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Eine ÖRK-Vollversammlung ist nicht in erster Linie eine politische Versammlung, sondern vor allem eine geistliche Veranstaltung. Von ihr gehen mittelfristige Impulse aus, Themen werden auf die Agenda der Kirchen oder der ökumenischen Bewegung gesetzt oder wieder aufgenommen, wohingegen verbindliche Beschlüsse seltener gefasst werden. Wie könnte es auch anders sein angesichts einer Versammlung von fast 900 Delegierten mit Stimmrecht, die nur alle acht Jahre zusammenkommt, ihre Schlussdokumente an einem Wochenende ausarbeitet und sie im Eiltempo und mit einer anspruchsvollen Konsensmethode verabschiedet? Jegliche andere Erwartung angesichts einer solchen Versammlung wäre nicht nur unrealistisch, sondern auch tendenziell anfällig für populistische Beeinflussung.
Dabei erfasst und reflektiert die Vollversammlung sehr genau die Sorgen, Leiden und Bedrohungen, denen die Kirchen und die Welt ausgesetzt und mit denen sie ganz direkt konfrontiert sind. Diese Themen werden in den Schlussdokumenten unter verschiedenen Gesichtspunkten behandelt und vor allem in den folgenden Ausschüssen der Versammlung ausgearbeitet: im Ausschuss für die Botschaft der Vollversammlung, im Ausschuss für die Programmrichtlinien, im Ausschuss für die öffentlichen Angelegenheiten sowie in jenem für die Empfehlungen aus den «Ökumenischen Gesprächen».. Sie skizzieren die Agenda des ÖRK für die folgenden Jahre.
A. Diese Agenda umfasst im Wesentlichen folgende Punkte:
Ukraine-Russland: Die Anwesenheit einer sehr sichtbaren und hörbaren Delegation aus der Ukraine hat die Solidarität des ÖRK mit den Opfern unterstrichen; dennoch kann man nicht sagen, dass ein Dialog zwischen ukrainischen und russischen Delegierten stattgefunden hätte oder unter diesen Umständen überhaupt möglich gewesen wäre. Die Verantwortung für den Krieg wurde mehrfach deutlich zum Ausdruck gebracht. Der relativ moderate Ton des Schlussdokuments wurde vom Vorsitzenden dieses Ausschusses damit begründet, dass das Wichtigste sei, die Tür für Gespräche mit der Russisch-Orthodoxen Kirche offen zu lassen. Die Frage, in welchem Masse die Russisch-Orthodoxe Kirche Komplizin in diesem Konflikt ist, kann nicht von der Frage getrennt werden, wie weit sie auch Geisel der Regierung und teilweise ihrer eigenen Tradition ist. Historisch gesehen war die orthodoxe Kirche, besonders die russische, fast immer den weltlichen Autoritäten freiwillig oder gezwungenermassen unterworfen. Die Tatsache, dass viele Kirchen des Südens wenig Verständnis dafür aufbringen, dass dieser Krieg in Europa anders behandelt werden sollte als ein anderer Krieg, muss gehört werden. Krieg in der Ukraine, Frieden und Gerechtigkeit in der Region Europa
Israel-Palästina, Syrien-Libanon, Irak. Die Verwendung des Begriffs « Apartheid » zur Beschreibung der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern hat nicht die erhoffte Unterstützung erhalten, und die Vollversammlung konnte nur die grundlegende Meinungsverschiedenheit zu diesem Thema feststellen. Aber der ÖRK wird auch weiterhin die Situation aufmerksam beobachten und die lokalen Kirchen unterstützen. Zudem legt diese Erklärung den Schwerpunkt auch auf die anderen Länder der Region und die Notwendigkeit einer Annäherung und Deeskalation der gesamten Region, um für die palästinensische Tragödie eine dauerhafte Lösung zu finden. Streben nach Gerechtigkeit und Frieden für alle im Nahen Osten
Die Fortführung des Dialogs und der theologischen Ausbildung im Hinblick auf die Einheit mit der Katholischen Kirche und die Erweiterung dieses Dialogs auf andere konfessionelle Akteure (World Evangelical Alliance, World Pentecostal Fellowship…) oder Plattformen (Global Christian Forum, Religions for peace…), die vollwertige Partner im gemeinsamen Handeln geworden sind.
Soweit die wichtigsten Themen der «makropolitischen» Agenda. Um diese umzusetzen, hat die Vollversammlung einen neuen Zentralausschuss bestehend aus 150 Personen, von denen ungefähr zwei Drittel neu sind, gewählt. In seiner ersten Sitzung wählte der Zentralausschuss die Führungsspitze des Zentralausschusses, welche die Arbeit des neuen Generalsekretärs, Jerry Pillay, und der Direktoren der verschiedenen Bereiche leitet. Viele dieser Führungspositionen waren im Laufe dieses Jahres wegen auslaufender Verträge oder Pensionierungen neu besetzt worden. Folgende Personen leiten zukünftig den Zentralausschuss: Heinrich Bedford-Strohm (bis 2021 Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland EKD) sowie die beiden stellvertretenden Vorsitzenden Merlyn Hyde Riley (Generalsekretärin der Baptistenunion von Jamaika und Absolventin des Ökumenischen Instituts Bossey) und S. E. Erzbischof Vicken Aykazian aus den USA, Armenisch Apostolische Kirche (bis jetzt Vorsitzender des Finanzausschusses des Zentralausschusses).
B : Aber es ging auch um den inneren Zustand der Kirchen, um ihr Zeugnis vom Evangelium und um ihren Glauben in diesem Kontext. Auch in diesem Zusammenhang wurden schwierige Themen an den neuen Zentralausschuss herangetragen. Diese wurden sehr gut in der «Botschaft der Vollversammlung» zusammengefasst. Drei Punkte möchte ich hervorheben:
Dies sind nur einige Punkte von vielen, die in der Vollversammlung deutlich wurden und die eine besinnliche und zurückhaltende Stimmung erzeugten sowie den Aufruf zum Handeln bekräftigten. Die Botschaft der Kirche an die Welt ist zunächst die einer selbstbewussten Demut und eines Aufrufs zum Bewusstseinswandel.
Der Titel der Botschaft der Vollversammlung gibt sehr genau die Dringlichkeit wieder, die von den jungen Menschen (aber nicht nur von ihnen) im Hinblick auf den Klimanotstand, den ökumenischen Fortschritt und den Platz, der den Stimmen der jungen Menschen und der Frauen zugestanden wird, so leidenschaftlich zum Ausdruck gebracht wurde, selbst wenn dafür von altbewährten Verfahrensregeln abgewichen wurde. Die Vollversammlung konnte diese Botschaft nicht überhören. Dieser Schrei wird nicht nur von der Dringlichkeit getragen, sondern auch und vor allem von der Hoffnung an und das Vertrauen in einen Gott, der weder seine Kirche noch seine Schöpfung im Stich lässt. Die zum Ausdruck gebrachte Hoffnung ist grösser als der Schrei. Die christliche Ethik als eine echte Alternative zu der Welt und den Mächtigen wurde mit Nachdruck bekräftigt.
Der wichtigste Abschnitt dieser Botschaft der Vollversammlung lautet wie folgt:
Auf unserer Tagung hier in Deutschland, erfahren wir, was ein Krieg kostet, und erfahren etwas über mögliche Versöhnung; wir hören zusammen das Wort Gottes und verstehen unsere gemeinsame Berufung; wir hören einander zu und sprechen miteinander, wir rücken näher zusammen; wir wehklagen gemeinsam und öffnen uns für den Schmerz und das Leid der anderen; wir arbeiten zusammen und einigen uns auf gemeinsames Handeln; wir feiern gemeinsam und freuen uns über die Freude und die Hoffnungen der anderen; wir beten gemeinsam, entdecken die Vielfalt unserer Glaubenstraditionen und spüren den Schmerz, den unsere Spaltungen verursachen. Ein Aufruf zum gemeinsamen Handeln
“It is Christlike love that moves us to walk honestly and wholeheartedly beside one another, to try to see the world through the eyes of others and to have compassion for one another, to build the trust that is such a vital part of our ecumenical journey. It is love that will reject any distorted kind of unity that overcomes, overpowers, or coerces the other, and neither will it settle for a weak type of encounter that is merely formal. This love goes beyond every level of restriction and restraint; it is not abstract, sentimental, soft, or romantic, but is embodied and whole, witnessed in the visible and the practical, in the passionate and the truly challenging, able to address the deepest evil and injustice. We have learned from one another that love which in private is tenderness in public is justice.” Unity Statement
Dieses Prinzip wird von der Hoffnung getragen, dass die Liebe als hermeneutische Kategorie die theoretischen und manchmal zu akademischen Konzeptualisierungen von formellen Abkommen und Rechtsverordnungen überwiegt. Dieses Prinzip will der Kompass und die unerschöpfliche Energie sein, welche die Kirchen dazu bewegt, die Einheit und Versöhnung neu zu erfinden.
Fazit
Jede Teilnehmerin, jeder Beobachter kommt angesichts einer solchen Fülle und Intensität an Überzeugungen und Betrachtungen nicht umhin sich zu fragen, ob all diese Dokumente eine Zukunft haben werden und vor allem, ob sie das Antlitz der Welt verändern können. Zu diesem Thema hat ein deutscher Kollege einen sehr treffenden Kommentar auf Facebook verfasst, dem wir uns voll und ganz anschliessen können:
Nein, die Texte, die die ÖRK-Vollversammlung heute schlussendlich verabschiedet hat, sind weder so eindeutig noch so einmütig, wie sich das viele erhofft oder es sogar lautstark gefordert hatten. Ist die Vollversammlung also eine Enttäuschung? Für mich, der ich zum ersten (und vermutlich auch zum letzten) Mal an einem solchen globalen Mega-Event teilgenommen habe, absolut nicht. Nachdem ich erleben konnte, wie verschieden die Menschen sind, die hier beisammen waren, wie unendlich vielfältig die Kontexte und Prägungen von Menschen aus Fiji, Serbien, Ägypten, Südafrika, Sumatra, Chile, Kanada, Finnland, den Salomonen (wo sind die eigentlich?), Indien, Nigeria und ja, auch Deutschland wundert es mich, dass man überhaupt etwas gemeinsam zu sagen hat. Und das liegt daran, dass diese Menschen sich alle einig sind, dass Jesus Christus und sein Geist bis heute gegenwärtig wirksam sind und die sie bezeugende Bibel bleibend relevant ist (mit welcher Hermeneutik auch immer!). Dass die einen sich darin z.B. in ihrem Patriotismus bestärkt fühlen und andere in ihrem Feminismus, mutet von außen irrsinnig und beliebig an, ist es aber nicht, weil genau darüber hier offen diskutiert wird. Trotz aller eklatanten Gegensätze gibt es eine gemeinsame Referenz und letztlich auch eine gemeinsame Geschichte. Das hält diese globale Gemeinschaft noch im Streit zusammen – und nicht eine zentralistische und autoritäre Struktur wie die katholische Weltkirche. Ich finde, darüber kann man nur staunen. Nirgendwo wird dieses Wunder so erlebbar wie in den gemeinsamen Gebeten, wenn die Liturgie von jahrtausendealten koptischen Antiphonen nahtlos übergeht zu Samba-Rhythmen, von kunstvollen Gesängen in Mandarin zu pfingstlichem Lobpreis oder Chorälen der deutschen Tradition. Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe – das steht und wird bejaht, auch wenn man sich an den Kopf fassen muss, was andere daraus machen. Oder muss man sich an die eigene Nase fassen? Nicht ausgeschlossen!
Wichtiger als alle Texte sind die persönlichen Begegnungen mit den fernen Nächsten, die ein solches Mega-Event rechtfertigen. Im Idealfall konstituiert sich in diesen Begegnungen eine globale Zivilgesellschaft, die zumindest von den meisten ihrer Mitglieder nicht exklusiv verstanden wird, sondern als eine integrative Kraft zum Wohl aller Menschen. Ich bin überzeugt davon, dass die Vernetzung und Bewusstseinsbildung, die bei einer solchen Vollversammlung stattfindet, konkrete politische und soziale Folgen für die Entwicklung in vielen Ländern der Welt hat. Es wäre ein schlimmer Fehler, angesichts der zurückgehenden Prägekraft des Christentums in den Ländern Mitteleuropas zu übersehen, dass Kirchen weltweit über eine kollektive «Basisanbindung» verfügen, die sonst keine staatliche oder nichtstaatliche Organisation erreicht. Die menschlichen Multiplikatoren, die heute in 120 Länder der Erde, in Städte, Dörfer und Kirchen zurückreisen, werden mit Sicherheit mehr bewirken als die Verlautbarungen, die gelesen oder auch nicht gelesen werden. Die meisten sind auf bewundernswerte Weise entschlossen, sich im Namen Jesu für Gerechtigkeit und Frieden einzusetzen – und zwar für alle Menschen gleichermaßen.
1 Es handelt sich hier um ein Zitat des afroamerikanischen Theologen und Philosophen Cornel West, das sich in der ersten Fassung des Dokuments befand, sowie das Zitat des chinesischen Bischofs K.H. Ting «Die Gerechtigkeit Gottes ist auch die Liebe Gottes. Wenn sich die Liebe in der ganzen Menschheit ausbreitet, wird sie zur Gerechtigkeit.»