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Pfarrmangel in der reformierten Kirche: Krise oder Chance zur geistlichen Erneuerung?
In der Reformierten Kirche spitzt sich der Pfarrpersonenmangel dramatisch zu – und stellt nicht nur eine organisatorische, sondern vor allem eine theologische Herausforderung dar. Dieser Beitrag analysiert aktuelle Reformprozesse in der Deutschschweiz und der Romandie, darunter das Deutschschweizer Konkordat mit seinem Kompetenzstrukturmodell sowie den „Berner Weg“ von refbejuso. Was sagt der Pfarrmangel über unser Kirchenverständnis aus? Wie lassen sich Berufung, Ausbildung und kirchliche Verantwortung heute denken? Ein Beitrag über Ekklesiologie, Strukturwandel und die Zukunft des Pfarramts.
Sowohl im Deutschschweizer Konkordat als auch in der Reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn wird derzeit intensiv nach Lösungen für den sich dramatisch zuspitzenden Pfarrmangel gesucht. Auch in der französischsprachigen Schweiz ist vieles im Auf- und Umbruch, wie mein Kollege Elio Jaillet in seinem Blogbeitrag zeigt. Neue Ausbildungsformate, Quereinsteigerprogramme, Kompetenzmodelle, Leitbilder – die Reformbemühungen sind vielfältig. Und notwendig.
In diesem Text frage ich, was diese Reformen über unser Kirchenverständnis aussagen. Ich vergleiche zwei exemplarische Wege – den strukturorientierten Ansatz des Konkordats und den gemeinschaftsbezogenen „Berner Weg“ – und deute sie als Antwort auf eine tiefere Anfrage: Was heisst es heute, Kirche zu sein – und wozu braucht es das Pfarramt?
Es geht mir nicht nur um Personalpolitik. Es geht um Ekklesiologie. Um Berufung. Und darum, wie wir als reformierte Kirche das Amt zwischen theologischer Tiefe und struktureller Verantwortung geistlich erneuern können.
Bis zum Ende des Jahrzehnts werden in der reformierten Deutschschweiz über 600 Pfarrpersonen in Pension gehen. Dem stehen kaum 30 Ordinationen jährlich gegenüber. Selbst bei effizienter Gemeindefusion und flächendeckender Kooperation drohen bis 2030 mehrere Hundert unbesetzte Pfarrstellen. Alle sprechen über den Mitgliederverlust. Aber noch bevor die Mitglieder aus ihren Kirchgemeinden ausgetreten sind, wird es in vielen Kirchgemeinden keine Pfarrpersonen mehr geben.
Der Grund ist nicht allein der demografische Wandel. Es ist der Bedeutungsverlust des Pfarramts. Der Pfarrberuf hat – wie andere Berufe auch – Prestige eingebüsst und ihn zu ergreifen ist keine populäre Lebensentscheidung. Was früher Berufung war, gilt heute vielen als Belastung: zu fordernd, zu diffus, zu wenig zukunftsfähig. Und doch greift jede Analyse zu kurz, die sich auf Zahlen beschränkt. Denn der Mangel an Pfarrpersonen verweist auf etwas Tieferes: auf eine Leerstelle im Verständnis dessen, was Kirche ist – und sein will.
Wie reagieren die reformierten Kirchen auf diese Situation? Zwei Modelle stehen exemplarisch für unterschiedliche Herangehensweisen:
Das Deutschschweizer Konkordat mit dem „Plan P“, dem Quereinsteigerprogramm Quest und dem Kompetenzstrukturmodell (KSM).
Die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn (refbejuso) mit ihrem «Leitbild für die drei Ämter» und dem Impulspapier «Berner Weg ‘Gemeinsam Kirche sein’».
Beide Ansätze versuchen, die drohende Leerstelle im kirchlichen Raum zu füllen. Doch ihre Blickrichtungen unterscheiden sich.
Der sogenannte „Plan P“ erlaubt Akademiker:innen über 55, mit verkürzter theologischer Ausbildung und unter Supervision, temporär in Pfarrämtern tätig zu werden. Was Kritiker:innen als Entprofessionalisierung des Amts fürchten, wird von Befürworter:innen als „Notfallmodus mit Würde“ verstanden – als flankierende Option in Zeiten des Mangels.
Gleichzeitig wird das Pfarrbild strukturell geschärft:
Das Amt wird hier nicht als Status, sondern als geistlich reflektierte Profession gedacht. Es geht um klare Profile, um kirchlich verantwortete Bildung, um eine glaubwürdige Form von Leitung – nicht um Funktionserfüllung. Darin zeigt sich der Versuch, Theologie praktisch werden zu lassen.
refbejuso wählt eine andere Route. Nicht Notfall, sondern geistlicher Transformationsprozess. Der Pfarrmangel wird nicht als Defizit gedeutet, sondern als Kairos – als Moment für strukturelle und theologische Neuausrichtung.
„Gemeinsam Kirche sein“ meint:
Die zentrale Metapher: Die Pfarrperson als „Hebamme für Kirchenträume“. Nicht mehr Hauptverantwortliche:r, sondern Ermöglicher:in geistlicher Prozesse.
Auch im Berner Modell gibt es Wege für Quereinsteiger:innen – etwa das Ithaka-Programm. Doch hier stehen geistliche Reifung und theologische Tiefe im Vordergrund, nicht die Abdeckung offener Stellen.
Kirche wird hier nicht verwaltet, sondern gemeinsam gestaltet. Und das ist keine Strategie. Es ist Theologie.
Beide Ansätze – das Konkordat mit seinem Kompetenstrukturzmodell und refbejuso mit «Leitbild für die drei Ämter» und dem Impulspapier «Berner Weg ‘Gemeinsam Kirche sein’» – nehmen die gegenwärtige Krise ernst. Und beide greifen reformatorische Grundlinien auf: Bildung, Berufung, allgemeines Priestertum. Doch ihr jeweiliger Ausgangspunkt ist unterschiedlich:
Das Konkordat fragt: Was braucht die Pfarrperson, um glaubwürdig zu wirken?
refbejuso fragt: Welche Kirche ermöglicht geistlich verantwortete Dienste?
Beide Wege sind nötig. Doch sie verweisen auf unterschiedliche Grundannahmen über das Wesen von Kirche – und über das Pfarramt darin.
Die reformierte Tradition denkt Kirche nicht als Hierarchie, sondern als Veranstaltung des Wortes (Johannes Calvin). Kirche geschieht dort, wo das Evangelium verkündigt und die Sakramente entsprechend dem Wort Gottes verwaltet werden. Das Amt ist dabei kein Stand, sondern Dienst am gemeinsamen Hören.
Damit ist das Pfarramt nicht die Garantie für Kirche, aber Instrument ihrer Gestaltwerdung. Es ist – dogmatisch – ein Instrument des göttlichen Wirkens und – funktional – an den Dienst am Wort Gottes für die Gemeinde gebunden. Es ist funktional, aber nicht beliebig. Spirituell, aber nicht elitär. Es lebt nicht aus sich selbst, sondern aus der Berufung durch Gott und die Beauftragung durch die Gemeinde: Deus vocat – ecclesia vocat.
Diese doppelte Dimension – Berufung und Bestätigung – ist zentral. Sie schützt vor Funktionalisierung wie vor Individualisierung. Wer allein nach Personalbedarf fragt, verliert das geistliche Profil. Wer Berufung allein subjektiv versteht, gefährdet die gemeinschaftliche Verortung.
Berufung ist kein innerer Impuls, sondern ein geistlicher Prozess. Oder einfacher gesagt: Ohne Gottes Ruf, ohne dass Gott Menschen in den Dienst nimmt, gibt es keine Berufung und keine Ämter. Berufung verlangt Prüfung, Unterscheidung, Reifung – und theologische Bildung. Nicht zwingend akademisch, aber reflektiert, antwortend. Denn das Pfarramt ist keine subjektive Selbstermächtigung, sondern eine Inpflichtnahme für einen öffentlichen Dienst am Wort.
Gerade darum ist es so wichtig, dass beide Modelle Bildung nicht auf Qualifikation reduzieren:
Beide beschriebenen Modelle – das Kompetenzstrukturmodell des Konkordats und das Impulspapier «Berner Weg ‘Gemeinsam Kirche sein’» der refbejuso – sind reformierte Antworten auf eine gemeinsame Krise. Sie setzen unterschiedlich an, aber beide ernsthaft und verantwortungsvoll.
Das Zweite Helvetische Bekenntnis (1566) spricht im 18. Kapitel von der Bedeutung der Ämter und führt diese über eine blosse Funktionalität hinaus: «Um sich seine Kirche zu sammeln und zu gründen, sie zu leiten und zu erhalten, hat Gott immer Diener verwendet, bedient sich solcher auch heute noch und solange es eine Kirche auf Erden gibt. Deshalb ist Ursprung, Einsetzung und Amt der Diener von höchstem Alter und rührt von Gott selbst her, ist also nicht eine neue oder bloß menschliche Ordnung.» Als solches, soll es aber wirken: «Gott hätte sich ja wohl aus eigener Macht unmittelbar eine Gemeinde schaffen können, aber er wollte lieber durch den Dienst von Menschen mit den Menschen verkehren.» Dabei wird deutlich: Das Amt ist konstitutiv für die Gestalt der Kirche, aber es ist nicht selbstgenügsam. Es lebt aus der Berufung durch Gott und aus der Beauftragung durch die Gemeinde. Es steht nicht über, sondern inmitten der Gemeinschaft der Glaubenden – unterscheidbar, aber nicht abgehoben.
In diesem Sinne gilt:
Wo dieser Glaubenssatz verkürzt wird zur strukturellen Gleichstellung aller Rollen, droht eine Verflachung geistlicher Beauftragung. Das Amt verliert dann nicht nur seine Funktion, sondern seine Verankerung in der öffentlichen Verantwortung. Berufene sind Dienerinnen und Diener mit einer bestimmten Aufgabe: «Aufseher (Bischöfe), Älteste (Presbyter), Hirten (Pastoren, Pfarrer) und Lehrer (Doktoren).» Was als Gleichwürdigkeit der Kirchenmitglieder gemeint ist, kann in Rollendiffusion enden – und die Volkskirche unterminieren, die gerade vom Zusammenspiel unterschiedlicher Charismen lebt. Vor diesem Hintergrund – vor dem Hintergrund eines reformierten Dienstverständnisses – ist die Reflexion über Dienste im Sinne unterschiedlicher Kompetenzfelder keine externe Ergänzung, sondern ein Instrument der selbstreflexiven Vergewisserung der Kirchenleitung und Selbstverantwortung.
Beide Wege ringen um eine angemessene Gestalt des reformierten Pfarramts. Sie betonen unterschiedliche Dimensionen – und beide brauchen theologische Vergewisserung. Denn reformiert ist nicht, was effizient, niedrigschwellig oder innovativ ist. Reformiert ist, was dem Evangelium dient.
Es braucht kein Entweder-oder. Es braucht das kritische Zusammenspiel:
Denn: Kirche ist dort, wo das Wort Raum gewinnt. Wo Berufene im Dienst stehen – nicht weil sie besser sind, sondern weil sie beauftragt wurden, das Evangelium hörbar zu machen. Und wo das gemeinsame Priestertum aller nicht zur Entkirchlichung führt, sondern zur Erneuerung der Gemeinde unter Christus.
In der Praxis wird der «Berner Weg» nicht um die Reflexion auf konkrete Kompetenzen – sowohl im Sinne unterschiedlicher Kunstfertigkeiten als auch Zuständigkeiten – herumkommen, während die Bemühungen der Konkordatskirchen implizit eine Ekklesiologie voraussetzen, die sich in den Bereichen und Standards des Kompetenzstrukturmodells widerspiegeln. Der «Berner Weg» denkt vordergründig stärker von der Kirchgemeinde, das Konkordatsmodell eher von den Ämtern und Diensten her.
Beide stehen vor der Herausforderung, die damit jeweils impliziten Hierarchien zu beobachten und zu reflektieren: «Der Berner Weg» führt über den schmalen Grad, Kirchenmitglieder auch ausserhalb der drei Ämter (Pfarramt, Sozialdiakonisches Amt, Katechetisches Amt) wahrzunehmen und den gegenüber den stark partizipativen Momenten des Impulspapieres die Erinnerung an die 4. Barmer These, die in ihrem «Leitbild für die drei Ämter» prominent zitiert wird, wachzuhalten: «Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die andern, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.» Die Gemeinde darf Dienste durch Ämter ausüben lassen. Nicht jedes Gemeindeglied muss sich als Teil einer Mitmachkirche begreifen. Die Kirche lebt von der Mitwirkung vieler – aber nicht alle müssen mitmachen. Amt bleibt Berufung und Sendung, gerade für jene, die nicht mehr, gar nicht oder noch nicht mitmachen wollen oder können. Es braucht nicht nur Ermöglicher:innen für die Umsetzung von Kirchenträumen der Mitglieder, sondern weiterhin Diener:innen – oder: Dienstleister:innen. Im Sinne der im Impulspapier genannten «Gabenorientierung und Ausdifferenzierung pastoraler und kirchlicher Tätigkeitsfelder» böte das Kompetenzstrukturmodell des Konkordats mindestens eine beachtenswerte Diskussionsgrundlage.
Das Konkordatsmodell mit seinem Fokus auf Ämtern und Diensten und seinem stark bildungsbezogenen Zugang, steht in der Gefahr, die Berufung auf einen individuellen, persönlichen Reife- und Bildungsprozess zu verkürzen. Dagegen wäre es hilfreich, die Kernelemente «Leben aus dem Evangelium», «Berufsidentität» und «Selbstmanagement» auf ihren Sitz im Leben, nämlich den Dienst in und das Miterleben der Gemeinde zu beziehen. Besonders mit Blick auf «Plan P» scheint diese Dimension noch wichtiger zu werden. Ohne Ämter keine Gemeinde – aber auch: Keine Ämter, die nicht in einer konkreten Gemeinde als Dienste ausgelebt und gebildet werden. Das Kompetenzstrukturmodell bietet dazu viele Anschlussstellen, etwa unter den Themen «Beziehungen gestalten» oder «Einfluss nehmen». Diese Anschlüsse auch auf Seiten der Kirchgemeinde zu erkennen und zur Sprache zu bringen, könnte hilfreich sein, um die Situation und die Umstände, innerhalb derer und unter denen die Amtsträger:innen ihren Dienst leisten, zu reflektieren und zu verbessern.
Von aussen betrachtet erscheinen die Modelle des Konkordats und der refbejuso jedenfalls nicht wie unterschiedliche Wege, sondern eher wie verschiedene Perspektiven, die sich – man ist geneigt zu sagen – wunderbar oder wenigstens geistreich ergänzen.
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Kirchliche Ausbildung in der Romandie
Hier finden Sie eine Übersicht zu den Entwicklungen in der französischsprachigen Schweiz.
Elio Jaillet und Stephan Jütte werden sich im Podcast Reflex über die verschiedenen Bemühungen unterhalten.
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