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Liebe Sissacherinnen und Sissacher
Liebe Eidgenossinnen und Eidgenossen
Wie schön, mit Ihnen heute den 1. August zu feiern. Vielen herzlichen Dank für die Einladung. Sie hat mich sehr gefreut und es ist mir eine grosse Ehre, heute zu Ihnen und, bei Bier und Wurst, hoffentlich dann später auch mit vielen von Ihnen sprechen zu dürfen.
Als Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz fällt mir unter anderem die schöne Aufgabe zu, den Schweizer Protestantisums in der internationalen Ökumene zu vertreten. So bin ich viel in Europa aber auch darüber hinaus unterwegs. Denn ja, wir Reformierten haben nicht einfach ein Machtzentrum in Rom, das die Geschicke der Kirche steuert. Wir sind, genau wie die Eidgenossenschaft «bottom-up» organisiert. Deshalb organisieren wir uns nicht über einen zentralen Ort, noch haben wir eine Person mit absoluter Macht ausgestattet. Wir organisieren und gestalten Kirche über Netzwerke, an denen Herausforderungen geteilt und Lösungen gesucht und die Überzeugendsten sich durchsetzen. Wir laden uns gegenseitig zu unseren Synoden (so nennt man kirchliche Parlamentsversammlungen) ein, organisieren Versammlungen, Konferenzen.
Dort werde ich als Repräsentantin des Mutterlandes von Zwingli und Calvin, den Vätern der Schweizer Reformation, immer herzlich empfangen.
Auch wenn die internationalen Gastgeber stets sehr erfreut sind, wenn ich Schoggi, Taschenmesser, Basler Läckerli und Bärner Mandelbärli mitbringe, wissen alle: Swissness ist mehr als Cervelat und Käse. Oft werde ich gefragt: «Was hält denn eigentlich die Schweiz zusammen?» Es ist nicht die Geografie: Denn ja, ihr nördlich des Jura seid genauso Teil der Schweiz wie die Tessiner, Walliser und Bündner südlich der Alpen. Es sind auch nicht die Kultur und Sprache. Denn wir sprechen ja bekanntlich vier verschiedene Landessprachen und viele weitere Sprachen aus aller Welt werden zu Hause gesprochen.
Man spricht von der Schweiz als «Willensnation»: Sie wird getragen von Menschen, Gemeinden, Kantonen, die zusammengehören wollen. Es gibt viele Klammern, die eine Willensnation zusammenhalten. Drei, zu denen wir alle beitragen können, möchte ich heute hervorheben.
Ich kenne Trudi und Werner nicht. Aber sie haben ein Bänkli gestiftet. Es steht oben auf der Krete im Schatten einer Esche und erlaubt allen, die sich darauf niederlassen, einen Blick über das Land. «Zum Verschnuufe» steht da drauf. «Von Trudi und Werner». Landauf, landab finden wir diese Bänkli. Organisiert werden sie von den «Verkehrs- und Verschönerungsvereinen», wie sie früher so schön hiessen. Heute nennen sie sich meistens Tourismusvereine. Ja, was würden wir machen, ohne diese vielen, vielen Vereine in der Schweiz. Wir hätten nicht nur keine dieser wunderbaren Bänkli an all den lauschigen Plätzchen, die in unserem schönen Land zum Verweilen einladen. Wir hätten niemanden, der an den Veranstaltungen mit dem Samariterdienst die Wunden pflegt, den Kindern am Samstagnachmittag in Pfadi und Cevi Freundschaft, Gemeinschaft, Liebe zur Natur vermittelt; niemanden, der es ermöglicht, dass Schwarznasenschaf-Liebhaber sich über die Pflege dieser besonderen Tiere austauschen. Wir hätten keine Chöre, keine Musikvereine und, und…. Wir sind ein Land der Vereinsmeierei. Und Sissach ist ein herausragendes Beispiel dafür. Ich habe gelesen, dass es allein in Sissach 100 Vereine geben soll.
In einer Zeit, in der gesellschaftlicher Zusammenhalt keine Selbstverständlichkeit mehr ist, ist es ein kostbares Gut, dass Menschen sich engagieren und Verantwortung übernehmen für mehr als ihr eigenes Leben und das ihrer Familie. Die Vereine leisten dabei unschätzbare Arbeit: Sie bringen Menschen zusammen, schaffen Begegnungsräume, pflegen Traditionen, ermöglichen Sport, Kultur, Politik und sind ein Rückgrat dieser Gesellschaft. Sie zeigen, wie wichtig es ist, dass Menschen sich freiwillig engagieren, sich füreinander einsetzen und Verantwortung übernehmen.
Eine Willensnation lebt vom sogenannten Milizsystem. Es ist getragen von Menschen, die über ihren Gartenzaun hinaus Verantwortung übernehmen und eine Extrameile gehen für das Gemeinwohl.
Ich kenne den Mann, der an der Theke seinen Kaffee zahlt, nicht. Er will auch anonym bleiben. Aber er bezahlt nicht nur den Kaffee, den er gerade getrunken hat, sondern auch grad noch einen zweiten. Der Barista macht einen Strich auf der Tafel, die neben der Kasse aufgestellt ist. «Äs Kafi meh», steht auf der Tafel. Menschen, die gerade knapp bei Kasse sind, können sich hier diskret einen Kaffee leisten, den ein anderer für sie bezahlt hat.
Wir Schweizerinnen und Schweizer sind Solidaritätskünstler und Integrationskünstlerinnen. Es beginnt mit dieser kleinen Geste an der Kaffeebar. Menschen wissen, dass andere nicht immer auf der Sonnenseite des Lebens stehen und zeigen ihnen dies absichtslos herzlich. Sie tun es aber auch, wenn sie sich engagieren für den Mittagstisch oder die Deutschkurse für Asylsuchende, oder indem sie sich im Tandemprojekt als Coach für Menschen auf Stellensuche engagieren oder indem sie sich als Mitglied von Rotary oder beim Sommerfest des lokalen Heims für Menschen mit Beeinträchtigungen engagieren. Mit solchen kleinen Gesten und grossartigen Projekten, die ich landauf landab beobachte, sorgen wir dafür, dass niemand zurückbleibt, dass Menschen in die Gemeinschaft integriert werden können und später selber etwas dazu beitragen. Damit diese Kultur des gesellschaftlichen Zusammenhalts weitergepflegt wird.
Sissach liegt zwischen Stadt und Land, ist das Tor in die weltoffene Nordwestschweiz und das ländliche Oberbaselbiet, zwischen dem urbanen Basel und den sanften Hügeln der Fluh mit ihrem Alpenblick. Hier treffen sich Geschichte und Moderne, Internationalität und Verwurzelung.
Ihre Region ist geprägt von Integrationskünstlern und Brückenbauerinnen. Hier gestalten Menschen die Gesellschaft, deren Vorfahren oft aus anderen Regionen zugewandert sind. Wie beispielsweise die vielen, die zwischen 1870 und 1930 aus dem Bernbiet hierherkamen – und die gemeinsam hier Heimat gefunden haben. Als Bernerin, die seit 33 Jahren im Kanton Zürich lebt, sage ich: Wer «Bärner-Gringä» integrieren konnte, muss vor der Zukunft keine Angst haben.
Eine Willensnation wird zusammengehalten von Menschen, die die Integration nicht den Profis und dem Staat überlassen. Sie lebt von Menschen, die wollen, dass niemand zurückbleibt und in ihrem Alltag etwas für die Integration von Zugewanderten, Benachteiligten, Minderheiten, Beeinträchtigen tun.
Auch Armin Capaul kenne ich nicht persönlich. Aber er ist dieser bärtige Bauer, der die wohl speziellste Initiative eingereicht hat, die unsere direkte Demokratie je gesehen hat: Die Hornkuh-Initiative. Mit seiner Initiative hat er es bis in die Frankfurter Allgemeine geschafft und in ganz Europa ein Staunen über die Partizipation der Schweizer an ihrer Gesetzgebung ausgelöst. Wenn ich meinen internationalen Freunden unsere direkte Demokratie erkläre, staunen sie. Ich nenne dann jeweils die Abstimmungen von Abschaffung der Armee bis hin zur Hornkuh-Initiative. Die direkte Demokratie gibt uns allen die Möglichkeit, Initiativen einzureichen, Referenden zu lancieren und so nicht nur Menschen in die politischen Gremien zu wählen, sondern direkt über Themen zu entscheiden, indem wir über Sachgeschäfte abstimmen. Lokal, kantonal, national.
Dies verlangt von uns Bürgerinnen und Bürgern viel Eigeninitiative, Engagement, Bereitschaft sich in die Themen einzulesen, zu diskutieren, zu streiten, sich über alles eine eigene Meinung zu bilden. Direkte Demokratie bedeutet viel Arbeit und Engagement für uns alle. Statt nur alle vier Jahre wählen zu gehen, wie das in den meisten Ländern üblich ist, gehen wir viermal pro Jahr wählen und abstimmen!
Wir sind durch unsere direkte Demokratie nicht immer die Schnellsten, aber die Nachhaltigsten. Weil die Grundlagen unserer Gesellschaft getragen sind von einer Mehrheit, die sich mit den wichtigsten Entscheidungen auseinandergesetzt hat und sie mitträgt. Deshalb werden bei uns demokratische Entscheidungen auch akzeptiert und Projekte in aller Regel innerhalb des Budgets abgerechnet.
Eine Willensnation wird zusammengehalten von Menschen, die Politik nicht Profipolitikern überlassen, die sie wählen, sondern sich selbst einbringen in den Meinungsbildungsprozess, den Wettbewerb der Ideen, die Knochenarbeit der Demokratie.
Liebe Festgemeinde
Unsere Willensnation, getragen vom Willen zum Zusammenhalt, ist nicht vom Himmel gefallen. Sie hat sich über die Jahrhunderte entwickelt. Vorangetrieben von Menschen, für die Werte wie Gemeinschaft, Verantwortung, Nächstenliebe nicht nur Lippenbekenntnisse waren, sondern Engagement für das Gesamte der Gesellschaft.
Hier in Sissach feiern Sie dieses Jahr 800 Jahre Gemeinde und 500 Jahre Kirche Sissach. Wie mutig, dass sie diese beiden Jubiläen zusammen feiern. Nicht in einem grossen Festakt, sondern mit vielen verschiedenen Events und Aktionen. Sie drücken mit diesem Doppelfest etwas aus, was vielen nicht mehr bewusst ist:
Dass wir Schweizerinnen und Schweizer uns engagieren für das Gemeinwohl, dafür sorgen, dass niemand zurückbleibt und somit eine grosse Fähigkeit haben zur Integration, dass wir uns demokratisch organisieren und uns an demokratischen Prozessen beteiligen, ist auch eine Frucht des Zusammenwirkens von Kirche und Staat.
Unser Land ist geprägt von christlichen Werten. Niemand muss in diesem Land diesen Glauben annehmen – auch die Religionsfreiheit gehört zu den Errungenschaften unseres Landes. Aber man kann unser Land nicht verstehen und lesen, wenn man seine christlichen Wurzeln nicht kennt.
Christlicher Glaube, das heisst Nächstenliebe: der Mensch neben mir ist genauso Gottes Geschöpf wie ich. Seine Würde ist unantastbar und meine Liebe gilt ihm gleichermassen wie mir selbst. Deshalb kann mir das Wohlergehen meines Nachbarn nicht egal sein.
Christlicher Glaube, das heisst Verantwortung für das Gesamte der Gesellschaft. In dieser Verantwortung bin ich gerufen, sie mitzugestalten.
Christlicher Glaube im reformierten Sinn heisst Partizipation: Vor 500 Jahren haben die Reformatoren und die reformierten Christinnen und Christen sich losgesagt vom Machtzentrum Roms, vom Sonderstatus der Geistlichen, und sie haben den Menschen in die religiöse Mündigkeit und Mitverantwortung für den persönlichen Glauben, die Kirche und die Gesellschaft gerufen. Freiheit war und ist ein zentraler Begriff der Reformation. Mit einer unvergleichlichen Bildungsoffensive haben sie die Menschen lesen gelehrt, in die Freiheit und Eigenverantwortung geführt und somit einen wichtigen Grundstein gelegt für die Entwicklung der demokratischen Gesellschaft. Die Reformation hat unsere basisdemokratische Schweiz mitgeprägt.
Christlicher Glaube ist geprägt von der Hoffnung: Gott hält diese Welt in seinen Händen und wird sie in ein gutes Ende führen. Diese Hoffnung vertröstet uns nicht auf ein Jenseits, sondern führt uns in hoffnungsvolles Handeln für diese Welt. Hoffnung ist die Kraft zur Resilienz und der Motor allen Engagements.
Diese christlichen Werte haben sich mit der Zeit verselbständigt und sind zu universalen Werten geworden: Nächstenliebe, Verantwortung, Freiheit und Hoffnung werden zwar genährt von christlichem Glauben und christlicher Spiritualität. Aber sie sind auch ohne Glaube lebbar und tradierbar. Wir Christenmenschen werden weiterhin Glaube, Liebe, Hoffnung in unseren Kirchen tradieren und werden so auch in Zukunft die Gesellschaft mitgestalten. Wir tun dies aber zusammen mit allen, die diese Werte teilen in unserer freien, liberalen und offenen Gesellschaft.
Diese Werte sind keine Selbstverständlichkeit. Alle zusammen sind wir gefordert, sie aufrechtzuhalten und weiterzugeben an die nächste Generation. Wir alle sind gefordert, sie wie eine Fackel voranzutragen, damit sie uns den Weg weisen in den Herausforderungen unserer Zeit.
Freuen wir uns heute an diesem 1. August über die reiche Geschichte, die uns zu dem gemacht hat, was wir heute sind: die Willensnation Schweiz. Sie wird getragen, gestaltet von dir und mir. Deshalb feiern wir unseren Nationalfeiertag nicht in einem Machtzentrum mit einer grossen Militärparade und Machtdemonstration. Wir sitzen in unseren Dörfern und Städten zusammen bei Wurst und Bier und besinnen uns darauf, was uns stark gemacht hat und wie wir uns weiterhin für dieses Land und unsere Gesellschaft einsetzen können.
In diesem Sinn wünsche ich uns allen einen frohen 1. August!
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