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Wort der Präsidentin: „Kirchengemeinschaft als Gestaltungsraum“

15.06.2025

Geschätzter Synodepräsident,
liebe Synodale,
liebe Gäste, liebe Schwestern und Brüder

Mit der neuen Verfassung hat der Schweizer Protestantismus 2020 einen Quantensprung gemacht: Vom Kirchenbund zur Kirche.
Wir lesen im Paragraf 1:

“Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) ist die Gemeinschaft der evangelisch-reformierten und weiterer protestantischer Kirchen in der Schweiz” (EKS Verfassung 2020, §1).

Bei Gesprächen mit Kirchen- und Synodalräten und Synodalen stossen wir Ratsmitglieder immer wieder auf Fragen, die diesen ersten Paragrafen der Verfassung betreffen:
Was heisst es, auf nationaler Ebene Kirche zu sein? Was verstehen wir unter “Kirchengemeinschaft”? Und wie steht das im Verhältnis zu unserem eigenen Kirche-Sein im Kanton und in der Kirchgemeinde? Ist dieser ekklesiologische Anspruch, den die Verfassung neu stellt, nicht gefährlich? Postuliert er nicht eine Zentralisierung, die wir nicht wollen und gefährdet sie damit die Eigenständigkeit der Mitgliedkirchen?

Diese Fragen sind legitim. Sie wurzeln tief in unserer Schweizer Kirchengeschichte, die immer auch eng verbunden ist mit der Geschichte unseres Landes. Sie sind typisch für unsere helvetische, föderale Kultur. Aber es gibt in der Verfassung selbst gute Antworten auf diese Fragen. Gerade bei Unsicherheiten sollten wir uns nochmals über das beugen, was uns ins Auftragsheft geschrieben ist. Darum heute ein paar Gedanken dazu.

Kirche sein: lokal – kantonal – national – international
Die EKS Verfassung 2020 spricht von Kirche in drei Perspektiven, einer dogmatischen, einer ethischen und einer juristischen.

  1. Die Verfassung konstituiert die EKS dogmatisch. In der Präambel und den Artikeln 1-5 beschreibt sie die EKS als Kirche und Glaubensgemeinschaft. Sie nennt das Bekenntnis zum dreieinigen Gott, die Schriften des alten und neuen Testamentes, die Rechtfertigungslehre als Grundlage der Kirche. Die altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnisse teilen wir mit anderen Kirchen und sind Teil der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche.
  2. Die Verfassung konstituiert die EKS ethisch, sie beschreibt in den § 6-8 die Kirche als Handlungsgemeinschaft. Wir leben den Glauben im Feiern, Bezeugen, im diakonischen Handeln und in der Gemeinschaft. Und auch dies auf allen drei Ebenen.
  3. Die Verfassung konstituiert die EKS aber auch juristisch. Die EKS tritt im Schweizerischen Recht als Verein auf und konstituiert in den Reglementarien ab § 9 die EKS damit auch als Rechtsgemeinschaft. Als solche ist die Kirche immer auch eine gewachsene, verfasste Organisation mit ihren Rechtsordnungen für Kirchgemeinden, Landeskirchen und auf nationaler Ebene.[1]

Die Verfassung EKS erscheint zivilrechtlich als ein „Vereinsstatut“. Sie ist aber darin, dadurch und darüber hinaus Kirchenverfassung, welche unsere Glaubensgemeinschaft als Kirche, unsere Handlungsgemeinschaft als Kirchengemeinschaft und unsere juristische Körperschaft als Verein begründet.

Die EKS ist Kirche
Die EKS ist Kirche, weil wir wissen, dass wir uns nicht uns selbst verdanken. Wir sind von Gottes Wort, Jesus Christus gestiftet und zum Handeln in Gesellschaft und an den Mitmenschen berufen – auch auf nationaler Ebene. Wir sind Teil der allumfassenden Kirche, der unsichtbaren „communio sanctorum“. Der Geist verbindet uns durch Raum und Zeit. Wir bezeugen unseren Grund, Jesus Christus im Wissen darum, dass die Wahrheit, aus welcher wir leben uns immer auch übersteigt.

Die EKS lebt als Kirchengemeinschaft

Kantonal und international verfasste Kirchen (EMK) haben sich im Jahr 2020 mit der neuen Verfassung zur Kirchengemeinschaft erklärt. Wir verstehen Kirchengemeinschaft im Sinn der Leuenberger Konkordie. Kirchengemeinschaft ist dann «als in Wort und Sakrament gegründete Zeugnis- und Dienstgemeinschaft rechtlich autonomer (= autokephaler) Kirchen zu verstehen.”[2] Wir nivellieren damit also gerade nicht die Identität der Mitgliedkirchen, wie manche befürchten. Sondern die Verfassung verbindet plurale Identitäten zu einer Kirchengemeinschaft.

Die EKS Kirchengemeinschaft als Raum der Verwirklichung
Die EKS hat sich mit der Verfassung 2020 zur Kirchengemeinschaft erklärt. Doch mit dieser Erklärung war nicht alles gesagt – sondern vieles erst begonnen. Wie beim Ja-Wort im Traugottesdienst. Wir befinden uns seitdem in einem Raum der Verwirklichung. Die Verfassung 2020 ruft uns in einen performativen Prozess unsere Gemeinschaft zu festigen und weiterzuentwickeln.

Die Verfassung lässt dabei manches offen, ist teilweise unscharf. Manche nennen das eine Schwäche. Aber wir sollten versuchen, das gerade als Chance zu sehen. Denn diese Offenheit verlangt von uns, konkrete Strukturen weiterzuentwickeln und somit Kirche zu gestalten. Die Verfassung gewährt uns dazu einen grossen Gestaltungsraum.

Seit nun gut fünf Jahren sind wir in diesem Gestaltungsraum der neuen Verfassung unterwegs.
Lasst mich drei Felder identifizieren, wo ich Potenzial sehe, den Gestaltungsraum zu nutzen. Es leitet mich das Motiv der Pfingstkarte, die ihr in den letzten Tagen per Post erhalten habt.

Viele Stimmen
Unsere Kirchengemeinschaft lebt von ihrer Vielstimmigikeit und ihrer Vielfalt: Konfessionell, kulturell, sprachlich, historisch. Diese Vielfalt ist unser Reichtum. Evangelisch-reformierte Einheit meint nicht Uniformität, sondern die Fähigkeit, in Verschiedenheit gemeinsam zu handeln. Das ist mehr als Koordination. Das ist gelebte Koinōnía. Gelebte Gemeinschaft. Gelebte Kirchengemeinschaft.

Liebe Synodale, sorgt euch nicht um die Eigenständigkeit und Autonomie eurer Kirchen. Sie ist auch mit der neuen Verfassung gewährleistet. Viele Sicherungen sind eingebaut, damit kein Zentralismus entsteht, die Subsidiarität nicht übergangen werden kann.
Aber teilt die Sorge, dass wir in dieser medialen, digitalen, schnelllebigen und religionskritischen Gesellschaft nicht mehr wahrgenommen werden, wenn wir nicht auf allen Ebenen stark sind: lokal, kantonal, national.

Seien wir mutig – Kommen wir in eine gemeinsame Praxis:

Vereinen wir die Vielstimmigkeit unserer Kirchengemeinschaft zu einem Chor, der die Schweiz aufhorchen lässt. Und der uns und unsere Mitglieder die Kraft und Grösse, die wir darstellen, erfahren lässt.

– Durch gemeinsame Kampagnen, in denen wir uns als Einheit in Vielfalt gesellschaftlich positionieren.
– Oder planen wir einen Kirchentag, an dem unsere Gemeindeglieder etwas von der Kraft, die unsere Vielfalt eint, spüren.
– Ein gemeinsames, tragendes, verbindendes Liedgut kann keine Gemeinde, keine Mitgliedkirche allein prägen. „Enchanté“, das wunderbare Gesangprojekt kommt aber nur zum Fliegen, wenn wir alle es gemeinsam propagieren und leben.

Ein Geist
Das 1700-jährige Jubiläum des Glaubensbekenntnisses von Nicäa hat uns wieder bewusst gemacht: Wir sind bekenntnisfrei, aber nicht bekenntnislos.

Diese Freiheit ruft uns zum Bekennen auf – zu einer theologischen Reflexion dessen, was uns verbindet, was uns trägt, was wir glauben – in einer Welt, die nicht mehr fragt, ob wir dieselbe Konfession teilen, sondern ob wir etwas zu sagen haben und ob wir dem, was wir zu sagen haben, auch das nötige Gehör verschaffen können.

Die Synode, die Versammlung von Synodalen, Rat und Präsidium ist mehr als eine Vereinsversammlung. Hier findet auch die geistliche Leitung der EKS statt. Ja, wir beschäftigen uns auch mit Beitragsschlüsseln, Beitragskürzungen, Konferenzreglementen und vielem mehr. Das müssen wir. Und darin sind wir schon ziemlich gut. Aber verlieren wir uns nicht darin. Denn hier ist auch der Ort der theologischen Auseinandersetzung, des Ringens um die Wahrheit des Evangeliums und wie wir sie miteinander und mit der Welt teilen.

Seien wir mutig:
Werden wir in unserer dreigliedrigen Leitung, die wir hier verkörpern, zu den geistlichen Führungsgremien, wie die Verfassung uns sieht.

Ringen wir hier auch um das gemeinsame Bekenntnis zum dreieinigen Gott.
Bringen wir es in eine Sprache, die Menschen aus dem 21. Jahrhundert verstehen.
Wagen wir in diesem übertragenen Sinne auch einen Bekenntnisprozess.

Der Personalmangel in Pfarramt und Diakonie stellt viele Fragen an unsere Ekklesiologie und unser Amtsverständnis und hat dadurch viele kreative Prozesse ausgelöst. Ohne unsere verschiedenen Zugänge zu nivellieren oder harmonisieren: Ringen wir hier um ein Verständnis von Kirche und Amt, das wir dann in unseren Kirchen in die Praxis umsetzen.

Machen wir die Gesprächssynoden zu dem, wie sie die Autoren der Verfassung gedacht haben: zu einem Ort, wo wir gemeinsam Kirche sein können, heute und morgen. In diesem Sinn freue ich mich auf den September.

Und bei all dem: Vertrauen wir auf den Pfingstgeist. Der Geist Gottes, ist die Kraft, die nicht nur Unterschiede überwindet, sondern das Unterschiedliche zusammenhält und vereint, ohne die Unterschiede zu nivellieren.


Grosse Hoffnung
„Gemeinsam Kirche sein“ – das ist kein Status, das ist ein geistlicher Prozess.

Er gelingt nicht von selbst. Er braucht Vertrauen ineinander. Zeit. Aushalten von Differenz und Ringen um Verbindlichkeit.
Aber wir haben erlebt, dass es gelingt.
Zum Beispiel bei der Ehe für alle.
Und wir erleben es – hoffentlich – auch heute:
Beim Verabschieden der Standards zum Schutz der persönlichen Integrität.

Wenn wir gemeinsam handeln, zeigen wir:
Diese Verfassung lebt. Sie ist nicht einfach ein lückenhafter Text. Sie wird zu Handlung. Zu Verantwortung. Zum Zeichen der Hoffnung.

Das Beste kommt noch
Zum Schluss: ein Blick in euer Synodenmaterial. Ihr habt einen Notizblock erhalten. Vorne: der Jahresbericht 2024. Hinten: leere Seiten.

Der Jahresbericht 2024 und all die leeren Seiten, die darauf warten beschrieben zu werden, sind Zeichen unserer Hoffnung, die sich verdichtet in dem Satz:

Das Beste kommt noch.

Das ist keine Überheblichkeit. Kein Hinweis auf eine garantierte Strategie, die wir nun zücken werden.
Das Beste kommt noch: Wir weisen auf die grosse Hoffnung hin, in deren Horizont wir als Kirche wirken.
Diese Hoffnung ist uns geschenkt von Christus, dem Haupt unserer Kirche.
Sie ist Ausdruck der eschatologischen Hoffnung, auf die wir zugehen.

Der neue Himmel und die neue Erde, die Gott schaffen wird und deren Existenz wir durch unser Wirken aufleuchten lassen.

Darum, liebe Synodale: Lasst uns an dieser Geschichte weiterschreiben, die an Pfingsten begonnen hat. Zeile für Zeile. Seite für Seite. Im Vertrauen. In Gemeinschaft. Im Namen dessen, der uns zusammenruft, sendet und trägt.[3]

 

[1] In Anlehnung an Reuter, Botschaft und Ordnung 2009. Vgl. Hirzel, Zur ekklesiologischen Bedeutung der Bildung der EKS 2020, S. 60f.

[2] Beintker, Kirchengemeinschaft aus der Perspektive der GEKE 2014, S. 71. Hervorhebung im Original.

[3] Ausführliche Auseinandersetzung mit der Verfassung und deren Entstehung sind zu finden in: Famos, Kirchengemeinschaft als Gestaltungsraum, in: Beiheft des Jahrbuchs der Schweizerischen Vereinigung für evangelisches Kirchenrecht anlässlich des 75. Geburtstags von Jakob Frey (Beiheft 8), TVZ: Zürich 2025 (erscheint im Herbst 2025).