchen und bezeichnet konzeptionell die Einheit der einen, universalen Kirche, die sich als «ökumenisch» qualifizierte Diversität der Konfessionen, Denominationen und Gemeinschaften zeigt. Die einzelnen Kirchen werde zugleich als ekklesial eigenständig (Sozialgestalt) und ekklesiologisch verbunden (ecclesia una sancta) vorgestellt. Die historische Realität von Brüchen und Ausdifferenzierungen trifft auf den theologischen Anspruch der Einheit, Universalität und Exklusivität. Traditionell wurde und wird diese Spannung durch die Unterscheidung zwischen der geglaubten oder universalen Kirche-im-Singular (als Leib Christi) und den historischen Sozialgestalten der sichtbaren oder partikularen Kirchen-im-Plural (als corpus permixtum) befriedet oder aufgelöst. Mit diesem Modell lassen sich sowohl die Spaltungen und konfessionellen Konstruktionen in der Kirchengeschichte erklären als auch umgekehrt der ekklesiologische Einheitsanspruch begründen, der auf die Bitte Jesu bezogen wird, «Ut unum sint» – «dass sie alle eins seien, so wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, damit auch sie in uns seien» (Joh 17,21).

Einigkeit besteht in der theologischen Bestimmung der einen christlichen Kirche als Leib Christi, mit ihm als ihr Ursprung, Haupt, Erhalter und Vollender. Gestritten wird dagegen über die Frage, wie diese Kirche in der Welt präsent ist, woran sie erkannt wird und wer die im Evangelium verkündigte und im Glauben bekannte Kirche in welcher Weise repräsentiert. Traditionell werden die Fragen im Konflikt- und Abgrenzungsmodus diskutiert, die der Logik folgen: Weil es die christliche Kirche nach biblischem Zeugnis nur im Singular gibt, muss jede christliche Konfession, Denomination oder Glaubensgemeinschaft den Anspruch erheben und einlösen, an dieser einen Kirche in irgendeiner Weise Anteil zu haben und sie (in spezifischer Weise) zu repräsentieren. Ökumenisch gewendet resultieren daraus grundsätzlich drei Möglichkeiten:

(1.) Entweder sind alle realexistierenden christlichen Kirchen und Gemeinschaften in irgendeiner Weise Teil der einen Kirche (Körper-Modell von 1Kor 12,12–30) oder (2.) die biblisch bezeugte Kirche «verwirklicht sich» (Lumen gentium, 8: «subsistit in») nur in einer einzigen Sozialgestalt oder (3.) der geglaubten Kirche entspricht keine christliche Institution, Organisation und Gemeinschaft. Im ersten Fall wäre «Kirche» die Gattungsbezeichnung für eine definierte Menge von dazugehörigen Exemplaren (Ortsgemeinden, Konfessionen, Denominationen, Gemeinschaften etc.), in den beiden anderen Fällen stünde «Kirche» für eine eigene Realität bzw. ein «Subjekt».

Dahinter stehen weitreichende ekklesiologische Fragen, die kirchenpolitisch in vielfältiger Weise instrumentalisiert und überlagert werden. Während in der Kirchengeschichte das antitolerante Häresie-, Schisma- und Anathema-Schema dominierte, das sich in den durch die Reformation angestossenen Konfessionskriegen ebenso fortsetzte wie in den missionarischen Konkurrenzkämpfen im 19. Jahrhundert, stellt die Ökumene des 20. Jahrhunderts auf konfessionelle Toleranz und interkonfessionellen Dialog um. Die alte Doktrin, dass die kirchliche Einheit um der Wahrheit willen erkämpft werden müsse, wird ersetzt durch den neuen Anspruch, dass die kirchliche Einheit in der Pluralität ihrer theologischen (kirchen)historischen, kulturellen, sozioökonomischen und mentalitätsgeschichtlichen Manifestationen ausgehalten und moderiert werden müsse.

2. Welche Einheit?

2.1 Ökumenische Einheit

Gemäss der vom Zentralausschusses des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) im Juni 2022 angenommenen Verfassung und Satzung besteht das «Hauptziel der Gemeinschaft der Kirchen im Ökumenischen Rat […] darin, einander zur sichtbaren Einheit in dem einen Glauben und der einen eucharistischen Gemeinschaft aufzurufen, die ihren Ausdruck im Gottesdienst und im gemeinsamen Leben in Christus findet, durch Zeugnis und Dienst an der Welt, und auf diese Einheit zuzugehen, damit die Welt glaube.» Als zentraler Meilenstein für das ökumenische Ziel kirchlicher Einheit gilt die Dritte Vollversammlung des ÖRK in Neu-Delhi 1961. Der Bericht der Sektion Einheit formuliert programmatisch: «Wir glauben, dass die Einheit, die zugleich Gottes Wille und seine Gabe an seine Kirche ist, [1.] sichtbar gemacht wird, indem [2.] alle an jedem Ort, die in Jesus Christus getauft sind und ihn als Herrn und Heiland bekennen, durch den Heiligen Geist [3.] in eine völlig verpflichtete Gemeinschaft geführt werden, die sich zu dem einen apostolischen Glauben bekennt, das eine Evangelium verkündigt, das eine Brot bricht, sich im gemeinsamen Gebet vereint und ein gemeinsames Leben führt, das sich [4.] in Zeugnis und Dienst an alle wendet. Sie sind zugleich vereint mit der gesamten Christenheit an allen Orten und zu allen Zeiten in der Weise, dass Amt und Glieder von allen anerkannt werden und [5.] dass alle gemeinsam so handeln und sprechen können, wie es die gegebene Lage im Hinblick auf die Aufgaben erfordert, zu denen Gott sein Volk ruft.» Anschliessend wird näher ausgeführt: «In Jesus Christus, Gottes Sohn und unserem einzigen Mittler, haben wir Gemeinschaft mit Gott. Er hat uns diese Gabe geschenkt, indem er in unsere Welt kam. Die Einheit ist nicht unser eigenes Werk, sondern indem wir die Gnade Jesu Christi empfangen, sind wir eins in ihm. Wir sind dazu gerufen, die Gabe der Einheit dadurch zu bezeugen, dass wir unser Leben als lebendiges Opfer zu seiner Ehre darbringen. Dass wir in der Spaltung leben, zeigt, dass wir Gottes Gabe der Einheit noch nicht erkannt haben, und wir bekennen vor ihm unseren Ungehorsam. Unsere Gemeinschaft mit Gott ist ein Geheimnis, das höher ist als unsere Vernunft und das unsere Bemühungen zu Schanden macht, es angemessen zum Ausdruck zu bringen.»

Das Einheitsverständnis kombiniert die seit dem Nicaenum verbindlichen notae ecclesiae (Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität) mit den reformatorischen Kennzeichen der Kirche (reine Evangeliumsverkündigung und rechte Sakramentsverwaltung). Auch wenn betont wird, dass keine «Definition der Kirche» angestrebt sei, die «bestimmte Lehren von der Kirche voraus[setze]», beruht die Zustimmungswürdigkeit auf der unverkennbaren Nähe zu den altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnissen und Bekenntnisschriften. «Die vier nizänischen Attribute zeigen, wie die Kirche ist bzw. sein soll. Rechte Verkündigung und Sakramentsverwaltung dagegen lassen erkennen, wo die Kirche ist.» Der biblische Ruf zur Einheit, der in Gottes versöhnendem Handeln in Jesus Christus und seiner Liebe gründet, und zum Gehorsam, um der Einheit sichtbar Ausdruck zu verschaffen, zieht sich durch alle Facetten und Etappen der ökumenischen Bewegung. Die grossen neutestamentlichen Aufrufe zur Einheit kehren – wie Lukas Vischer bemerkt hat – «ja in ökumenischen Gottesdiensten mit einer Regelmässigkeit wieder, die nahezu Überdruss erzeugt, z.B. Joh 17,20–21; Röm 15,7; Eph 4,1–6».

Freilich stellt sich die Einheitsfrage nicht nur in den urchristlichen Gemeinden (Jerusalem, Antiochien, paulinische Missionsgemeinden), sondern auch in historischer Perspektive (apostolische, nachapostolische Zeit) in unterschiedlicher Weise. Seit den Anfängen der ökumenischen Bewegung stehen vier Fragen im Zentrum:

  1. Aus welchen konstituierenden Elementen besteht die angestrebte Einheit?
  2. Wie viel und welche Form der Übereinstimmung ist dafür notwendig?
  3. Wie viel Diversität ist möglich und legitim?
  4. Wie soll die Einheit zum Ausdruck kommen?

Als Antworten haben sich drei prominente Einheitskonzepte herauskristallisiert: (1.) Das Konzept der organischen Einheit, das die Bewegung «Faith and Order» voraussetzt, nach dem die sichtbare Einheit der Kirche in der konfessionsrelativierenden Übereinstimmung im Bekenntnis zu Christus und in den Hauptartikeln des Glaubens (Sakramente, Ordination, Lehre und Handeln) besteht. (2.) Das Konzept der Einheit in versöhnter Vielfalt hält an den Konfessionskirchen fest und setzt stattdessen auf gegenseitige Versöhnung, Anerkennung und die Bereitschaft zum gemeinsamen Zeugnis. (3.) Das Konzept der konziliaren Gemeinschaft fokussiert auf den gemeinsamen Auftrag der Kirche, für den die kirchliche Einheit den Massstab bildet. Der Einheitsbegriff gehört unverzichtbar zum ökumenischen Vokabular. Aber der sprachliche Konsens täuscht – wie Vischer an anderer Stelle festhält – häufig darüber hinweg, dass die formelhaften Übereinstimmungen in ökumenischen Texten «zwar von allen Anwesenden in irgendeiner Weise angenommen werden können, für die Einzelnen aber Verschiedenes bedeuten. Die Übereinstimmung besteht dann zwar in den Worten, aber nicht oder jedenfalls nur unvollständig in der Sache, und der Sachkundige versteht sofort, wie sehr gerade solche Sätze Ausdruck der fortdauernden tiefen Spaltung sind.» Sachlich angemessener ist es deshalb, nicht mit einem theologischen Einheitsverständnis zu beginnen, sondern damit, worauf solche theologischen Definitionen reagieren: bei der Wahrnehmung und Beschreibung von Uneinheitlichkeit, Störungen, Hindernissen und Spaltungen.

2.2 Störungen der Einheit

Die Geschichte der ökumenischen Bewegung besteht grob aus vier Phasen: (1.) Vor dem Ersten Weltkrieg standen die aus der Kirchengeschichte geerbten konfessionellen Trennungen der weltweiten Kirche im Vordergrund (vgl. die Missionskonferenz in Edinburgh 1910; die Weltkonferenzen für Glaube und Kirchenverfassung in Lausanne 1927 und in Edinburgh 1937); (2.) nach dem Zweiten Weltkrieg rückten die politischen Trennungen vor allem im Rahmen des West-Ost-Konflikts ins Zentrum (vgl. die Weltmissionskonferenzen in Whitby 1947 und in Willingen 1952); (3.) seit den späten 1960er Jahren verschiebt sich der geopolitische Fokus auf die wirtschaftlichen und politischen Ungerechtigkeiten zwischen den Ländern der Nord- und Südhemisphäre (vgl. die ÖRK-Vollversammlung in Uppsala 1968) und (4.) mit dem cultural turn in den 1990er Jahren wird der politisch-ökonomische Gerechtigkeitsfokus durch postkoloniale Identitätsperspektiven ergänzt oder neu gewichtet (vgl. die Gründung der Ecumenical Association of Third World Theologians, EATWOT 1976).

«Aus den Opfern der Globalisierung als kirchliche Themen werden Subjekte kirchlicher Gerechtigkeitsforderungen.»

Die Geschichte der Ökumene präsentiert sich als Nacheinander unterschiedlicher Phasen der Zerstrittenheit, Spaltung und als Nebeneinander höchst ungleicher politischer, ökonomischer und kultureller Verhältnisse. Nüchtern betrachtet wird die ökumenische Bewegung angetrieben durch immer neue Faktoren der Ungleichheit, die durch die Annäherungsprozesse nicht aufgehoben werden. Die Perspektiven auf Ungleichheit gewinnen in dem Mass an Einfluss, wie von einer theologischen Einheit der Kirche hinter ihrer sichtbaren Pluralität auf eine positivierte Einheit der Kirche in ihrer sichtbaren Praxis umgestellt wird. Dabei kommt es aus handlungstheoretischer Sicht zu einer doppelten Verschiebung: (1.) Die Einheitsforderung verlagert sich zunächst von den kirchlichen Handlungsabsichten und -motiven auf die Handlungsfolgen und -konsequenzen kirchlicher Praxis. Das Verbindende besteht dann weniger in einem einigenden Bekenntnis und Selbstverständnis als vielmehr in einer geteilten Praxisorientierung und -ausrichtung, die wesentlich die soziale Umwelt und die politischen Verhältnisse der Kirche (und deren Rückwirkungen auf sie) betreffen. (2.) Anschliessend kommen die theologisch-ethischen und politischen Massstäbe kirchlicher Praxis selbst auf den Prüfstand und werden zum Gegenstand antihegemonialer und postkolonialer Kritik. Die in den 1960er Jahren aufkommenden Themen globaler ökonomischer, politischer und ökologischer Ungerechtigkeiten (häufig verbunden mit einer antikapitalistischen Systemkritik) werden seit den 1980er Jahren gleichzeitig radikalisiert und gebrochen durch die quer dazu verlaufenden herrschaftskritischen Debatten über die Subjekte von Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Gewalt. Damit einher geht eine (zumindest theoretische) Verschiebung des kirchlichen Diskussionsfokus: Aus den Opfern der Globalisierung als kirchliche Themen werden Subjekte kirchlicher Gerechtigkeitsforderungen.

Der Übergang von einer die kirchliche Lehre betreffenden Perspektive zu einer theologisch-ethischen Sicht, die auf die institutionelle Kirche und ihre politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen fokussiert, gilt zwar längst als ökumenischer Allgemeinplatz, war aber historisch steinig und ist konzeptionell anspruchsvoll und kontrovers. Aufschlussreich ist der Bericht einer Sonderkommission anlässlich der zweiten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Edinburgh 1937 über «nicht-theologische Faktoren», die die Einheit der Kirche fördern und behindern. Genannt werden: (1.) das Verhältnis von Kirche und Staat; (2.) die Bedeutung der Nation für die Entwicklung und das Selbstverständnis der Kirchen; (3.) die Bedeutung von Ethnie und Rassismus für die Spaltung und Entstehung separater Kirchen; (4.) die Sprache als Organisationskriterium für Kirchen; (5.) die Bedeutung von sozio-ökonomischer Stratifizierung (Class) für die Ausdifferenzierung von Gemeinden und Konfessionen; (6.) unterschiedliche Moralvorstellungen als Bedrohungen und Hemmnisse kirchlicher Einheit; (7.) die Bewahrung der Eigenständigkeit kleiner Gemeinschaften; (8.) eine verbreitete Abgrenzungsmentalität (Sectarian Mind) zu Bewahrung eines ursprünglichen Glaubens; (9.) ökonomische Lagen und Besitzverhältnisse (Vested Intersts); (10.) der Einfluss unterschiedlicher Bildungsniveaus und Denkweisen; (11.) die Gegenbewegung von wissenschaftlicher und kultureller Universalisierung und kirchlicher Fragmentierung.

Die Autoren gehen mit Verweis auf das paulinische Bild von der christlichen Gemeinde als Ölbaum (Röm 11,17–24) aus von einem «stetigen Austausch über die vermeintlichen Grenzen zwischen Christentum und Kultur hinweg […]. Die Initiative für diesen Austausch liegt mal auf der einen, mal auf der anderen Seite. Dieser wechselseitige Einfluss hat über die Jahrhunderte hinweg zu einer fortwährenden Neuausformulierung des christlichen Glaubens geführt – in einer sich ständig wandelnden theologischen Sprache, die in jeder Epoche das jeweilige ‹Vernakuläre› (die jeweils vorherrschende Denkweise und Ausdrucksform) widerspiegelt. Dieses ‹Vernakuläre› betrifft nicht nur die Sprache an sich, sondern auch die zugrunde liegenden Denkstrukturen und Weltanschauungen, die in der jeweiligen Kultur zu einer bestimmten Zeit dominieren.» Der Bericht endet mit vier Fragen: (1.) Sind die Faktoren so nebensächlich, dass sie vernachlässigt werden können? (2.) Entfernen sich die Faktoren so weit von den ökumenischen Hauptanliegen, dass sie keine kirchliche Bedeutung haben? (3.) Wenn die Faktoren umgekehrt als relevant anerkennt werden, mit welcher Priorität stellen sie sich? (4.) Gibt es Faktoren, die von den Kirchen als Themen langfristig aufgenommen werden sollten?

Die Fragen stiessen damals auf keine nennenswerte Resonanz. Auch auf die Agenda der dritten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Lund 1952 schafften sie es nur aufgrund einer Initiative des britischen Theologen Charles Harold Dodd, der massgeblich an der Vorbereitungstagung «Social and Cultural Factors in Church Divisions» in Bossey 1951 beteiligt war. In einem Brief hatte Dodd gefordert, die kirchliche Aufmerksamkeit verstärkt auf die unbewussten und unausgesprochenen sozialen, kulturellen und psychologischen Faktoren zu lenken, die sich der ökumenischen Einheit faktisch in den Weg stellen. Er identifiziert fünf zentrale Aspekte, die die theologischen Diskussionen wesentlichen beeinflussen: (1.) eine tiefverwurzelte Loyalität und ein korporativer Stolz (corporate pride) auf die eigene Konfession, die die theologischen Überzeugungen überlagern und theologisch mögliche Kompromisse verhindern; (2.) die sozialen und politischen Hintergründe für Kirchenspaltungen (vgl. die Spaltung zwischen Anglikanern und Nonkonformisten in England, die bis zu den Bürgerkriegen des 17. Jahrhunderts zurückreichen; das deutsche Luthertum als Teil der nationalen Identität oder die Verbindung von religiösen Überzeugungen, politischen und sozialen Ideologien in den USA); (3.) Angst vor Verlust der konfessionellen Identität und die einseitige Betonung der bewahrenden Funktion und Bedeutung der eigenen Kirche; (4.) Trägheit des eigenen status quo sowie Bequemlichkeit gegenüber und Angst vor Veränderungen; (5.) bürokratische und administrative Kirchenstrukturen einerseits und die Befürchtung vor dem Verlust finanzieller und wirtschaftlicher Privilegien andererseits, die eine Mentalität der Selbsterhaltung und Veränderungsresistenz fördern. Dodd resümiert: «Auf jeder Seite gibt es Standards, Ideale, Gewohnheiten, Überzeugungen und Vorurteile, die zusammen eine unverwechselbare Denkweise bilden und weitgehend unsere erste Reaktion auf jede auftretende Frage bestimmen. Diese Mentalität hängt nur teilweise, vielleicht sogar nur in geringem Mass, von spezifischen religiösen Überzeugungen oder Traditionen ab, ist jedoch eng mit ihnen verknüpft und beeinflusst sie fortlaufend. Wir müssen uns immer wieder fragen, ob unsere Beharrlichkeit in der Verteidigung bestimmter Positionen tatsächlich auf etwas anderem beruht als einer rein doktrinären Logik.»

Die beiden im Vorfeld der Weltkonferenzen von Edinburgh und Lund entstandenen Berichte hatten nur marginale Wirkungen. Zwar rückten seit Gründung des ÖRK 1948 (vor allem im Kontext der Friedens- und Gerechtigkeitsfrage) die ungleichen und häufig prekären politischen und ökonomischen Verhältnisse der weltweiten Kirche zunehmend ins Zentrum, aber die im Rahmen von Faith and Order aufgeworfenen Fragen nach der Verhältnisbestimmung von politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren einerseits und theologischen, ekklesiologischen und theologisch-ethischen Grundlagen andererseits blieben eine Randerscheinung. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Michael Weinrich diagnostiziert ein ökumenisches Theologiedefizit, das in der Toronto-Erklärung von 1950 angelegt sei, die den Mitgliedkirchen des ÖRK ihre «eigene Auffassung von der Kirche» garantiert. Damit würde einer kirchlichen Doppelexistenz Vorschub geleistet, die auf der einen Seite zu einer theologisch-ekklesiologischen Selbstimmunisierung des eigenen Kirchensystems führe («die konfessionelle ‹Heimat› [als] ein selbständig lebensfähiges Gesamtgefüge […], das tendenziell auf praktisch demonstrierbare Unabhängigkeit angelegt ist») und auf der anderen Seite das Faktum konfessioneller Pluralität über die kirchlichen Aussenbeziehungen abarbeite (um damit «ein positives Zusammenleben [zu] ermöglichen, ohne sich gegenseitig in die inneren Angelegenheiten einzumischen bzw. die inneren Angelegenheiten aufeinander abzustimmen»). «Missgunst und Konkurrenz wurden durch die kirchenpolitisch herbeigeführten äusseren Beziehungen weitgehend zurückgedrängt und durch ein mehr abstraktes als klar konturiertes Wir-Gefühl ersetzt». Das «Wir-Gefühl» beruhe nicht auf einer – wie immer vorgestellten – Einheit, sondern auf einem Konvergenzkonstrukt, dass alle Kirchen so lässt, wie sie sind, und lediglich bei den Begegnungen auf Toleranz und Indifferenz umstellt.

Dietrich Ritschl hat umgekehrt auf den eigentümlichen kirchen- und theologiegeschichtlichen Befund aufmerksam gemacht, dass die Kirchen in ihrer Geschichte bei den wesentlichen theologischen Topoi – Christologie, Trinitätslehre (abgesehen vom Filioque), notae ecclesiae – entweder übereingestimmt hätten, zu einer Einigung gekommen wären oder dieser grundsätzlich nichts im Weg gestanden hätte, ausser bei Fragen der Kirche. Und Ritschl wiederholt die Vermutungen der älteren Kollegen: «Sind sie kulturell und umweltbedingt? Die theologische Zunft neigt bekanntlich dazu, alles und jedes theologisch erklären zu wollen; ihr sind soziologische und kulturphilosophische Analysen und Erklärungsweisen eher fremd. […] Sind die Differenzen […] letztlich oder allerletztlich, zumindest zu einem erheblichen Teil, kulturell und mentalitätsmässig, in philosophisch-verhärteter Fassung erklärbar und darum auch nicht unter Auslassung dieser Dimension behebbar? Oder anders gefragt: sind ‹Lehren›, gerade die geistliche Konstitution und die Sozialgestalt der Kirche betreffend, nicht ursprünglich situativ zu verstehen, so wie wenn – ganz zugespitzt gesagt – eine Lehre nur in der 1. Stunde ihrer Existenz wirklich ‹wahr› ist, danach, in der Wiederholung, der wiederholten Anwendung, zur eingefrorenen Perspektive wird?» Ekklesiologische Differenzen begegnen nicht nur auf den Ebenen der dogmatischen Lehren und kulturspezifischen Ausprägungen, sondern auch auf der Ebene der «‹Dichte› der Lehre von der Kirche in einer bestimmten Denomination». Ritschl, der zu den internationalsten Theologen seiner Zeit gehörte, diagnostiziert unterschiedliche Grade, in denen innerhalb einer Konfession oder Denomination «eine theologische oder auch faktisch die Sozialgestalt betreffende Auffassung von Kirche tatsächlich wirksam ist». So steht in der reformierten Schweiz einem ausgeprägten ekklesiologischen Anliegen in den französischsprachigen Kirchen ein nur geringeres Interesse in den deutschsprachigen Kirchen gegenüber. Gegenüber den europäischen Reformierten spielen das Kirchenverständnis und Bekenntnisfragen in den englischsprachigen presbyterianischen Kirchen wiederum eine ungleich grössere Rolle. Zwischen dem Luthertum in Deutschland, Skandinavien und den USA gibt es grosse Unterschiede im Blick auf die Liturgie, die Bedeutung des Abendmahls oder die Einstellung zu kirchlichen Ämtern. Und die US-amerikanischen Nord- und Südstaaten Baptisten stimmen darin überein, dass sie abgesehen von der Glaubenstaufe keine Übereinstimmung aufweisen.

2.3 Das Subjekt der Einheit

In den ökumenischen Debatten über kirchliche Einheit treffen biblisch-christliche Gemeinschaftsvorstellungen und -normen auf komplexe und heterogene historische Entwicklungen, Perspektiven, Selbstverständnisse, theologische Legitimationserzählungen, Ideologien, Machtkonstellationen und Herrschaftsansprüche. «Einheit» wird entweder als bedingendes Kriterium von Kirche vorausgesetzt oder als bedingte ekklesiologische Zielperspektive behauptet. Das Problem besteht weniger in den diametralen Ausgangspunkten als darin, dass sich beide Zugänge neutralisieren oder blockieren. Der unbefriedigende und nüchtern betrachtet unbewegliche Streit über kirchliche Einheit als Regel oder Ausnahme wirft die – auf den ersten Blick häretisch anmutende – Fragen auf: Wozu überhaupt Einheit? Steht und fällt die Ökumene mit ihrem Einheitsfokus? Beruht die Einheitsforderung auf einem Missverständnis? Und muss oder kann Einheit biblisch-theologisch anders konzeptionalisiert werden?

Karl Barth hatte auf die Frage nach der kirchlichen Einheit eine eindeutige Antwort: «Was heisst aber: nach der einen Kirche fragen? Um den Zauber des Begriffs der numerischen Einheit und Einzigkeit kann es dabei gewiss nicht gehen und auch nicht um das moralisch-soziologische Ideal der Einheitlichkeit, Einmütigkeit und Eintracht. Wohl aber um den zwingenden Inhalt der Erkenntnis, dass der Herr, der Glaube, die Taufe, Gott Eines, ein Einziges sind über Allen, für Alle, in Allen (Eph. 4,5). Die Einheit an sich tut es nicht. Und alle Ideen und Ideale, die sich uns mit diesem Begriff verbinden mögen, tun es auch nicht. Einheit an sich, auch kirchliche Einheit an sich ist abgefallene und unversöhnte Menschennatur ebenso wie die eigenständigen Vielheiten. […] Man soll die Vielheit der Kirchen aber auch nicht erklären wollen als eine von Gott gewollte und also normale Entfaltung des Reichtums der in Jesus Christus der Menschheit geschenkten Gnade. Woher wissen wir denn, dass dem so ist? […] Man soll die Vielheit der Kirchen überhaupt nicht erklären wollen. Man soll mit ihr umgehen, wie man mit der eigenen und fremden Sünde umgeht. Man soll sie anerkennen als Faktum. […] Man soll sie als Schuld verstehen, die wir selbst auf uns nehmen müssen, ohne uns selbst von ihr befreien zu können.»

Ernst Wolf eröffnet mit der Schlusspassage des Barthzitats seine im Gründungsjahr des ÖRK verfasste Anfrage an die ökumenische Grosserzählung von der verlorenen Einheit der Kirche. Personen sind nicht die «Herren» der Kirche und deshalb nicht die Subjekte ihrer Einheit. Die Behauptung eines einheitlichen historischen Ursprungs der Kirche diene lediglich als konfessionelle Begründungsfigur, um die eigene Kirche als einzig legitime Vertreterin dieser Einheit zu behaupten. «Der Satz von der ‹verlorenen Einheit der Kirche führt in die Irre, wenn er das historische Faktum einer ausweisbaren Einheitskirche wenigstens in den Anfängen der Geschichte der Kirche meint. […] Die religiös-kultische Einheit der ältesten Christenheit ist, wenn man sie als historische Gestalt meint, eine Fiktion. Ihr Bewusstsein, der Welt gegenüber als ‹katholische Kirche›, als Volk Gottes, die in jeder Gemeinde repräsentierte έκκλεσία ϑεοῡ zu sein, ist um so kräftiger, trotz allen Spannungen, die im nachapostolischen Zeitalter zunehmen. Die Einheit gegenüber der Welt ist weder in einer Einheitlichkeit der Lehre noch des Kultus noch der Verfassung begründet und gestaltet.» Von einer kirchlichen Einheit als historische Grösse könne erst mit der Indienstnahme der Kirche für die Politik der Reichseinheit unter Konstantin gesprochen werden, mit der die konstitutive Vereinheitlichung des Kultus, der Lehre, des Bekenntnisses und der Verfassung eingesetzt habe. Wolf resümiert aus reformierter Sicht: «Die Kirche wird aus der Geschichte, die sie mit dem Einheitsgedanken hinter sich hat, lernen dürfen, dass für sie die Frage falsch gestellt und verhängnisvoll beantwortet ist, wenn die Einheit als Einheit der Gestalt, als ein Strukturprinzip in Blick genommen wird. Dann tritt an die Stelle der lebendigen und trotz allen verschiedenen Formen einheitlichen confessio des Glaubens und des Gehorsams der Konfessionalismus – auf Kosten der wahren Einheit, oder der Relativismus – auf Kosten des existenziellen Bekennens, und mit beiden zugleich herrschen ihnen verwandte, strukturell gedachte Einheitsprinzipien. Sie alle leben dabei von dem vermessenen Anspruch, das Reich Gottes zu ‹bauen›, statt es als verheissene Gegenwärtigkeit seines himmlischen Königs im Glauben zu empfangen und es im Gehorsam gegen Christus als ‹Mitwirker Gottes› im Handeln in und an dieser Welt zu bezeugen.»

Die Äusserungen von Barth und Wolf bilden die theologische Kehrseite zu den kritischen Beobachtungen der Faith and Order-Berichte sowie von Weinrich und Ritschl. Die Frage nach den ausgeblendeten Aspekten und Faktoren ökumenischer Einheitskonzepte verschiebt sich damit hin zu der Frage, ob die ökumenische Einheitsidee nicht auf einem theologischen Missverständnis beruht, das von theologischen Aussagen über Christus und die von ihm konstituierte Gemeinde auf die Merkmale der historisch-kontingenten Institution «Kirche» schlussfolgert. So selbstverständlich Brüche und Störungen der kirchlichen Einheit aus ökumenischer Sicht beklagt werden, so unklar ist, worauf die Kritik und das Engagement zielen. Richten sie sich (1.) auf oder gegen begründete theologische Dissense, (2.) auf oder gegen theologische Scheinkonflikte, (3.) auf oder gegen aussertheologische, politische, kulturelle oder ökonomische Aspekte realexistierender Kirchen, (4.) auf oder gegen die Bewahrung konfessioneller Identitäts- und Kohärenzvorstellungen, (5.) auf oder gegen die Verteidigung historischer, kirchenpolitischer und wirtschaftlicher Privilegien? Ein unverstellter, ambivalenzsensibler Blick kommt nicht um die Feststellung herum, dass die ökumenische Bewegung durch sehr gegenläufige Motive, Intentionen und Absichten in Gang gehalten wird, die teilweise den Eindruck von kirchlichen Parallelwelten vermitteln. Die seit den 1970er Jahre sukzessiv verstärkte moralische Ausrichtung löst die theologischen Antagonismen und konfessionellen Feindbilder nicht auf, sondern verschiebt sie auf die Ebenen von Politik und Ethik.

Die in der Kirchengeschichte etablierten Konflikt- und Abgrenzungskonzepte setzen eine Folgerelation zwischen dem einen Christus und seiner einen Kirche und der kirchlichen Einheit bzw. universalen Gemeinschaft voraus. Zugleich dokumentieren die unterschiedlichen Anlässe und Gründe für Kirchenspaltungen, Konfessionsbildungen und die Bekämpfung und Unterdrückung von Minderheitsgemeinschaften die kontingenten, zufälligen oder auf eigene Vorteile spekulierenden Frontstellungen der Einheits- und Gemeinschaftsidee. Häufig ging und geht es dabei weniger um konfligierende theologische Positionen als um deren unterschiedliche Gewichtung (adiaphora vs. status confessionis). Über die Kriterien und Massstäbe kirchlicher Einheit und ihrer Gefährdungen hat niemals Einigkeit bestanden, sodass der Einheitsgedanke sich stets als partikularer, heterogener und – politisch gewendet – hegemonialer artikuliert hat. Der Einheitsforderung korreliert mit den eigenen Exklusivitätsansprüchen und der institutionellen Position, diese durchzusetzen, und besteht unabhängig von einem allgemein geteilten Verständnis theologischer Einheitskriterien. Die Verschiebung der Einheitsfrage von der theologischen auf die institutionelle Ebene, also der Kurzschluss von theologischer Wahrheit und institutioneller Macht, gehört zu den bis heute durchgehaltenen Irrtümern der Kirchen- und Theologiegeschichte, von der auch die ökumenische Bewegung nicht frei ist.

3. Gemeinschaft als ökumenischer Leitbegriff

3.1 Kirchliche Gemeinschaft als Koinonia

Im bereits erwähnten Einheitsbericht der Dritten Vollversammlung des ÖRK in Neu-Delhi 1961 wird der Gemeinschaftsbegriff zur Korrektur eines hegemonielastigen Einheitsverständnisses eingeführt: «Unsere Gemeinschaft mit Gott ist ein Geheimnis, das höher ist als unsere Vernunft und das unsere Bemühungen zu Schanden macht, es angemessen zum Ausdruck zu bringen. […] Das Wort ‹Gemeinschaft› (koinonia) wurde gewählt, weil es aussagt, was die Kirche in Wahrheit ist. ‹Gemeinschaft› setzt eindeutig voraus, dass die Kirche nicht lediglich eine Institution oder Organisation ist. Sie ist die Gemeinschaft derer, die durch den Heiligen Geist zusammengerufen sind und in der Taufe Christus als Herrn und Heiland bekennen. Sie sind darum ihm und einander ‹völlig verpflichtet›. Eine solche Gemeinschaft bedeutet für diejenigen, die daran teilhaben, nichts weniger als einen erneuerten Willen und Geist, eine volle Beteiligung am gemeinsamen Lob und Gebet, miteinander geteilte Busse und Vergebung, miteinander geteilte Leiden und Freuden, gemeinsames Hören auf das gleiche Evangelium und Antworten im Glauben, Gehorsam und Dienst, Sich-Vereinigen in der einen Sendung Christi in der Welt, eine sich selbst vergessende Liebe zu allen, für die Christus starb, und die versöhnende Gnade, welche alle Mauern der Rasse, Hautfarbe, Kaste, Stammeszugehörigkeit, des Geschlechts, der Klasse und Staatsangehörigkeit zerbricht.» Bereits mit der ersten Erwähnung des Gemeinschaftsbegriffs in einem ÖRK-Dokument setzt eine richtungsweisende Verschiebung oder Ergänzung der theologisch bestimmten Einheit durch ein moralisch konnotiertes Gemeinschaftsverständnis ein, wie die appellative Aneinanderreihung der Ausdrücke «völlig verpflichtet», «teilhaben», «Willen», «miteinander geteilte Busse und Vergebung», «Gehorsam», «Dienst» und «Sich-Vereinigen» anzeigt. Die theologisch höchst anspruchsvolle Spannung zwischen dem Pathos der Berufung (Objekt) und dem Aktiv der moralischen Forderung (Subjekt) wird in doppelter Weise ausgeblendet: Einerseits wird das «Geheimnis» Gottes nicht auf die Gnade seines Bundesschlusses mit und seiner Hinwendung zu seiner Schöpfung bezogen, sondern lediglich auf die menschliche Unmöglichkeit, diese Treue Gottes «angemessen zum Ausdruck zu bringen». Andererseits wird aus Schleiermachers bekannter Formel «schlechthinnig abhängig» – «also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, dass wir uns unserer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe besagen will, als in Beziehung mit Gott bewusst sind» – das moralische Indikativ-Imperativ-Schema «darum ihm und einander völlig verpflichtet» – das sich auf die reformatorische Abfolge von Evangelium und Gesetz; Rechtfertigung und Heiligung oder Glaube und Werke beruft. Das «darum» folgert die totale Verpflichtung aus der «Gemeinschaft derer, die durch den Heiligen Geist zusammengerufen sind und in der Taufe Christus als Herrn und Heiland bekennen».

Spätere Äusserungen, etwa die ekklesiologische Studie von Faith and Order «The Nature of Mission of Church» von 2005, formulieren zurückhaltender, ohne die moralische Stossrichtung zu relativieren: «Das biblische Konzept der koinonia ist bei den Bemühungen um ein gemeinsames Verständnis vom Wesen der Kirche und von ihrer sichtbaren Einheit in den Mittelpunkt gerückt.» Koinonia leitet sich biblisch von den Verbalformen «‹etwas gemeinsam haben›, ‹miteinander teilen›, ‹teilnehmen›, ‹teilhaben an›, ‹gemeinsam handeln› oder ‹in einer vertragsmässigen Beziehung stehen, die Verpflichtungen gegenseitiger Rechenschaft einschliesst›» und steht wesentlich für die vier Aspekte «Communio, Teilhabe, Gemeinschaft, Miteinander-Teilen». Mit Blick auf die Schöpfungsgeschichte wird Koinonia «als eine angeborene Fähigkeit zu und Sehnsucht nach Gemeinschaft mit Gott, miteinander und mit der Schöpfung, deren Haushalter sie sind (vgl. 1.Mose 1,2)» verstanden, aus der die «Integrität» der gesamten Schöpfung «in der koinonia mit Gott» folge. «Gemeinschaft wurzelt in der Schöpfungsordnung selbst und wird teilweise in den natürlichen Beziehungen von Familie und Verwandtschaft, von Stamm und Volk verwirklicht. […] Weil koinonia eine Teilhabe am gekreuzigten und auferstandenen Christus ist, gehört es auch zum Auftrag der Kirche, die Leiden und Hoffnungen der Menschheit zu teilen.»

3.2 Antiliberaler Essentialismus

Die in ökumenischen Zusammenhängen übliche formelhafte und appellative Sprache erschwert eine theoretisch-methodische Reflexion des Gemeinschaftskonzepts. Deshalb soll lediglich auf ein konzeptionelles Problem hingewiesen werden. Das Koinonia-Modell wird allgemein als Fortschritt gegenüber theologischen Einheitsmodellen und als egalitär-emanzipatorischer Aufbruch verstanden, wie drei stellvertretende Voten verdeutlichen.

André Birmelé wertet den Koionoia-Gedanken als «unbestreitbar[es …] Zeichen für ein wirkliches Voranschreiten der Ökumenischen Bewegung. Er bezeichnet einen ekklesiologischen Fortschritt. […] Die Kirchen haben gemeinsam wiederentdeckt, dass sie eine Wirklichkeit leben und ausdrücken, die ihnen durch den Heiligen Geist geschenkt ist und die über ihre historischen institutionellen Ausdrucksformen hinausgeht.» Melanie A. May betont das mit der Koinonia verbundene Engagement, «im Dialog mit Personen zu bleiben, die unterschiedliche kulturelle und kirchliche Perspektiven und Traditionen vertreten, selbst im Fall ernsthafter Meinungsverschiedenheiten über Glauben und Praxis». Anstelle der Frage: «Was können wir gemeinsam sagen?» gehe es heute darum: «Was hält uns zusammen, wenn wir in die Tiefen unserer Differenzen vordringen?» Und Simone Sinn hält in einem aktuellen Überblickartikel fest: «Charakteristisch für dieses Verständnis von Gemeinschaft ist, dass es nicht allgemeine Sozialität, sondern konkrete Relationalität beschreibt. Damit bleibt das Reden von Vielfalt nicht allgemein, sondern wird zum konkreten Anderssein. Zugleich wird dieses Anderssein als schon immer in Beziehung stehend verstanden. Beziehung entsteht also nicht sekundär und ist nicht optional, sondern bereits vorgängig gegeben und konstitutiv. Was damit aufgetragen ist, ist die wechselseitige Anerkennung und partizipative Gestaltung verbindlicher Beziehung In diesem Verständnis von Gemeinschaft steht nicht die Frage von Inklusion oder Exklusion im Mittelpunkt, also: Gehört der andere zu mir oder nicht? Sondern die Frage nach der Gestaltung von Beziehungen: Wie gestalte ich meine Beziehung zum anderen? Wie gestaltet er die Beziehung zu mir? Diese Frage gilt es gerade inmitten der vielfältigen Asymmetrien in der weltweiten Ökumene zu beantworten.»

Die mit dem Koinonia-Modell verbundenen Ansprüche sind ambitioniert. Gemäss den drei Voten steht es für: (1.) Institutionenkritik, (2.) Differenzsensibilität, (3.) Dissenstoleranz, (4.) Beziehungs- und Alteritätsorientierung, (4.) Partizipation und (5.) Egalität. Nun zeigt ein kurzer Blick in die politische Theoriegeschichte, dass die genannten Eigenschaften und Zielsetzungen dem Liberalismus und nicht dem – in den 1980er Jahren als Gegenspieler inszenierten – Kommunitarismus zugeschrieben werden. Aus politiktheoretischer Sicht gehen die ökumenischen Anliegen paradoxerweise nicht mit dem prominent vertretenen Gemeinschaftsfokus zusammen. Irreführend ist auch die von Sinn behauptete Überwindung des Inklusions-Exklusions-Schemas, weil damit eine fundamentale Konstitutionsbedingung von Gemeinschaft angegriffen wird. Deshalb trifft schliesslich auch der von May betonte Zusammenhalt im Dissens nicht zu. Auch engagierte ökumenische Stimmen konstatieren im Gegenteil eine Zunahme der ethischen Kontroversen, die teilweise an die Stelle der ehemaligen theologischen Konflikt- und Sprengpotentiale getreten sind. Die fünfte Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Santiago de Compostela 1993 stellte die Frage, «[o]b umstrittene ethische Probleme kirchentrennend sein müssen». Dort zeigte sich, dass die «ethischen Probleme […] als kontroverser empfunden [wurden] als die klassischen Lehrfragen». Die Konsequenz bestätigt die Bedeutung der – oben erwähnten – konfliktträchtigen «ausser-theologischen Faktoren», die die ökumenische Bewegung entweder ignoriert oder mit einem in den Schöpfungsordnungen angelegten essentialistischen Gemeinschaftsdrang zu kompensieren versucht (hat). Wäre es so, gäbe es zwar Dysfunktionalität und Abweichung, aber kein ernsthaftes Problem. Übersehen wird, dass die Kategorie eines ursprünglichen wechselseitigen Angewiesenseins vormoralischen Charakter hat und nicht aus einer moralischen Forderung resultiert. Schöpfungstheologisch gesprochen kommt die Moral mit dem Sündenfall in die Welt, sie ist das Problem und nicht seine Lösung.

3.3 Theo-moralischer Antagonismus

Die Moralisierung der ökumenischen Bewegung speist sich aus sehr heterogenen Quellen. Die drei wirkmächtigsten sind: (1.) ein massgeblich durch die Befreiungstheologie geprägter christlicher Marxismus oder Sozialismus, (2.) eine vor allem von der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen verfochtene fundamentale Globalisierungskritik und (3.) der im Blick auf die weltweite Kirche wachsende Einfluss von charismatisch-neopentekostalen Strömungen. So unterschiedlich (und unvergleichbar) die darunter gefassten Positionen sind, stimmen sie in ihrer antiliberalen Stossrichtung überein, für die drei eng miteinander verbundene Merkmale kennzeichnend sind: (1.) kein positiver Freiheitsbegriff; (2.) ein fehlender oder unterbestimmter Personenbegriff und (3.) ein Mangel an ausgearbeiteten Konzeptionen von Recht und Rechtsstaatlichkeit. Beispielhaft dafür steht ein rückblickender Text von Ulrich Duchrow über die globalisierungs- und kapitalismuskritische Arbeit der ökumenischen Bewegung, in dem er die westeuropäischen Kirchen auffordert: «Wir haben es also im Blick auf die biblischen Kontexte mit einer vergleichsweise analogen Situation zu tun wie im Hellenismus und im Römischen Reich, nur viel gravierender, weil den ganzen Erdball gefährdend. Auf jeden Fall werden in dieser Situation also ekklesiologische Optionen im Kontext der spätantiken Imperien für den Öffentlichkeitsauftrag der Kirche prioritär relevant werden: Klare Verwerfung des Systems verbunden mit Verweigerung, Hoffnung auf Gottes Alternative, Leidensbereitschaft, Beginn des Baus alternativer Gemeinschaften als Kontrastgesellschaft und deren Vernetzung, Bündnisbildung mit allen transformatorischen Kräften in der Gesellschaft. […] Obwohl die Alternativen zur kapitalistischen Weltwirtschaft lokal-regional beginnen, reicht diese Ebene nicht aus. Die makroökonomischen Strukturen müssen mittelfristig so beeinflusst werden, dass sie postkapitalistisch organisiert werden. Das betrifft vor allem Weichenstellungen in den Bereichen Geldordnung, Eigentumsordnung und Arbeit, die alle auf das Gemeinwohl statt auf Kapitalakkumulation ausgerichtet werden können und müssen.»

Der Theologe und Gründer von «Kairos Europa», eines befreiungstheologischen und antikapitalistischen ökumenischen Netzwerks, das aus dem kirchlichen Engagement gegen das Apartheidregime in Südafrika hervorgegangen ist, fordert einen politischen Systemwechsel und diagnostiziert die westlichen Kirchen auf der falschen Seite, die diese nur durch die Umstellung auf antikapitalistische Kontrastgemeinschaften überwinden könnten. Der Heidelberger Sozialethiker gehört zu den massgeblichen Kräften, die Michael Hardts und Antonio Negris «Empire» als Welterklärungsmodell für den Reformierten Weltbund (RWB; heute Weltgemeinschaft reformierter Kirchen, WGRK) durchgesetzt und – via Accra-Erklärung, die anschliessend als Bekenntnis stilisiert wurde – für verbindlich erklärt haben. Deutlich illustriert die aus dem Klassenkampf entlehnte antagonistische Sprache, dass sie die kirchliche Gemeinschaft nicht über geteilte Überzeugungen, sondern über ein verbindendes und als bekenntnis-verbindliches Feindbild definiert. Die Empire-Logik gilt nicht nur dem globalen Kapitalismus, sondern auch den daran beteiligten Institutionen, einschliesslich der Kirchen, sodass die Schlussfolgerung von Sung Kwon Kim zutrifft: «Innerhalb der Ökumene wird mit Empire die westliche Theologie identifiziert. Der Kampf gegen diese Machtstrukturen bzw. Deutungshoheiten könnte ein neuer identity marker innerhalb der Ökumene werden.»

Der WGRK übernimmt Hardt und Negris «Multitude» als Gegenkonzept zum «Empire» und als Programm für die ökumenische Bewegung: «Im schöpferischen Vermögen der Multitude, der Menge, die das Empire trägt, liegt gleichermassen die Fähigkeit, ein Gegen-Empire aufzubauen, den weltweiten Strömen und Austauschverhältnissen eine andere politische Gestalt zu geben. Die Kämpfe gegen das Empire, Angriff und Subversion ebenso wie der Aufbau einer wirklichen Alternative werden sich auf dem imperialen Terrain selbst abspielen – tatsächlich haben diese neuen Kämpfe bereits begonnen. In diesen und zahlreichen weiteren Kämpfen wird die Menge neue Formen der Demokratie und eine neue konstituierende Macht entwickeln, die uns eines Tages durch und über das Empire hinausbringen wird.» Das ist die säkularisierte Rumpfversion vieler biblisch und theologisch angereicherter ökumenischer Äusserungen. Ihre kirchliche Attraktivität beruht auf einer der Empire-Deutung inhärenten Entpolitisierung. Chantal Mouffe bemerkt dazu: «Was in dieser Debatte um die Zukunft der Antiglobalisierung wirklich auf dem Spiel steht, ist die Natur radikaler Politik. Sollte man sie im Modus radikaler Negation vorstellen, als Strategie der Weigerung, sich in existierenden Institutionen zu engagieren, als ‹Exodus›? Oder sollte man anerkennen, dass eine effektiv hegemoniale Politik die Falle abstrakter allgemeiner Negation vermeiden muss, dass eine solche Politik nicht ‹rein› sein kann und immer innerhalb von Institutionen lokalisiert sein muss, um eine Strategie der Desartikulation/Reartikulation zu verfolgen, die von Gramsci als ‹Stellungskrieg› bezeichnet wurde?» Die engagierte Klassenkampfrhetorik von Duchrow und anderen verdeckt nur einen politischen Nomadismus, der zwar an das «wandernde Gottesvolk» der Bibel und Calvins Metapher für die Kirche erinnert, aber nichts damit zu tun hat, weil es dem Gottesvolk und dem Genfer Reformator nicht um eine politische Revolution ging. Der propagierte «Exodus» in eine Gegengesellschaft führt in keine bessere Zukunft, sondern – mit Oliver Marchart – in das Paradox, «dass als radikal politisch gelten soll, was gerade jede ‹Verunreinigung› durch Politik vermeidet und sich jenseits aller politischen und staatlichen Institutionen verortet. Aber wo ist dieses ‹Jenseits› der Politik? Wo ist dieser Ort des ‹reinen› Politischen, des Politischen ohne Politik? Ist er noch von dieser Welt?»

In der Welt lässt sich das Spannungsverhältnis zwischen den beiden hier zur Debatte stehenden politischen Grosserzählungen weder von einer Seite noch nach einer Seite hin auflösen. Dass der stilisierte Antagonismus für den ökumenischen Mainstream eine hohe Attraktivität besitzt, hängt zuerst an den unbestreitbaren himmelschreienden Ungerechtigkeiten in dieser Welt. Er wird aber auch befeuert durch ein in den theologischen Traditionen fest verankertes Denk- und Urteilsschema, in dem die eigene Identitätssuche aufs Engste mit einer Ausgrenzung und Dämonisierung aller anderen verbunden ist. Schliesslich erschweren neo-marxistische Kategorien ein Verständnis für postkoloniale Perspektiven, deren partikulare und diverse Theorien und Praktiken die traditionellen Antagonismen ihrerseits als hegemonial-kolonialistisches Erbe dekonstruieren.

3.4 Das Repräsentationsproblem

Postkoloniale Ansätze begegnen inzwischen vermehrt auch in der deutschsprachig-akademischen Ökumene-Diskussion. Sie unterscheiden sich einerseits in Anliegen und Ausrichtung und andererseits darin, ob sie postkoloniale Perspektiven in die theologischen Traditionen integrieren oder zweite mit ersten dekonstruieren und überwinden wollen. Das dekonstruktive Anliegen richtet sich nicht gegen abstrakte kirchliche Lehren und theologische Positionen, sondern darauf, wie mit Hilfe dieser Lehren und Theorien soziale und politische Macht ausgeübt und legitimiert wird. Ein fundamentaler kirchlicher und theologischer Irrtum besteht darin, diese Machtkonstellation kommunitaristisch einebnen oder eschatologisch aufheben zu wollen. Stattdessen fragen postkoloniale Zugänge nach den Subjekten der Macht und nach der asymmetrischen Aufteilung von Gesellschaften in diejenigen Personen und Gruppen, die Unrecht und Ungerechtigkeit definieren, beurteilen und richten, diejenigen Personen und Gruppen, die Unrecht und Ungerechtigkeit erleiden und diejenigen Personen und Gruppen, die als Opfer von Unrecht und Ungerechtigkeit ausgeblendet und ignoriert werden. Es macht einen Unterschied, ein Unrecht oder eine Ungerechtigkeit, die einer Person angetan wird, nicht anzuerkennen oder nicht wahrzunehmen. Im ersten Fall geht es um eine moralische, im zweiten Fall um eine epistemische Ungerechtigkeit.

Das Kernproblem besteht darin, dass «diejenigen, die Unrecht erfahren, kein Unrecht richten (können)», dass also eine «scharfe Grenze zwischen der Gruppe, die Unrecht richtet, und der Gruppe, die Unrecht erfährt, gezogen wird». Die Trennung zwischen den Opfern von Menschenrechtsverletzungen und den Advokator:innen von Menschenrechten ist für Gayatri C. Spivak «eine Klassentrennung, die vorgibt, eine kulturellen Trennung zu sein, um die ungleiche Verteilung von Handlungsfähigkeit neu zu kodieren». Damit ist kein Frontalangriff gegen «die westlichen Menschenrechte» gemeint. «Das Richten von Unrecht lässt sich nicht so leicht verwerfen. Die Befähigung muss genutzt werden, während die Verletzung neu verhandelt wird.» Im Zentrum steht das Repräsentationsproblem: Wer verfügt über die Urteilskriterien, die Artikulations- und Urteilsmacht sowie gegebenenfalls die Sanktionsgewalt? Die Frage trifft in besonderer Weise das im Christentum stark ausgeprägte, aus dem Handeln und Leiden Christi abgeleitete Stellvertretungsmotiv von «entitled advocats» und «benevolent Western intellectuals».

Wie die in ökumenischen Zusammenhängen verbreitete Rede von Personen und Gruppen «von unten» oder «von den Rändern her» verdeutlicht, konstruiert das moralisch konnotierte und inklusionsorientierte Stellvertretungsmotiv paradoxerweise eine prekäre Kategorie der «Anderen», die in den Postcolonial Studies seit Edward W. Said unter dem Begriff «Othering» problematisiert wird. Othering meint die Adaption der eigenen Identität von den Fremddefinitionen anderer, die im Anschluss an Spivak drei Aspekte umfasst: (1.) Opposition, um die eigene Suprematie in der Fremdbeschreibung der dominierenden Anderen festzustellen; (2.) Repräsentation durch Fremdbeschreibung und -zuschreibung als Asymmetrie, die die Sichtbarkeit der eigenen Identität von der Sichtbarmachung durch Andere abhängig macht; (3.) Self-Othering, bei der die Fremdbeschreibung der Repräsentierenden von den Repräsentierten anerkannt und übernommen wird. «Mit Self-Othering geht immer ein Prozess der Essentialisierung einher, d. h. Eigenschaften, die von Anderen der eigenen Person oder der eigenen Gruppe zugesprochen werden, werden übernommen und zu natürlichen, d. h. unveränderbaren persönlichen Eigenschaften gemacht.» Daraus resultiert die Subalternität von Personen und Gruppen, denen strukturell das Vermögen und die Chance verweigert wird, sich zu artikulieren, gehört, relevant und bestimmend zu werden. Subalterne Personen und Gruppen sind vollständig abhängig von ihrer Repräsentation durch Andere, deren Positionen und Rolleen ausgezeichnet sind durch (1.) ein nicht einklagbares Wohlwollen, (2.) das über keine demokratische Legitimation verfügt und (3.) auf einer «epistemischen Diskontinuität» (Spivak) völlig ungleicher Kommunikationsfähigkeiten und -möglichkeiten von Repräsentierten und Repräsentierenden beruht.

Stellvertretung ist prekär, weil (1.) sie ein Repräsentationsmonopol voraussetzt oder behauptet, (2.) das die Stellvertretungsziele vorgibt und definiert, (3.) die einer people-like-us-Gleichheitslogik folgen und (4.) damit die Inkommensurabilität der stellvertretenden Subjekte mit den Objekten der Stellvertretung unterschlägt. Das Paradox, einerseits die eigene und andere Andersheit nicht universalistisch auflösen und andererseits sie trotzdem wahrnehmen und zur Sprache bringen zu können, ist wesentlich ein kommunikatives, wie Jacques Derrida an einer konstitutiven Antinomie von Sprache (Übersetzung) ausführt: 1. Man spricht immer nur eine einzige Sprache. / 2. Man spricht niemals eine einzige Sprache.» In der ersten These wird die Singularität der Sprache behauptet, die in der zweiten These verneint wird. Sowohl in der These als auch in der Antithese ist von einer einzigen Sprache die Rede, sodass eine Pluralität der Sprachen, in der beliebig von einer in die andere Sprache übersetzt werden könnte, ausscheidet, weil damit der ersten These widersprochen würde. Der Philosoph zieht stattdessen die Konsequenz: «Ein jeder muss fortan unter Eid erklären können: ich habe nur eine Sprache, und das ist nicht die meinige, meine ‹eigentliche› Sprache ist eine Sprache, die ich mir nicht aneignen [inassimilable] kann. Meine Sprache, die einzige, die ich zu sprechen verstehe, ist die Sprache des anderen. […] Man spricht von jeher nur eine Sprache – und sie ist auf asymmetrische Weise, so dass sie immer dem anderen zukommt, einem vom anderen her wiederkehrt, vom anderen bewahrt wird. Sie ist vom anderen gekommen, beim anderen geblieben und zum anderen zurückgekehrt.» Die Assoziation mit Pfingsten drängt sich auf, wenn Derrida die Übersetzung nicht zwischen den Sprachen, sondern in der Sprache verortet, deren Nicht-Selbstidentität notorisch auf Übersetzung angewiesen ist. Dahinter steht die Kritik an einem Universalismus sprachlicher Repräsentation, der die totale Übersetzbarkeit behauptet und damit alle «Spuren von Macht, Unterordnung und Unterdrückung», das heisst alle «Spuren des Unübersetzbaren» und damit die kategorischen Grenzen von Repräsentation nivelliert oder auslöscht. Theologisch gewendet mit dem brasilianischen Befreiungstheologen Pedro Casaldáliga: «Das universale Wort spricht nur Dialekt.»

4. Eine andere Universalität

Rasmus Nagel hat auf der Grundlage seiner Untersuchung zur politischen und theologischen Struktur universaler Wahrheitsansprüche die ökumenische Frage der Katholizität der Kirche aufgeworfen. Die mit dem Ausdruck «Katholizität» charakterisierte Universalität der Kirche lässt grundsätzlich zwei Deutungen zu: (1.) Begriffslogisch verhalten sich «Universalität», «Partikularität» und «Singularität» zueinander, wie die hierarchische Baumstruktur von «Gattung», «Art» und «Exemplar». Die klassische Logik hat keinen Sinn für das Singuläre, sondern reduziert es auf das Exemplar, auf den/die Vertreter:in einer Art. Das Universale und Partikulare bilden eine «schon immer aufeinander bezogene Einheit», die auch in einer theologischen «One-Truth-Ideology» mit einem «one-size-fits-all»-Einheitsuniversalismus (Upolu Luma Vaai) begegnet. (2.) Ereignislogisch folgen «Universalität», «Partikularität» und «Singularität» dem Schema «Regel», «Fall», «Ausnahme». Während der partikulare Fall unter die allgemeine Regel fällt, insofern er einen Anwendungsfall der Regel darstellt, wird die singuläre Ausnahme nicht durch die Regel repräsentiert. Das Schema liegt auch der reformatorischen Rechtfertigungslehre mit ihren vier Heilsmedien (solus Christus, sola gratia, sola fide, sola scriptura) zugrunde.

Nagels Kronzeuge für die zweite Deutung ist Søren Kierkegaard: «Der Glaube ist eben dies Paradox, dass der Einzelne als Einzelner höher ist denn das Allgemeine, ihm gegenüber im Rechte ist, ihm nicht unter-, sondern übergeordnet ist, doch wohl zu merken dergestalt, dass eben der Einzelne, der als Einzelner dem Allgemeinen untergeordnet gewesen ist, nun durch das Allgemeine hindurch ein Einzelner wird, der als Einzelner ihm übergeordnet ist; dass der Einzelne als Einzelner in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten steht. Dieser Standpunkt lässt sich nicht vermitteln; denn alle Vermittlung geschieht gerade in kraft des Allgemeinen; er ist und bleibt in alle Ewigkeit ein Paradox, unzugänglich dem Denken.» Die Universalität ist singulär und die Singularität universal, ohne eine Partikularität dazwischen. Die Pointe zeigt sich in Slavoj Žižeks und Alain Badious Priorisierung von Kreuz und Auferstehung Christi gegenüber seiner Inkarnation: «Die Inkarnation als Denkfigur tendiert dazu, im Rahmen des Gegensatzes von Universalität und Partikularität zu bleiben. Sie antwortet dann auf das Problem, wie Universales (Gott) partikular (‹ein› Mensch) werden kann – oder umgekehrt. Nimmt man jedoch nicht die Inkarnation, sondern Kreuz und Auferstehung als christliches Zentralereignis, so wird deutlich, dass in Christus Gott nicht einfach ‹ein Mensch›, sondern dieser Mensch wird, der aus der (religiösen und politischen) Ordnung exkludiert wird und in dem radikal neu definiert wird, was es heisst, Mensch zu sein. Christus ist nicht der alte, sondern der neue Adam. Seine Exklusion, das Kreuz, ist damit gleichsam die (einzige) Begründung seiner Exklusivität. Der Begriff der Singularität steht für beides: für das inkommensurable Element, das aus der Ordnung ausgeschlossen wird, und für den Ausgangspunkt für eine neue Universalität.»

Das hat weitreichende ekklesiologische Konsequenzen. (1.) Die Universalität der Kirche ist singulär, insofern sie im Ereignis Jesus Christus gründet. (2.) Die Universalität der Kirche ist unverfügbar, insofern sie lediglich der Ort dieser singulären Universalität sein kann. (3.) Die singuläre Universalität geschieht «in einer Weise, die sich kirchlichen Ordnungsversuchen primär entzieht, weil das Ereignis – Gott selbst in Jesus Christus – in diesem Vollzug souverän bleibt.» Aus der entgegengesetzten Perspektive realexistierender kirchlicher Partikularität folgt daraus eine konfessionelle Demut, die nicht ökumenisch überwunden werden kann. Es wäre eine ekklesiologische Kopie des babylonischen Turmbauprojekts, weil – mit Karl Barth – die Abschaffung des zweifellos prekären Konfessionalismus der Überwindung des Sündenfalls gleichkäme. Daraus folgt für den Basler Theologen die Gewissheit und der Anspruch jeder «Sonderkirche», «dass gerade sie: sie in besonders hervorgehobener Weise, in irgend einem Sinn: sie unter allen anderen ganz allein die Kirche, nämlich die authentische, die wahre, die lebendige, die getreue Kirche Jesu Christi sei. […] Eben darin meldet sich nämlich die Einheit der Kirche inmitten ihrer ganzen perversen Vielheit. Ja, wenn man es nur hören wollte, dass sie sich eben darin meldet! Wenn es nur geschähe, dass man eben Jesus Christus allerorts wirklich zu Worte kommen und regieren, seiner Führung, Belehrung und Weisung sich wirklich und anhaltend unterziehen, ihn den Herrn der Kirche sein lassen würde!» Das ökumenische Anliegen – credo unam ecclesiam – kann nicht darin bestehen, die Partikularität zu einer ursprünglichen Universalität zurückzuführen, sondern umgekehrt darin, die singuläre Universalität Jesu Christi in der ganzen Partikularität zu beanspruchen.

Der von Nagel und Barth skizzierte Zugang hat weitreichende Folgen für das ökumenische Koinonia-Verständnis. Wenn Dietrich Bonhoeffers Behauptung, «Einen Gott, ‹den es gibt›, gibt es nicht», zutrifft, dann gilt umso mehr, dass es eine christliche Gemeinschaft, «die es gibt», nicht geben kann. Die Pointe beider Verneinungen richtet sich gegen ein essentialistisches Verständnis, das das Ereignis Jesus Christus in einen Status oder in eine Struktur transformiert. Wie für Kierkegaard die singuläre Universalität nicht unter ein Allgemeines subsumiert werden kann, lässt sich die Begegnung unter dem Kreuz und am Abendmahlstisch nicht als eine Beziehung substanzialisieren: «Die Gemeinschaft hat nicht stattgefunden», sie ist nicht die Essenz des göttlichen Bundes mit seiner Schöpfung und die christliche Gottesdienst- und Abendmahlsversammlung hat keine Natur. Versammlung ist Akt und nicht Status oder Essenz.

Das gegenüber dem Individuum auch in Kirchen attraktive Komplementärnarrativ der Gemeinschaft imaginiert die Geschichte von der verlorenen Homogenität normativ geschlossener Gemeinschaften in der Vergangenheit. Riskant ist das kommunitäre Phantombild nicht nur für die ausgeschlossenen «Anderen», sondern auch für die Gemeinschaftsmitglieder selbst. Weil keine historische Wirklichkeit, sondern eine essentialistische Phantasie von Gemeinschaft aktuelle Sehnsüchte befeuert, wird das «Wir» – um zustande zu kommen – abhängig von den «Anderen», die als negative Kontrastfolie die positive Bestimmung des Eigenen hervorbringt. Am Ende bestimmen «Die», wer «Wir» sind. Das soziale «Wir» ist – mit einem theologisch eigentlich bestens vertrauten Bild – «der Raum selbst, das Eröffnen eines Raums der Erfahrung des Draussen, das Ausser-Sich-Sein». Das «Wir» geht aus keiner vorgegebenen (sozialen) Ordnung oder einer stabilen (normativen) Identität hervor, sondern «besteht im Erscheinen des Zwischen als solchem: du und ich (das Zwischen-uns); in dieser Formulierung hat das und nicht die Funktion des Nebeneinandersetzens, sondern die des Aussetzens». Ökumene als Bewegung ist nicht Gemeinschaft, sondern kontinuierliche, immer neu angestrebte und immer wieder stattfindende Begegnung.

Hier finden Sie den Text mit Fussnoten als PDF.

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Frank Mathwig

Frank Mathwig

Prof. Dr. theol. Beauftragter für Theologie und Ethik

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