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Bild: Rianne Gerrits auf Unsplash
Als Befreiung, aber auch als Beginn einer neuen Ordnung in Europa bezeichnet die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) das Ende des Zweiten Weltkriegs. Mit über 90 Mitgliedkirchen vereint die GEKE verschiedene Erinnerungskulturen und fordert eine ehrliche, differenzierte Erinnerungskultur, die Versöhnung ermöglicht. Angesichts aktueller Bedrohungen wie dem Krieg in der Ukraine ruft die GEKE dazu auf, die Erinnerung wachzuhalten und aktiv für Frieden, Gerechtigkeit und Menschenwürde einzutreten.
«Nur hüte dich und achte gut auf dich selbst,
damit du nicht vergisst,
was deine Augen gesehen haben,
und damit sie dir nicht aus dem Sinn kommen
dein ganzes Leben lang.»
Deuteronomium 4,9
Am 8. Mai 1945 kapitulierte nach 2077 Kriegstagen das barbarische nationalistische Unrechtsregime in Deutschland, das zu einem beispiellosen Zivilisationsbruch geführt hatte. 60 bis 75 Millionen Menschen, ungefähr 3,5 Prozent der damaligen Weltbevölkerung, bezahlten den «totalen Krieg» mit ihren Leben. Sechs Millionen Juden waren im Holocaust auf grausamste Weise ermordet worden. Im am stärksten vom Krieg betroffenen Polen verlor ein Sechstel der Bevölkerung ihr Leben, jedes zweite Opfer war eine Person jüdischer Herkunft. Die Sowjetunion hatte mit 27 Millionen die meisten Kriegstoten zu beklagen.
Das Ende des Krieges bedeutete zugleich Befreiung und den Beginn einer neuen europäischen Gewaltepoche: Teilungen, Vertreibungen, zahllose Flüchtlinge und displaced persons, neue Besatzungen, und insbesondere auf dem Territorium der Sowjetunion und im östlichen Teil Europas neue Annexionen und ethnische Säuberungen, andere Ideologien und wiederum Fremdbestimmung und Unterdrückung. Der Kontinent wurde nicht von Gewalt befreit, sondern mit Gewalt neu geordnet. Das lange Ende des Zweiten Weltkriegs zog sich über die Berliner Luftbrücke im Jahr 1948, die Gründung der Montanunion im Jahr 1952, den
Budapester Aufstand 1956, den Mauerbau von 1961, den Prager Frühling 1968, bis zum Fall des Eisernen Vorhangs 1989. Bis dahin standen sich die wirtschaftliche Prosperität freier Gesellschaften und die scheinbar (selbst)gerechten, in Wirklichkeit aber die individuelle und kollektive Freiheit in vielerlei Hinsicht einschränkenden totalitären Gesellschaften mit je eigenen ideologischen Rechtfertigungen gegenüber. Auch die grösste Errungenschaft nach Kriegsende, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, wurde politisch instrumentalisiert. Wiederum entschieden nicht die gleichen Rechte jeder Person an jedem Ort, sondern politische Mächte darüber, wer in Frieden und Freiheit leben durfte, und wem dieses Leben verwehrt bzw. vorgetäuscht blieb.
Europa hat zwar eine gemeinsame Geschichte, aber keine gemeinsamen Erinnerungen. Die eigenen Geschichten, die das persönliche Leben prägen, werden in keinem Geschichtsbuch erinnert und vor Vergessengehen und Verdrängung bewahrt. Leid, Schmerz, Verlust, Hass, Rache, Schuld und Scham sind weit mehr als historische Fakten. Erinnerungen sind nicht neutral und lassen sich auf keinen gemeinsamen historischen Nenner bringen. Sie werden erzählt, geteilt, gedeutet, können verbinden und spalten. Erinnerungen polarisieren, wenn sie zur Legitimation eigener Weltbilder benutzt werden. Erinnerungen können versöhnen, wenn sie als unbequeme Erinnerungen nicht Einheitlichkeit, sondern gegenseitigen Respekt einfordern, um Ambivalenzen auszuhalten und anzuerkennen. Frieden und Versöhnung gründen nicht im glatten Konsens, sondern in dem ernsthaften und geteilten Willen zu eigener, differenzierter, kontroverser und herausfordernder Erinnerung. Jeder Person und Gruppe, der ihre Erinnerung verweigert wird, wird ihr Platz in der Welt bestritten. Die Verweigerung des Rechts auf die eigene Erinnerung und die fehlende Aufarbeitung der Vergangenheit bereiten den Boden für neue Ungerechtigkeiten in der Gegenwart.
In der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa sind Kirchen versammelt, die nicht nur in verschiedener Weise mit der europäischen Gewaltgeschichte im 20. Jahrhundert verbunden, sondern auch ganz unterschiedlich von den Kriegsfolgen betroffen sind. Die nationalen, ethnischen und gesellschaftlichen Konfliktlagen spiegeln sich unmittelbar in den Mitgliedkirchen wider. Mit der Leuenberger Konkordie von 1973 beendeten diese Kirchen ihre ein halbes Jahrtausend währenden reformatorischen Zerwürfnisse. Zugleich bauten sie so mitten im Kalten Krieg Brücken über die politischen Mauern des geteilten Europas hinweg. Die Gemeinschaft gelang, weil sie sich zu einer Einigkeit bekannte, die Politik nicht herstellen, aber auch nicht verhindern kann: die Einheit der Kirche Jesu Christi, in Wort und Sakrament, in Zeugnis und Dienst. Die Kirchengemeinschaft versteht sich als Element und Impulsgeberin im europäischen Einigungsprozess, indem sie Europa als einen Verantwortungsraum seines historischen Erbes begreift.
Heute, 80 Jahre später, rückt nach dem Angriff der Russischen Föderation auf die Ukraine die Aussicht auf ein friedliches Europa, die bereits durch den Krieg in Jugoslawien irritiert wurde, in noch grössere Ferne. Zerstörerisch wirken auch autoritäre Tendenzen, Neonationalismus, historische Revanche-Narrative, wirtschaftliche Abschottungspolitik, Rückzüge aus internationalen Abkommen und ein wachsendes Misstrauen gegenüber demokratischer Teilhabe. Die europäische Idee, durch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Verflechtungen Kriege unmöglich zu machen, gerät von innen und aussen unter Druck und wird durch nationale Interessen, populistische Erzählungen, moralisierende Besserwisserei und konstruierte Pseudowahrheiten in Frage gestellt. Europa und seine demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnungen sind wieder zum umkämpften Projekt geworden – und mittendrin die Kirchen.
Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa ist nicht durch einheitliche Deutungen verbunden, sondern durch die Verpflichtung zu ernsthafter Auseinandersetzung, die Widerspruch nicht überhört oder unterdrückt, sondern ernst nimmt. Diesem Anliegen dient auch die Erinnerung an den 8. Mai 1945. Es ist eine Erinnerung des Widerstehens: gegen die Banalisierung von Schuld, gegen die Relativierung der Menschenrechte, gegen den Zynismus der Freund-und-Feind-Logiken. Frieden ist nach biblisch-evangelischem Verständnis verknüpft mit dem Eintreten für gerechte Verhältnisse, in denen Gewalt benannt wird, ohne sie zu vergelten und Konflikte nicht unterdrückt, sondern bearbeitet werden. Dafür braucht es Erinnerung, die nicht relativiert, sondern unterscheidet, damit die Würde jeder Person nicht erneut zur Verhandlungsmasse unmenschlicher Politik wird. Dafür braucht es den Willen, die Anliegen der anderen zu verstehen und eine Kultur des Vertrauens zu schaffen, in welcher offen gesprochen werden kann und Versöhnung möglich wird.
Barmherziger Gott,
Du, der uns versprochen hat, alle Tränen abzuwischen,
behüte unsere Erinnerung,
damit wir nicht leichtsinnig werden im Vergessen;
behüte unseren Zweifel,
damit wir nicht ahnungslos politischen Ideologien und Feindbildern folgen;
behüte unsere Gewissheit, damit wir angesichts der Gewalt, der Ungerechtigkeit
und des Unfriedens um uns herum nicht stumm und mutlos werden;
behüte unseren Mut,
damit wir festhalten an Deiner Friedensbotschaft.
Du bist unser Frieden,
lass Deinen Frieden durch uns in der Welt aufscheinen.
Amen!